17 September 2020

Titus Livius: Die Hand im Feuer - Sagen und Geschichten


 Titus Livius ist die Ausnahme unter den römischen Geschichtsschreibern: Nicht ein erfahrener Politiker und Militär kommentiert in seiner Muße die Geschehnisse der Vergangenheit, sondern ein dichterisch begabter junger Mann, der die übliche Karriere ausschlägt, nimmt sich vor, die "Geschichte Roms seit Gründung der Stadt" zu beschreiben. Daß ihn dieses Vorhaben bis ins hohe Alter festhalten wird, ahnt er sicher nicht. Auch wagt er Ruhm und Ehre nur in bescheidenem Maße zu erhoffen. Doch wird er schon zu Lebzeiten damit überhäuft. Er genießt sogar die Freundschaft des Kaisers Augustus, mit dem ein neues Kapitel der römischen Geschichte beginnt. Dessen ideologisches Programm, das auf die Festigung der Alleinherrschaft im Imperium Romanum abzielt, heißt: Besinnung auf die Werte der Vergangenheit, verkörpert in den altrepublikanischen Tugenden. Ebendiese Tugenden entdeckt Livius für seine Zeitgenossen neu, als er den Ursachen nachspürt, die Rom groß gemacht haben. Ehrfurcht vor den Göttern, Treue und Bescheidenheit, Gehorsam und Beharrlichkeit, Gerechtigkeitssinn und vor allem Tapferkeit im Kampfe machen seine Sagengestalten und historischen Personen zu wahren Helden; fehlen ihnen diese Eigenschaften, werden sie zu Verbrechern. So entsteht ein idealisiertes, episodenhaftes Bild der Vergangenheit, das zwar den Römern als die authentische Geschichte ihres Volkes galt, den Maßstäben heutiger Geschichtswissenschaft freilich nicht genügt. Doch es besitzt eine überaus starke dichterische Wirkung, die uns alle Höhepunkte der römischen Geschichte in dramatischer Zuspitzung miterleben läßt. Wie die Marssöhne Romulus und Remus die Stadt gründen; wie Rom unter den Königen wächst und gedeiht, bis ein hochmütiger Herrscher Recht in Unrecht verkehrt; wie Horatier und Curiatier an Stelle ihrer Völker miteinander kämpfen; wie der Tod der Lucretia das Fanal zur Vertreibung der Könige wird; wie Mucius Scaevola seine rechte Hand im Feuer verbrennen läßt; wie der verbannte Coriolanus endlich davon abgehalten werden kann, seine Vaterstadt zu vernichten; wie Verginia der Wollust des Appius Claudius nur durch den Tod entgeht; wie die heiligen Gänse der Juno mit ihrem Schnattern das Kapitol retten und das dereinst weltbeherrschende Volk in allerletzter Minute davor bewahrt wird, sich mit Gold loskaufen zu müssen - das sind Geschichten, die schon die Römer an ihrem Livius liebten und die bis heute kaum an Lebendigkeit und Farbenreichtum eingebüßt haben.

Titus Livius (59 v. u. Z. - 17 u. Z.); Angehöriger des römischen Ritterstandes; beheimatet in Patavium, dem heutigen Padua; Wohnsitz in Rom; Mitglied des Freundeskreises um Kaiser Augustus.
In seiner "Römischen Geschichte seit Gründung der Stadt" (Ab urbe condita) stellt Livius in annalistischer Form die Ereignisse von der sagenumwobenen Gründung Roms bis zum Tode des Drusus im Jahre 9 v. u. Z. dar. Von den insgesamt 142 Büchern sind nur 35 überliefert. Sein dichterisch inspiriertes Werk gehört zu den kulturellen Glanzleistungen des Augusteischen Zeitalters.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1980
bb
Ausgewählt von Wolfgang Ritschel
Aus dem Lateinischen übersetzt von Heinrich Dittrich

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