04 Januar 2023

Margareta Meley-Fiebig: Die Reise nach Ägypten und andere Erzählungen

Leseprobe

Die Harfe

... Es ist eine stille Gasse, an der das Haus liegt, ein wenig abseitig und fast leicht zu übersehen.

Verschwenderisch hat der Winter in diesem Jahr mit gewaltigen Schneemassen die kleine Stadt verbrämt, ein unerreichter Zauberer, weiß in weiß. Meterlange Eiszapfen schimmern vom Gesims in der kargen Stunde mittäglicher Helle zwischen zwölf und zwei. Schwer und samten liegt die Schneelast auf dem geziegelten Dach, und der schlummernde Vorgarten weiß nichts mehr von seinen Hyazinthen und dem bunten Tulpenreigen, der den Weg zur Haustür säumte. Rosiger, weißer und brennendroter Tulpen, wie sie einstmals die Lieblingsblumen des Hausherrn waren, mit denen er auch zur Ruhe gebettet ward, als seine Zeit gekommen war und ein Frühling, schön und lieblich wie je, ihn hinwegnahm... 

Noch lebt die Gefährtin vieler Jahre in jenem Haus, eine zarte, sehr alte Frau, die des Hauses Seele ist, obwohl um sie herum längst junges Leben das ihre zu überwachsen sich anschickt.

In der Stube, die einmal "ihre" Kinderstube war, mit kleinen weißen Betten an den Wänden, liegt sie nun, eine längst fast Namenlose, still und sehr wachsam in ihren Kissen.

Die Schwiegerenkelin, die sie liebt und in deren Alltag sie den ihren fern und leise auferstehen sieht, kommt ab und zu, nach ihr zu sehen.

Evangelische Verlagsanstalt Berlin
5. Auflage 1967


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