28 August 2025

Jutta Schlott: Früh und spät

Klappentext:
„Für jeden der Jungen lag neben dem Frühstücksbrettchen und dem Mitnehmebrot eine kleine Tafel Schokolade. Die Mutter hatte einen Zettel geschrieben, daß sie ihnen einen schönen Tag wünsche und daß die Kinder sie heute morgen bitte schlafen lassen möchten, sie sei sehr müde.
Im Flur zog Sven den kleinen Bruder an. Er machte es morgens lieber selber, weil Gustav immer trödelte. ‚Tschüs Olaf’, sagten sie, und Sven ließ die Tür ins Schloß fallen. Olaf mußte in der Küche noch den Frühstückstisch abräumen. Das Geschirr stellte er neben die Spüle. Den Abwasch erledigte die Mutter, wenn sie Spätschicht hatte.“

Manches hat sich verändert in der Familie Roland, seit sie aus Borna in eine mecklenburgische Stadt übergesiedelt ist. Leicht fällt das Eingewöhnen in die neuen Lebensbedingungen niemand. Olaf, dem sensibelsten der drei Jungen, wird es besonders schwer ... Es gibt Tage, da steht es nicht gut mit der Familienharmonie.

Buchanfang:
DONNERSTAG
Das Versäumnis
Es war März, Mitte März, aber der Winter war zurückgekommen. Zwei Tage lang fielen dicke, feuchte Flocken; jetzt lag der Schnee in grauen Häufchen schmuddelig und pappig an den Straßenrändern. Auf den Fahrbahnen und Wegen war er, kaum hingeweht, gleich zertaut oder zertreten worden.
Es nieselte, und der Junge stellte sich in den ersten Eingang des Häuserblocks oberhalb der Böschung.
Es war halb fünf oder kurz danach, er hätte es gewußt, ohne zur Säule mit der Digitaluhr zu sehen, denn die Möwen und Krähen hatten schon in großen Schwärmen krächzend und kreischend den allabendlichen Flug zu ihren Schlafplätzen begonnen. Stets flogen sie zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung. Man hätte Uhr und Kompaß nach ihnen stellen können. Der Junge hatte noch nie so viele Möwen gesehen wie in dieser Stadt. In Borna gab es überhaupt keine.
Zu den Füßen des Jungen, an der Haltestelle, kamen in schnellem Wechsel aus beiden Richtungen die Straßenbahnen an.
Die meisten Leute liefen, ohne nach links und rechts zu sehen, die gewohnten Wege. An diesem diesigen, nebligen Spätnachmittag schienen sie alle in Grau gekleidet. Manchmal leuchtete das Tuch einer Frau oder der Anorak eines Kindes farbig auf.
Der Junge hatte keine Sorge, die Mutter nicht zu erkennen. Sie trug Schal und Käppi in einem kräftigen Orange, ....

Schutzumschlag, Illustrationen: G. Ruth Mossner
Für Leser von 10 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1982
2. Auflage 1983
3. Auflage 1984

Inge von Wangenheim: Die Entgleisung

Buchinfo

Thüringen Ende der 70er Jahre, in einem verschlafenen Nest entgleist ein Güterwagon. Der Inhalt, der bald darauf im Ort 'versickert', besteht aus Porno-Magazinen für den Westen. Klar, dass die DDR-Staatsmacht die ebenso moralgefährdenden wie devisenbringenden Hefte wieder zurückhaben will. Doch das ist nicht so einfach … Inge von Wangenheims 1980 erschienene Satire hat jetzt bestimmt schon Kultstatus.


Buchbeginn

In der Mitte des breiten Urstromtals zwischen Saalfeld und Jena liegt Groß-Naschhausen.
Eine Perle thüringischer Siedlungs-Kleinkunst, eingefaßt in sanfte Bergketten, wechselvoll gestaltete Talsichten, freundliche Hänge, deren terrassenförmige Anordnung auf der Südseite noch heute den einstigen Weinanbau verrät. Wer hierher kommt, sei es durch Zufall oder mit Plan, erlebt jene feine, durchkultivierte Natur, die uns Goethe bewußtgemacht hat. Es lohnt also, hierher zu kommen.

