Harry Domela schrieb seine Lebensgeschichte 1926 in Untersuchungshaft. Ein Jahr später veröffentlichte der Malik-Verlag die spektakulären Abenteuer des baltischen Landstreichers, der für einen der größten Skandale der Weimarer Republik sorgte.
Durch den ersten Weltkrieg aus einem deutsch-baltischen Elternhaus herausgerissen und in ein Kinderasyl gesteckt, kämpfte er als Vierzehnjähriger 1918 für die baltischen Barone gegen die Letten, wird dafür aus seiner Heimat ausgewiesen und zieht als ungelernter Saisonarbeiter fast zwölf Jahre durch mehrere Städte Deutschlands. Alle Versuche, durch Arbeit zu einem gewissen Wohlleben zu kommen, scheitern, da er staatenlos und ohne Paß ist. So werden die Straße, das Obdachlosenasyl und das Gefängnis sein eigentliches Zuhause, Hunger, Kälte und Einsamkeit seine ständigen Begleiter. In dieser ausweglosen Situation wagt er das ganz große Spiel: er erhebt sich in den Adelsstand. Und da der Name doch nicht Schall und Rauch ist, findet er als Graf von der Recke Eingang in die Salons der Potsdamer Hocharistokratie, als Prinz von Lieven ins Heidelberger Korpshaus der Saxo-Borussen und als Baron von Korff in das beste Hotel von Erfurt. Aber den braven Republikanern Erfurts, Weimars und Gothas reicht ein Baron nicht, ihre monarchistischen Gelüste verlangen nach einem Prinzen. Und so verzaubert ihre Eitelkeit den Vagabunden und Sträfling Harry Domela in einen Prinz Wilhelm von Preußen, Sohn des ehemaligen Kronprinzen. Mit dem Fatalismus eines Spielers nimmt Domela die ihm zugewiesene Rolle an und präsentiert sich, obwohl er nur einen einzigen Anzug und gelbe Schuhe besitzt, auf den Eisenbahnfahrten zwischen Erfurt und Berlin, bei Wohltätigkeitsveranstaltungen, auf Jagdgesellschaften und in der Oper ganz Souverän „seinem Volke“. Die faden Mätzchen, die „ein Hohenzollernprinzlein daherzuleiern“ hat, das seichte Wortgeplätscher „mit vielen schönen sich immer wiederholenden Redensarten“ beherrscht er auch. Es schmeichelt ihm, wie sie die Noblen Erfurts, Weimars und Gothas zu seinen devotesten Untertanen machen und sich ihn als den zukünftigen Kaiser erhoffen. Aber ihre bedingungslose Unterwürfigkeit und penetrante Liebedienerei vor einem bloßen Namen – den Menschen Domela hatten sie „gezaust“ und geschunden – widert ihn zuletzt an. Er entdeckt, daß hinter der äußeren Fassade des schönen Scheins und der guten Haltung eine uniforme, hochnäsige und blasierte Gesellschaft steckt, die roh und unmenschlich ist. Warum soll er also Skrupel haben, zumal er mit seinem Prinzengastspiel niemanden schädigt und sich selbst nicht bereichert, sondern nur die ohnehin morschen Stützen der Gesellschaft lächerlich gemacht hat.
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1983
Foto: Harry Domela als Karlheinz in „Alt-Heidelberg“, 1929
bb Nr. 518
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