16 Juni 2023

Arthur Schnitzler: Therese - Chronik eines Frauenlebens

Einführung
Ganz am Anfang, wenn Therese still und freundlich bei ihren Handarbeiten sitzt oder wenn sie mit ihrem Vater – dem Oberst im Ruhestand – durch die Natur streift, hält sich unser Interesse für die junge Dame in Grenzen. Man kennt so etwas aus der Literatur, hat keine große Lust, sich näher einzulassen.
Doch dann passieren seltsame Dinge: Der Vater behauptet plötzlich, daß seine Ernennung zum General unmittelbar bevorstünde – wenig später wird er ins Irrenhaus eingeliefert.
Die Familie ist deklassiert, obgleich nie jemand diese Wahrheit ganz akzeptiert. Die Mutter beginnt, Fortsetzungsromane für die Zeitung zu schreiben. Sie isoliert sich zur Verfertigung ihrer Produkte – Eiseskälte geht von ihr aus. Thereses Bruder, der Student, schließt sich einer antisemitischen Verbindung an, und Therese hat einen seltsamen Balanceakt zu vollführen: irgendwie bewegt sie sich noch immer wie eine Offizierstochter, ohne freilich, daß da etwas dahinter wäre – weder Geld noch Lebenswerte, die es zu bewahren gilt.
Therese ist nicht der Typ Mensch, der ständig über die eigene Lage nachsinnt. Sie wundert sich nur mal darüber, daß die Mutter sie für Geld einem reichen alten Mann verkuppeln will, sie begreift mit der Zeit, daß die jungen Männer zwar gern mit ihr zusammen sein möchten, daß aber niemand an eine Heirat denkt. Sie weist es empört von sich, mit einem jungen Maler aufs Atelier zu gehen, dann aber siegt doch die verständliche Sehnsucht nach Wärme, Zärtlichkeit, vielleicht Liebe.
Das Ganze wird nie zu einer rührseligen Story, auch nicht zu einer ästhetisch perfekten Leidensgeschichte übrigens. Nein, es kommt dem Autor wohl nicht darauf an, aus dem Leid eines Menschen ein künstlerisches Kleinod zu machen, vielmehr wird hier – der Einfalt unserer Heldin entsprechend – rechtschaffen über den mühseligen Alltag in einer beziehungslosen kalten Welt berichtet.
Therese will versuchen, Geld zu verdienen, sich selbst über Wasser zu halten. Sie geht in die große Stadt und nimmt eine Stelle als Hauserzieherin an. Sie wird uns sympathisch durch diesen Entschluß, wir hätten vielleicht auch versucht, durch Arbeit aus der mißlichen Lage zu kommen. Die verschiedenen Stellungen, die sie annimmt, kann man kaum zählen. Es geht eben nicht um die zugespitzte dramatische Situation, sondern darum, daß in ungezählten Beziehungen, die sie eingeht, dieselbe Oberflächlichkeit und Kälte herrschen. Therese ist ein Möbel, eine Anschaffung für Geld sie wird rausgeworfen, wenn man sie nicht mehr braucht, ob sie die ihr anvertrauten Kinder liebgewonnen hat oder nicht.
Es wird ihr soviel vorenthalten: wirkliche Liebe, Vertrauen, Achtung. So kann ein Mensch nicht leben auf die Dauer. Sie ist dann auch ganz und gar hilflos, als sie ihr Kind bekommt. Sie liebt es, liebt es nicht, möchte es an sich drücken, möchte es umbringen.
Gespenstisch, wie dieses Kind aufwächst: bei fremden Leuten auf dem Lande. Und bald erfährt man, daß der Junge so seltsame Neigungen hat. Welche? Es wird bittere Gewißheit, daß bei ihm der Liebesmangel zur Kriminalisierung führt. Und man beginnt zu ahnen, daß sich durch ihn die tragische Geschichte Thereses vollenden wird.
Unheil zieht herauf nicht – nur bei den Fabianis. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre formiert sich der Faschismus.
Therese ist keine Gestalt, mit der man sich identifiziert, und doch stellte ich erstaunt fest, daß meine Distanz dahinschmolz. Das macht betroffen – das betrifft einen. Freilich verwandle ich mich beim Lesen nicht in eine Wiener Gouvernante, aber ich begreife, daß in Thereses Geschichte auch eine Nachricht für mich steckt.
Da glaubt eine, am Rande des gesellschaftlichen Abstiegs zu balancieren, aber in Wahrheit lebt sie bereits in tiefster Not.
Es gab damals noch keine Tonbandprotokolle, aber manchmal kommt es einem so vor, als spräche die Therese alles, was ihr in die Erinnerung kommt, aufs Band.
Noch immer ein wenig verwundert darüber, warum gerade sie vom Glück so im Stich gelassen wurde.
Und dann fragt sie sich schon mal: Warum ist mein Leben so ohne Sinn, so ganz ohne Bedeutung? – Ein Leben, ganz und gar unerheblich, eine Heldin, die ihr Schicksal an keiner Stelle begreift, und dennoch eine erhebliche Geschichte von der Unverzichtbarkeit vertrauensvoller Verhältnisse, eine Geschichte von der Notwendigkeit der Liebe.
Hans Weber

Mit einer Einführung von Hans Weber
Nachwort und Zeittafel von Roland Baron
Illustrationen von Christa Unzner-Fischer

Verlag Neues Leben, Berlin

1. Auflage 1985

u.a. auch erschienen bei:
• Verlag Volk und Welt Berlin - Roman-Zeitung Nr. 284 (11/1973)
• Aufbau Verlag Berlin und Weimar – 1. Aufl. 1966 | 2. Aufl. 1979
• BuchClub 65 - 1979

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