Mitteldeutscher Verlag, 1980

Inge von Wangenheim: Hamburgische Elegie

Leseprobe

Was immer ein Mensch in seinem späteren Leben begründet oder bekämpft, gewinnt oder verliert, besitzt oder verwirft - es geschieht im Hinblick auf das Bezugssystem, das er in der Kindheit und Jugend annahm, um von ihm geprägt zu werden.

Die Forschung hat nie versäumt, die ausgezeichnete Bildung zu preisen, die sich der junge Lessing auf St. Afra erworben habe, vernachlässigte dabei aber die erst von Paul Rilla vollzogene notwendige Einschränkung, die sich mir aus eigener Erfahrung geradezu aufdrängt in der simplen Frage: Wie denn? Tausende Auserwählte sind durch St. Afra durchgegangen, aber nur ein einziger Lessing ist dabei herausgekommen.

Mitteldeutscher Verlag, 1981

25 August 2025

Waltraud Ahrndt: Atempause

Buchinfo

Monika Altmann braucht Zeit zur Besinnung. Zusammen mit dem zwanzig Jahre älteren Peter Willke ist sie in eine kleine Stadt im Norden gefahren. Aber wie soll es weitergehen? Wird Monika jetzt, da sie endlich eine Aufgabe im Kinderheim findet, den eigenen Sohn zurücklassen beim Vater in der Stadt? Sie war es doch, die für den Jungen sorgte, die erfüllt lebte, solange Reiner sie ganz brauchte. Die plötzliche Flucht der Mutter löst in dem Vierzehnjährigen Erschütterungen aus, denen er bei allem erwachenden Selbstbewußtsein nicht gewachsen ist. Den Eltern nicht mehr vertrauend, begibt sich der Junge auf die Suche nach dem "Richtigen".
Monika muß sich bald entscheiden, nicht zwischen zwei Männern, wohl aber für ein Leben, das sowohl ihrer Mütterlichkeit als auch ihren beruflichen Ansprüchen Raum gibt.


Buchbeginn

Sie waren in diese kleine Stadt gefahren, und es war wie eine Flucht. Doch daran dachten sie zuerst nicht. Zuerst genossen sie alles. Der Himmel tiefer blau als anderswo. Herber Duft von frischgemähtem Rasen. Auf dem Bahnhofsvorplatz zwei kleine Jungen, die aßen Kirschen aus einer Tüte, daß ihre Wangen sich blähten. Monika Altmann und Peter Willke sahen sich an. "Komm", sagte er schnell.
Der Fluß. Die Brücke. Das Geländer ist neu, dachte Peter Willke. Das alte war aus Holz gewesen, rissig, gefleckt. Doch wie eh und je lagen rötlich schimmernde Steine im flachen, eiligen Wasser.

Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig
1. Auflage 1978 

24 August 2025

Inge von Wangenheim: Professor Hudebraach

Buchinfo
Inge von Wangenheim hat in allen ihren Romanen die großen, menschenverändernden Probleme unserer Zeit zum Gegenstand ihrer literarischen Anliegen gemacht. Diese Bücher wurden viel diskutiert und erregten das Interesse breitester Leseschichten. In diesem Roman gestaltet sie die Liebe zwischen der Dozentin für Politökonomie Toni Berger und dem Kernphysiker Hudebraach, der nach zehnjähriger Tätigkeit in der Sowjetunion in die DDR zurückkehrt.
Beide Menschen stehen im Herbst ihres Lebens, begegnen einander wider Willen im Thüringer Wald und erkennen in schönen Oktobertagen von völlig verschiedenen sozialen und ideologischen Aspekten her die wahre Größe ihrer gemeinsamen moralischen und gesellschaftlichen Verantwortung vor ihrem Vaterland. Ihre reife und ernste Liebe lehrt sie tiefer und nachdrücklicher, als die Theorie es vermag, zueinander zu finden und den unlöslichen Zusammenhang ihres Wirkens in der Gesellschaft zu erkennen.

