Buchinfo
Am 10. Juli 1969 verhandelt die 5. Strafkammer des Amtsgerichts Marseille über einen Fall von Verführung Minderjähriger. Angeklagt ist die 32 jährige Gabrielle Nogues, geborene Russier, geschieden, zwei Kinder. Von Beruf Lehrerin. Der „Geschädigte“, Christian R., 17, ist einer ihrer Schüler. Die Öffentlichkeit ist von dem Prozess ausgeschlossen. Dennoch spricht ganz Frankreich über den Fall. Kaum jemand bezweifelt, dass hier eine legitime, echte und tiefe menschliche Beziehung unter Anklage gestellt wird, eine Liebe, die schweren Belastungen, psychischen Druck, langer Trennung, Gefängnis standhielt. Hat das Gesetz (der Code Napoléon von 1804) recht, wenn es eine solche Beziehung für strafbar erklärt? Das Urteil fällt „milde“ aus; es wird von einer eben erlassenen Amnestie aufgehoben. Der Skandal scheint sich in Nichts aufzulösen. Da aber tritt die Staatsanwaltschaft erneut auf den Plan. Sie legt Berufung ein, fordert eine strengere Strafe. Gabrielle Russier, von einer entwürdigenden Untersuchungshaft zermürbt, von der Angst vor der Vernichtung ihrer beruflichen und menschlichen Existenz gepeinigt, begeht Selbstmord.
Wer trägt die Schuld an diesem Tod? War er unvermeidlich? Presse, Funk und Fernsehen ergehen sich in erregten Kommentaren, Präsident Pompidou nimmt auf seiner Pressekonferenz Stellung, Bücher werden geschrieben, André Cayatte dreht den Film „Aus Liebe sterben“. Neben diese vielen, oft hitzigen, nicht immer sachgerechten Äußerungen stellt der Schriftsteller Raymond Jean ein Zeugnis von Gewicht. Im Unterschied zu den meisten Kommentatoren kannte er Gabrielle Russier persönlich, seit vielen Jahren: als Universitätslehrer und Freund. In einem längeren Essay zeichnet er ein Porträt dieser Frau und analysiert die gesellschaftlichen Umstände, unter denen es zu dem Drama kommen konnte. Die von ihm gesammelten Briefe Gabrielles an Freunde und Verwandte vermitteln uns ein authentisches Bild von der Toten. Diese Briefe sind ein menschliches Dokument, das ergreift und erschüttert. Sie verraten Charakter, Lauterkeit, und zugleich eignet ihnen Poesie, Schönheit und, in seltenen Augenblicken Heiterkeit.
Zum großen Teil im Gefängnis und während des für Gabrielle Russier verhängnisvollen Sommers 1969 geschrieben, lassen uns diese Briefe nacherleben, wie ein wertvoller Mensch in die Enge getrieben und zerbrochen wurde.
Der Tod Gabrielle Russiers, so sinnlos und schmerzlich er erscheint, ist nicht ohne Wirkung geblieben. Denn „wenn es jemanden gibt, und sei er auch ganz allein, der es wagt, in Übereinstimmung mit seinen Vorstellungen und Grundsätzen zu leben“ - so schrieb Michel Del Castillo in einem Buch über den Fall Russier -, „dann werden viele andere Mut bekommen und ein wenig von ihrer Würde wiederfinden".
Buchbeginn
Gasgeruch im Treppenhaus. Nachbarn, die sich beunruhigen. Ein Fenster wird eingeschlagen. Und auf ihrem Bett, tot, aus dem Leben geschieden, Gabrielle Russier, 32, Französischlehrerin am Gymnasium Marseille-Nord. Kein Brief, keine Botschaft, nichts. Der Tod in eingemauerter Stille und unlösbarer Verzweiflung.
Inhalt:
5 Martine Monod
Geschichte eines Selbstmords
15 Raymond Jean
Für Gabrielle
91 Gabrielle Russier
Briefe aus dem Gefängnis
95 An Françoise, 8. März 1968
96 An Françoise, 4. August 1968
98 An Albert, Ende Oktober 1968
99 An Raymond Jean, 8. Januar 1969
An Françoise, 18. Februar 1969
101 An Raymond Jean, 15. März 1969
An Gilberte T., Dienstag vor Ostern 1969
102 An Gilberte T., April 1969
103 An die Mutter von Gilberte T., April 1969
104 An Albert, 27. April 1969
105 An Gilberte T., Ende April 1969
109 An Gilberte T., Ende April 1969
112 An Gilberte T., 5. Mai 1969
114 An Gilberte T., 7. Mai 1969
116 An Albert, 9. Mai 1969
118 An Gilberte T., 12. Mai 1969
121 An die Eltern, 13. Mai 1969
122 An die Eltern, 13. Mai 1969
123 An Albert, 15. Mai 1969
126 An Gilberte T., 16. Mai 1969
130 An Michel Nogues, 16. Mai 1969
133 An Raymond Jean, 16. Mai 1969
136 An Gilberte T., 19. Mai 1969
138 An die Eltern, 27. Mai 1969
140 An Michel Nogues, 28. Mai 1969
142 An Albert, 30. Mai 1969
144 An Gilberte T., 30. Mai 1969
146 An Michel Nogues, (ohne Datum)
149 An Raymond Jean, 5. Juni 1969
150 An Gilberte T., 24. Juni 1969
151 An Gilberte T., 16. Juli 1969
153 An Gilberte T., 23. Juli 1969
155 An Michel Nogues, Ende Juli 1969
157 An Michel Nogues, 1. August 1969
159 An Gilberte T., 27. August 1969
162 An Michel Nogues, 29. August 1969
165 Anmerkungen
Originalausgabe unter dem Titel: Russier, Gabrielle: Lettres de prison
Aus dem Französischen von Joachim Meinert
Anmerkungen am Schluß des Bandes
Mit einer Einführung von Martine Monod und einem Essay von Raymond Jean
Gestaltung Schutzumschlag: Gisela Ruth Mossner
Verlag Volk und Welt Berlin
1. Auflage 1974
2. Auflage 1975
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Wichtiger Hinweis
Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).
Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.
Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.