03 November 2020

Oscar Wilde: Das erzählerische Werk


 

,Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt. Die meisten Menschen existieren nur' - in dieser Sentenz äußert sich das Verlangen Oscar Wildes nach einer alle konventionellen Bindungen abstreifenden, ungehemmten Entfaltung der Persönlichkeit. Wilde war bestrebt, sein Leben wie seine Kunst - zwei bei ihm ohnehin nur schwer zu trennende Bezirke - danach auszurichten. Am scharfsichtigsten sind Möglichkeiten und Gefahren einer alle Freuden und Genüsse auskostenden, auch das Abgründige nicht scheuenden Lebensweise außer in den aphoristischen Essays besonders im erzählerischen Werk erkundet. Das Schwelgen im Glanz der Beau Monde, das selbstgefällige Behagen am werteumkehrenden Paradoxon, der den bourgeoisen Krämergeist herausfordernde Kult des Schönen und Sinnlichen - all das findet sich hier; doch zugleich, und das ist für den sensiblen Künstler Wilde ebenso charakteristisch, wird diese Lebenssicht in Frage gestellt, in ihren moralischen Konsequenzen vorgeführt. In der Erzählung ,Lord Arthur Saviles Verbrechen' folgt ein Dandy in seiner Sucht nach Sensation und Exaltation den Weissagungen eines Scharlatans und wird so zum Mörder, im Märchen ,Der junge König' muß der pracht- und schönheitsliebende Thronerbe mit Entsetzen erkennen, daß sein Reichtum mit dem Leben seiner Untertanen bezahlt wurde, und im Künstlerroman ,Dorian Gray' wirkt das Schicksal des jungen lasterhaften Lebemannes, der sein symbolhaft immer abstoßender werdendes Konterfei zerstören will und sich dabei selbst zerstört, wie ein Warnzeichen vor den Folgen eines schrankenlosen egozentrischen Ästhetentums. So ist letztlich das Streben nach Schönheit und Individualität in eine sittliche Bewertung gestellt, die zu der kurz vor seinem Tode entstandenen ,Zuchthausballade' hinüberweist, in der der Gedanke menschlichen Mitleidens und menschlicher Bruderschaft am unmittelbarsten und reinsten Gestalt gewonnen hat.


Insel-Verlag Anton Kiepenberg Leipzig, 1.Auflage 1976
Umschlagbild: Elektronische Farbumsetzung von W. G. Schröter

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