Buchbeginn
"Der Wissenschaft haben Sie gehorcht, liebe Frau Berger - jetzt gehorchen Sie der Natur!" Der Professor lächelte zwar, aber sein Blick war besorgt. "Sie haben nur eine Aufgabe: gesund zu werden. Jegliche Arbeit, Anspannung und Unruhe sind verboten. Sie brauchen Entspannung, Ruhe, Schlaf und Sauerstoff. Gehen Sie für zwei, drei Monate in unseren thüringischen Wald! Der ist jetzt ein besserer Arzt für Sie als ich."
Toni wollte ihren Dank an die Wissenschaft des Professors in Worte fassen und war doch betroffen. Zwei, drei Monate in einem Wald bedeuteten, so schien es ihr, eine unerlaubt lange Pause. War sie wirklich so krank? Was würden die Genossen sagen?

Mitteldeutscher Verlag, 1961



 

Inge von Wangenheim: Das Zimmer mit den offenen Augen

Buchinfo

Eine ehemalige Fürstenresidenz im Thüringischen, in der die Traditionen der Vergangenheit mitunter noch beängstigend lebendig sind, eine Kleinstadt in anmutiger Umgebung, ein Schloß, in dem einst Goethe oft zu Gast war, das Kunstfaserwerk mitten in dem lieblichen Tal, der Burggasthof der Rethas, die Professorenwohnung der Steffens - das sind die unterschiedlichen Schauplätze dieses Romans. Vor ihrem Hintergrund entwirft die Autorin ein vielfältiges Spiegelbild von zehn Jahren komplizierter menschlicher Entwicklung im östlichen deutschen Staat. Gudrun Retha erkennt, daß die letzte Heldentat ihres Bruders, des Ritterkreuzträgers, nichts war als selbstmörderische Flucht, die neuen Tod veranlaßte. Diese Erkenntnis verhilft ihr zur Klarheit und Entscheidung über ihre Position, sie belastet zugleich aber aufs neue ihre Beziehungen zu Dr. Steffen, dem leitenden Mitarbeiter im Kunstfaserwerk, dessen bürgerliche Ehe zerbricht. Erst in der Auseinandersetzung mit Oskar Becker, der im Werk zäh die Kunst des Regierens und Leitens erlernt, begreift er sein Maß notwendiger Verantwortung. Unbelastet von der Vergangenheit aber vermag die junge Generation, Christine Retha und das Umsiedlerkind Daniel Schlicht, ihre Probleme zu lösen.


Leseprobe

Die Männer seiner bereits aufgeriebenen Einheit, die den Rückzug der Division über den Fluß gedeckt hatten, befanden sich in diesem Augenblick der Auflösung nicht in einem natürlichen Zustand. Sie trachteten, über den Fluß zu kommen, gleich den anderen, denen es noch gelungen war, und hielten ihren Kommandeur, der Anstalten machte, auf dem Platz zu verharren, in einem sehr landläufigen Sinne für "übergeschnappt".

Mitteldeutscher Verlag Halle

 

