14 August 2025

Gabrielle Russier: Wie man eine Flaschenpost ins Meer wirft - Briefe aus dem Gefängnis

Buchinfo

Am 10. Juli 1969 verhandelt die 5. Strafkammer des Amtsgerichts Marseille über einen Fall von Verführung Minderjähriger. Angeklagt ist die 32 jährige Gabrielle Nogues, geborene Russier, geschieden, zwei Kinder. Von Beruf Lehrerin. Der „Geschädigte“, Christian R., 17, ist einer ihrer Schüler. Die Öffentlichkeit ist von dem Prozess ausgeschlossen. Dennoch spricht ganz Frankreich über den Fall. Kaum jemand bezweifelt, dass hier eine legitime, echte und tiefe menschliche Beziehung unter Anklage gestellt wird, eine Liebe, die schweren Belastungen, psychischen Druck, langer Trennung, Gefängnis standhielt. Hat das Gesetz (der Code Napoléon von 1804) recht, wenn es eine solche Beziehung für strafbar erklärt? Das Urteil fällt „milde“ aus; es wird von einer eben erlassenen Amnestie aufgehoben. Der Skandal scheint sich in Nichts aufzulösen. Da aber tritt die Staatsanwaltschaft erneut auf den Plan. Sie legt Berufung ein, fordert eine strengere Strafe. Gabrielle Russier, von einer entwürdigenden Untersuchungshaft zermürbt, von der Angst vor der Vernichtung ihrer beruflichen und menschlichen Existenz gepeinigt, begeht Selbstmord.

Wer trägt die Schuld an diesem Tod? War er unvermeidlich? Presse, Funk und Fernsehen ergehen sich in erregten Kommentaren, Präsident Pompidou nimmt auf seiner Pressekonferenz Stellung, Bücher werden geschrieben, André Cayatte dreht den Film „Aus Liebe sterben“. Neben diese vielen, oft hitzigen, nicht immer sachgerechten Äußerungen stellt der Schriftsteller Raymond Jean ein Zeugnis von Gewicht. Im Unterschied zu den meisten Kommentatoren kannte er Gabrielle Russier persönlich, seit vielen Jahren: als Universitätslehrer und Freund. In einem längeren Essay zeichnet er ein Porträt dieser Frau und analysiert die gesellschaftlichen Umstände, unter denen es zu dem Drama kommen konnte. Die von ihm gesammelten Briefe Gabrielles an Freunde und Verwandte vermitteln uns ein authentisches Bild von der Toten. Diese Briefe sind ein menschliches Dokument, das ergreift und erschüttert. Sie verraten Charakter, Lauterkeit, und zugleich eignet ihnen Poesie, Schönheit und, in seltenen Augenblicken Heiterkeit.

Zum großen Teil im Gefängnis und während des für Gabrielle Russier verhängnisvollen Sommers 1969 geschrieben, lassen uns diese Briefe nacherleben, wie ein wertvoller Mensch in die Enge getrieben und zerbrochen wurde.

Der Tod Gabrielle Russiers, so sinnlos und schmerzlich er erscheint, ist nicht ohne Wirkung geblieben. Denn „wenn es jemanden gibt, und sei er auch ganz allein, der es wagt, in Übereinstimmung mit seinen Vorstellungen und Grundsätzen zu leben“ - so schrieb Michel Del Castillo in einem Buch über den Fall Russier -, „dann werden viele andere Mut bekommen und ein wenig von ihrer Würde wiederfinden".


Buchbeginn

Gasgeruch im Treppenhaus. Nachbarn, die sich beunruhigen. Ein Fenster wird eingeschlagen. Und auf ihrem Bett, tot, aus dem Leben geschieden, Gabrielle Russier, 32, Französischlehrerin am Gymnasium Marseille-Nord. Kein Brief, keine Botschaft, nichts. Der Tod in eingemauerter Stille und unlösbarer Verzweiflung. 

Inhalt:
5    Martine Monod
     Geschichte eines Selbstmords
15 Raymond Jean
     Für Gabrielle
91 Gabrielle Russier
     Briefe aus dem Gefängnis
     95 An Françoise, 8. März 1968
     96 An Françoise, 4. August 1968
     98 An Albert, Ende Oktober 1968
     99 An Raymond Jean, 8. Januar 1969
          An Françoise, 18. Februar 1969
     101 An Raymond Jean, 15. März 1969
            An Gilberte T., Dienstag vor Ostern 1969
     102 An Gilberte T., April 1969
     103 An die Mutter von Gilberte T., April 1969
     104 An Albert, 27. April 1969
     105 An Gilberte T., Ende April 1969
     109 An Gilberte T., Ende April 1969
     112 An Gilberte T., 5. Mai 1969
     114 An Gilberte T., 7. Mai 1969
     116 An Albert, 9. Mai 1969
     118 An Gilberte T., 12. Mai 1969
     121 An die Eltern, 13. Mai 1969
     122 An die Eltern, 13. Mai 1969
     123 An Albert, 15. Mai 1969
     126 An Gilberte T., 16. Mai 1969
     130 An Michel Nogues, 16. Mai 1969
     133 An Raymond Jean, 16. Mai 1969
     136 An Gilberte T., 19. Mai 1969
     138 An die Eltern, 27. Mai 1969
     140 An Michel Nogues, 28. Mai 1969
     142 An Albert, 30. Mai 1969
     144 An Gilberte T., 30. Mai 1969
     146 An Michel Nogues, (ohne Datum)
     149 An Raymond Jean, 5. Juni 1969
     150 An Gilberte T., 24. Juni 1969
     151 An Gilberte T., 16. Juli 1969
     153 An Gilberte T., 23. Juli 1969
     155 An Michel Nogues, Ende Juli 1969
     157 An Michel Nogues, 1. August 1969
     159 An Gilberte T., 27. August 1969
     162 An Michel Nogues, 29. August 1969
165 Anmerkungen

Originalausgabe unter dem Titel: Russier, Gabrielle: Lettres de prison
Aus dem Französischen von Joachim Meinert
Anmerkungen am Schluß des Bandes
Mit einer Einführung von Martine Monod und einem Essay von Raymond Jean
Gestaltung Schutzumschlag: Gisela Ruth Mossner

Verlag Volk und Welt Berlin
1. Auflage 1974
2. Auflage 1975 


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