12 März 2021

Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters

Adalbert Stifter, "einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur", ist von einigen Großen seiner "Nachkommenschaft" - wie eben Thomas Mann - hoch geschätzt und von wenigen Literaturkennern auch mit tiefer Anteilnahme gelesen worden. Massenlektüre ist er nie gewesen. Konnte er es sein - in der Zeit des sich stürmisch entwickelnden Kapitalismus, dessen verheerenden sittlich-ethischen Verfallserscheinungen sich Stifter zeit seines unruhevollen Lebens mit seinen Mitteln so tapfer entgegenstellte? Kann, soll er es heute sein, mehr als hundert Jahre nach seinem Freitod, im schnellebigen Zeitalter der technisch-wissenschaftlichen Revolution, die für die sozialistische Welt zugleich eine Zeit der Neubesinnung auf wahre Menschenwürde und deren Verwirklichung ist?
"Mit Menschen menschlich sein, mit Höheren das Höhere lieben, an Gottes Schöpfungen sich freuen, die festgegründete Erde nicht verachten, sich immer praktischem Handeln hingeben, es nicht verachten..., selbst Gemüse zu pflanzen und Gartenbeete zu düngen und doch ein höherer, opferfreudiger Mensch zu sein, endlich mit fühlenden geistigen Menschen gleichsam einen unsichtbaren Umgang haben - das war ungefähr die Grundlage meiner Schriften", schrieb Stifter 1852 an die Schwester Joseph von Eichendorffs.
Mit dem Grundthema der humanen Verantwortung des rechtschaffenen Menschen inmitten einer von ihm liebevoll kultivierten Natur hat sich Stifter auch in der - autobiographisch getönten - "Mappe meines Urgroßvaters" auseinandergesetzt. Sein Leben lang hat ihn der frühe Novellenentwurf begleitet, die vierte Fassung begann er als Todkranker 1867: Ein zweibändiger Roman war geplant, nur der erste Teil konnte vollendet werden. Die gerundetste der Fassungen, die 1847 im dritten Band der "Studien" erschien, ist eine der schönsten Novellen, die Dichter schrieb, der Dichter des "sanften Gesetzes", der sich erschrocken von der revolutionären Radikalisierung seiner Zeit abwandte und das Dauernde in Natur und Menschenwelt in still wirkender Gesetzmäßigkeit sah.
"Kleinode" hat auch Hermann Hesse Stifters Erzählungen genannt und ihren "bescheidenen alten Dichter" "modern, aufregend und vorbildlich", weil er "stets mit glühender Seele nach dem Wesen wahrer Menschlichkeit" suche und dieses Suchen und Finden beginne und ende "im Geiste der Ehrfurcht".
Man redet nicht modischer Nostalgie das Wort, wenn man die Frage dringlich wiederholt: Soll man, muß man nicht - aus neuer Sicht, mit geschärftem Blick - Stifter wiederlesen?

Adalbert Stifter (1805-1868); Sohn eines Leinwebers und Flachshändlers, nach dem frühen Tod des Vaters bei den Großeltern aufgewachsen; Besuch des Gymnasiums der Benediktinerabtei Kremsmünster, dort auch Versuche als Landschaftsmaler; 1826-1830 in Wien Studium der Rechte, dann der Naturwissenschaften und der Geschichte; dürftiges Leben als Hauslehrer in adligen Häusern, unglückliche Liebe zu Fanny Greipl; 1844 mit den ersten beiden Bänden seiner "Studien" als Erzähler bekannt geworden, zog er 1848 nach Linz; Zurückschrecken vor der 48er Revolution; 1850 Inspektor des Volksschulwesens in Oberösterreich; Verständnislosigkeit der Behörden gegenüber seinen humanistischen Bildungsplänen und jahrelange schwere Krankheit zerrütteten den Dichter; am 28. Januar 1868 gab er sich selbst den Tod.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1978
bb-Reihe Band 390

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