23 August 2025

Werner Steinberg: Zwischen Sarg und Ararat

Cover der 4. Auflage
Einbandtext:
Seit mehr als sechs Jahrzehnten eingeschlossen in die sterndurchfunkelte Schwärze des Alls, reist eine Gruppe Menschen äonenfernen Weiten entgegen. Unbekannte Formen des Lebens in anderen Sonnensystemen unserer Galaxis zu erkunden – so lautete der Auftrag, mit dem „Messenger“ dereinst von der Erde aus gestartet worden war. Längst schon ist eine zweite Generation geboren und herangewachsen; sie kennt die irdische Heimat nicht und wird sie nie erblicken. Das Gesetz, dem diese Menschen nach dem Willen ihres Kommandanten Ulf Seitz unterworfen sind, ist von unerbittlicher Härte. Nur als Rädchen und Schräubchen sollen sie funktionieren, damit – wann? wo? warum? – ein Gebot erfüllt werden kann, das immer mehr zur inhaltsleeren Formel gerinnt. Doch in einer zugespitzten Konfliktsituation flackert Widerstand auf. Dem verachteten Buckligen Silvio Montalvo und anderen dämmert, daß hier Inhumanes geschieht: ein großes menschliches Ziel verkehrt sich in sein Gegenteil. Da bietet die unverhoffte Landung auf einem erdähnlichen Planeten Gelegenheit, sich in tätiger Auseinandersetzung mit der rätselhaften Umgebung neu zu bewähren, zurückzufinden in ein sinnvolles Dasein. Mannigfache Fährnisse und Abenteuer – von Werner Steinberg zu spannungsvollen Szenen verdichtet – erwarten die Raumfahrer, und am Ende steht die Einsicht, daß sie alle ganz anders werden leben und handeln müssen als bisher.
  
Buchanfang:
Als Maria Perrault aus dem Tiefenschlaf erwacht, ganz allmählich, als schlendere sie ziellos durch die Gänge des Raumschiffs, erfüllt sie ein unendliches Wohlgefühl. Das kennt sie von den vorausgegangenen Untersuchungen her: Es ist die ungewohnte Empfindung der Schwere, hervorgerufen durch die zarten elektrischen Ströme, die ihren Körper durchpulsten. Doch langsam erlischt das; sie spürt die behutsamen Berührungen der Hände Nikolai Stukalows, des Oberarztes, der die Instrumenten-Kontakte löst; im gleichen Maße wird sie wieder zu der schwebenden Feder, die sie ihr ganzes Leben lang war, wie alle die Menschen um sie her.
Unwillkürlich heben sich ihre Lider. Das erste, was sie erblickt, ist ihr Bauch – er erscheint ihr wie ein Gebirge von Bauch, obgleich er nur zart gewölbt ist. Da weiß sie wieder: Es ist das Kind, in drei Monaten wird sie es gebären.
In ihrem Blickfeld taucht das Gesicht Stukalows auf, ein füllwangiges Gesicht mit ernsten, ruhigen Augen. Zu ihm hat sie mehr Vertrauen als zu Emilio Diop, dem greisen Chef; der jedoch trägt die Verantwortung, er wird die Geburt betreuen. Maria Perrault sucht nach einem Zeichen, einem Augenzwinkern Stukalows vielleicht, dem sie entnehmen könnte, wie die Untersuchung verlaufen ist; aber ein solcher vertraulicher Hinweis bleibt aus, muß ausbleiben, wie sie weiß, denn die Gesetze des Raumschiffs verbieten das, und die Gesetze, die von der ersten Besatzungsgeneration anerkannt wurden, sind unerbittlich, und auch jetzt, in der zweiten Generation, werden sie streng eingehalten.
Nun ist sie hellwach. Sie stößt sich von ihrem Lager ab und beginnt sich anzukleiden. Dabei schweifen ihre Blicke durch den Operationssaal. Auch da gibt es kein tröstliches Zeichen:

Einband: Werner Hahn

Cover der 1. bis 3. Auflage

Greifenverlag zu Rudolstadt

1. Auflage 1978
2. Auflage 1981
3. Auflage 1984
4. Auflage 1988












weitere Ausgaben


Reihe:
Roman-Zeitung 359; 1980/2

Umschlag: Klaus Müller

Verlag Volk und Welt, Berlin
1. Auflage 1980 

16 August 2025

Hans Fallada: Mäuseken Wackelohr

Die Geschichte vom »Mäuseken Wackelohr«, eine kleine Liebesgeschichte, hat Gerhard Lahr wunderbar zart illustriert. Mäuseken Wackelohr ist bis über beide Ohren verliebt in den hübschen Mäuserich. Aber wie an ihn rankommen, wo er doch oben auf dem Dach in Freiheit lebt und Mäuseken im Haus eingesperrt ist? Die gefräßige Ameise weiß Rat, aber ist ihr zu trauen? Und was ist mit der bösen Katze, die ihr nach dem Leben trachtet? Eine kleine Fabel über falsche und richtige Freunde sowie die unaufhaltsame Macht der Liebe. 

