03 Januar 2023

Gerd Bieker: Eiserne Hochzeit

Jan Sonntag hat es sich nicht träumen lassen, daß sein Unfall solche Folgen haben würde. Vor drei Wochen wußte er noch nichts von Sabine, dieser verführerischen widerspruchsvollen Krankenschwester, hinter deren Geheimnis er gerne kommen möchte. Er fährt mit ihr nach Greifenhübel, einem kleinen Dorf im Erzgebirge, wo die eiserne Hochzeit ihrer Urgroßeltern gefeiert wird. Jan ist einer der wenigen Fremden unter den vielen Verwandten. Die meisten sehen in ihm den zukünftigen Mann Sabines und reden ihm zu, sie bald zu heiraten. Sabines Vater jedoch warnt ihn vor seiner Tochter, die wahrscheinlich die Anlagen ihrer leichtfertigen Mutter geerbt habe. Drei Tage lang hat Jan Zeit, Sabine zu beobachten. Er, der nichts weiter im Sinn hatte, als ein paar schöne Tage zu verleben, stellt zu seiner Überraschung fest, daß er in Sabine die Frau erkennt, mit der er es vielleicht bis zur eisernen Hochzeit aushalten könnte.

Buchbeginn
Im ersten Kapitel erzählt Jan Sonntag, wie er mit seinem Mädchen Sabine Zeisig nach Süden ritt

Gegen Mittag, als die Hitze über den Feldern wie ein feiner Vorhang waberte und der Asphalt in der Ferne zu glitzern begann, drehte sich das Glas so auf Sparflamme, daß meine urige Maschine aus Zschopau, die es in guten Stunden glatt auf hundertdreißig brachte, das langsamste Gefährt straßauf und straßab wurde, ausgenommen Heuwagen, Fahrräder und Mopeds älterer Bauart.
Allah sei Dank! rief das Bienchen, das mir hinten aufsaß. Die schöne Welt kriegt mich unversehrt wieder.
Das Bienchen hatte schon hundert Meter nach dem Start im Spreewald meine zügige Fahrweise einen halsbrecherischen Irrsinn geschimpft. Und als ich auf freier Strecke etwas aufdrehte, hatte es mir zur Warnung die lateinischen Namen von Knochen, die wir uns brechen könnten, in mein schaumledergeschütztes Ohr geschrien. Tibia, Humerus, Ossa nasalia und alle diese Sachen.
Obwohl Sabine zum erstenmal in ihrem Krankenschwesternleben auf einem Motorrad fuhr, war bereits jetzt abzusehen, daß sie dem Blitzschnellfahren ganz und gar keinen Geschmack abgewinnen konnte; sie würde nie erahnen können, welches Gefühl die Seele durchzieht, wenn man mit singendem Zweitakter die Ferne erfährt.
Schade drum, immerhin war sie das erste derartige Mädchen auf der Sitzbank der Lokomotive. Den bisherigen ausnahmslos - der auf Motorrennen versessenen Silvia oder der hochtourigen Marion nur mal beispielsweise - waren die Stunden mit hundert Kilometern immer die liebsten gewesen.

Verlag Neues Leben Berlin
1. Auflage 1978
5. Auflage 1983
Titelvignette von Albrecht von Bodecker

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