Buchanfang:
In einem großen Stadthaus wohnte einmal ein Mäuseken ganz allein, das hieß Wackelohr. Als Kleines war es einst von der Katze überfallen worden, und dabei war ihm das Ohr so zerrissen, daß die Maus es nicht mehr spitzen, sondern nur noch damit wackeln konnte. Darum hieß sie Wackelohr. Und dieselbe alte böse Katze hatte ihr auch alle Brüder und Schwestern und die Eltern gemordet, deshalb wohnte sie so allein in dem großen Stadthaus. Da war es ihr oft sehr einsam, und sie klagte, daß sie so gerne ein anderes Mäuseken zum Spielgefährten gehabt hätte, am liebsten einen hübschen Mäuserich. Aber von dem Klagen kam keiner, und Wackelohr blieb allein:
Als nun einmal alles im Hause schlief, und die böse Katze auch, saß Wackelohr in der Speisekammer, nagte an einem Stück Speck und klagte dabei wieder recht jämmerlich über die große Verlassenheit. Da hörte sie eine hohe Stimme, die sprach: „Hihi! Was bist du doch für ein dummes, blindes Mäuseken! Du brauchst ja nur aus dem Fenster zu schauen und siehst den hübschesten Mäuserich von der Welt! Dazu geht es ihm auch noch wie dir: Er ist ebenso allein wie du und sehnt sich herzlich nach einem Mäusefräulein.“
Wackelohr guckte hierhin, und Wackelohr guckte dahin, Wackelohr sah auf den Speckteller und unter den Tellerrand aber Wackelohr erblickte niemanden. Schließlich sah sie zum Fenster hinaus. Doch drüben war nur ein anderes großes Stadthaus, mit vielen Fenstern,  .....

Die Geschichte vom „Mäuseken Wackelohr“ entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlages: Hans Fallada, „Geschichten aus der Murkelei“.

Der Kinderbuchverlag Berlin
1. Auflage 1976
2. Auflage 1978
3. Auflage 1979
4. Auflage 1984
Neuauflage 1991 [1. - 103. Tsd.]

 

14 August 2025

Gabrielle Russier: Wie man eine Flaschenpost ins Meer wirft - Briefe aus dem Gefängnis

Buchinfo

Am 10. Juli 1969 verhandelt die 5. Strafkammer des Amtsgerichts Marseille über einen Fall von Verführung Minderjähriger. Angeklagt ist die 32 jährige Gabrielle Nogues, geborene Russier, geschieden, zwei Kinder. Von Beruf Lehrerin. Der „Geschädigte“, Christian R., 17, ist einer ihrer Schüler. Die Öffentlichkeit ist von dem Prozess ausgeschlossen. Dennoch spricht ganz Frankreich über den Fall. Kaum jemand bezweifelt, dass hier eine legitime, echte und tiefe menschliche Beziehung unter Anklage gestellt wird, eine Liebe, die schweren Belastungen, psychischen Druck, langer Trennung, Gefängnis standhielt. Hat das Gesetz (der Code Napoléon von 1804) recht, wenn es eine solche Beziehung für strafbar erklärt? Das Urteil fällt „milde“ aus; es wird von einer eben erlassenen Amnestie aufgehoben. Der Skandal scheint sich in Nichts aufzulösen. Da aber tritt die Staatsanwaltschaft erneut auf den Plan. Sie legt Berufung ein, fordert eine strengere Strafe. Gabrielle Russier, von einer entwürdigenden Untersuchungshaft zermürbt, von der Angst vor der Vernichtung ihrer beruflichen und menschlichen Existenz gepeinigt, begeht Selbstmord.

Wer trägt die Schuld an diesem Tod? War er unvermeidlich? Presse, Funk und Fernsehen ergehen sich in erregten Kommentaren, Präsident Pompidou nimmt auf seiner Pressekonferenz Stellung, Bücher werden geschrieben, André Cayatte dreht den Film „Aus Liebe sterben“. Neben diese vielen, oft hitzigen, nicht immer sachgerechten Äußerungen stellt der Schriftsteller Raymond Jean ein Zeugnis von Gewicht. Im Unterschied zu den meisten Kommentatoren kannte er Gabrielle Russier persönlich, seit vielen Jahren: als Universitätslehrer und Freund. In einem längeren Essay zeichnet er ein Porträt dieser Frau und analysiert die gesellschaftlichen Umstände, unter denen es zu dem Drama kommen konnte. Die von ihm gesammelten Briefe Gabrielles an Freunde und Verwandte vermitteln uns ein authentisches Bild von der Toten. Diese Briefe sind ein menschliches Dokument, das ergreift und erschüttert. Sie verraten Charakter, Lauterkeit, und zugleich eignet ihnen Poesie, Schönheit und, in seltenen Augenblicken Heiterkeit.

Zum großen Teil im Gefängnis und während des für Gabrielle Russier verhängnisvollen Sommers 1969 geschrieben, lassen uns diese Briefe nacherleben, wie ein wertvoller Mensch in die Enge getrieben und zerbrochen wurde.

Der Tod Gabrielle Russiers, so sinnlos und schmerzlich er erscheint, ist nicht ohne Wirkung geblieben. Denn „wenn es jemanden gibt, und sei er auch ganz allein, der es wagt, in Übereinstimmung mit seinen Vorstellungen und Grundsätzen zu leben“ - so schrieb Michel Del Castillo in einem Buch über den Fall Russier -, „dann werden viele andere Mut bekommen und ein wenig von ihrer Würde wiederfinden".


Buchbeginn

Gasgeruch im Treppenhaus. Nachbarn, die sich beunruhigen. Ein Fenster wird eingeschlagen. Und auf ihrem Bett, tot, aus dem Leben geschieden, Gabrielle Russier, 32, Französischlehrerin am Gymnasium Marseille-Nord. Kein Brief, keine Botschaft, nichts. Der Tod in eingemauerter Stille und unlösbarer Verzweiflung. 

Inhalt:
5    Martine Monod
     Geschichte eines Selbstmords
15 Raymond Jean
     Für Gabrielle
91 Gabrielle Russier
     Briefe aus dem Gefängnis
     95 An Françoise, 8. März 1968
     96 An Françoise, 4. August 1968
     98 An Albert, Ende Oktober 1968
     99 An Raymond Jean, 8. Januar 1969
          An Françoise, 18. Februar 1969
     101 An Raymond Jean, 15. März 1969
            An Gilberte T., Dienstag vor Ostern 1969
     102 An Gilberte T., April 1969
     103 An die Mutter von Gilberte T., April 1969
     104 An Albert, 27. April 1969
     105 An Gilberte T., Ende April 1969
     109 An Gilberte T., Ende April 1969
     112 An Gilberte T., 5. Mai 1969
     114 An Gilberte T., 7. Mai 1969
     116 An Albert, 9. Mai 1969
     118 An Gilberte T., 12. Mai 1969
     121 An die Eltern, 13. Mai 1969
     122 An die Eltern, 13. Mai 1969
     123 An Albert, 15. Mai 1969
     126 An Gilberte T., 16. Mai 1969
     130 An Michel Nogues, 16. Mai 1969
     133 An Raymond Jean, 16. Mai 1969
     136 An Gilberte T., 19. Mai 1969
     138 An die Eltern, 27. Mai 1969
     140 An Michel Nogues, 28. Mai 1969
     142 An Albert, 30. Mai 1969
     144 An Gilberte T., 30. Mai 1969
     146 An Michel Nogues, (ohne Datum)
     149 An Raymond Jean, 5. Juni 1969
     150 An Gilberte T., 24. Juni 1969
     151 An Gilberte T., 16. Juli 1969
     153 An Gilberte T., 23. Juli 1969
     155 An Michel Nogues, Ende Juli 1969
     157 An Michel Nogues, 1. August 1969
     159 An Gilberte T., 27. August 1969
     162 An Michel Nogues, 29. August 1969
165 Anmerkungen

Originalausgabe unter dem Titel: Russier, Gabrielle: Lettres de prison
Aus dem Französischen von Joachim Meinert
Anmerkungen am Schluß des Bandes
Mit einer Einführung von Martine Monod und einem Essay von Raymond Jean
Gestaltung Schutzumschlag: Gisela Ruth Mossner

Verlag Volk und Welt Berlin
1. Auflage 1974
2. Auflage 1975 


13 August 2025

Lilo Hardel: Das schüchterne Lottchen

Buchanfang:
Mutti geht zur Arbeit
Lottchen Klinke brauchte nur über den Treppenflur zu gehen, dann war sie vor der Wohnungstür der Frau Heinefetter; denn Frau Heinefetter war die Nachbarin der Familie Klinke.
Jeden Morgen war es das gleiche: Lottchen stand oben auf dem Treppenflur und weinte. „Wann kommst du wieder, Mutti? Mutti, wann kommst du wieder?“ Sie schluchzte, und die Brötchen auf dem Teller, den sie in der Hand hielt, rutschten hin und her, und die Katze, die sie unter dem Arm hatte, mauzte.
Frau Klinke ging zu ihrer Arbeit. Sie war schon fast unten. Sie hatte es eilig; denn sie wollte nicht zu spät kommen. „Weine nicht, Lottchen“, rief sie hinauf. „Ich komme ja um fünf Uhr zurück – wie jeden Tag! Sei lieb, Lottchen, weine nicht.“
Dann öffnete Frau Heinefetter ihre Tür und nahm Lottchen in den Arm. Sie brachte sie in ihre Küche und tröstete sie. „Jetzt wird erst einmal gefrühstückt, Fräulein Klinke“, und sie hob Lottchen auf einen Küchenstuhl. Frau Heinefetter nahm eine Tasse mit warmer Milch vom Herd, stellte sie neben Lottchens Frühstücksteller und wischte ihr mit einem großen Taschentuch die Tränen von den Bäckchen. „Deine Mieze ist auch hungrig“, sagte sie, nahm die Katze und setzte sie auf die Erde.
Wenn die Katze ihren Brei von der Untertasse schleckerte und Frau Heinefetter sich neben Lottchen an den Tisch gesetzt hatte, griff Lottchen zu ihrem Brötchen und biß hinein. „Mutti kommt ja wieder!“ Sie seufzte noch einmal und beugte sich zu der Katze hinunter. „Du mußt fressen und artig sein.“ Und während sie ihre Milchtasse nahm, fragte sie: „Nicht wahr, Tante Heinefetter, Mutti kommt wieder?“ Und Frau Heinefetter nickte. „Ja, mein Kind, um fünf Uhr ist Mutti wieder hier.“

Lottchen spielt allein
Frau Heinefetter war eine alte Frau. Sie hatte ein rundes Gesicht, eine kleine, dicke Nase und liebe Augen. Ihr Gesicht hatte viele Runzeln, und ihr Haar war weiß. Sie war sehr klein.
„Warum bist du so klein?“ hatte Lottchen gefragt.
Aber Tante Heinefetter wußte das auch nicht. Sie erzählte Lottchen, daß sie früher, als sie noch jünger war, nicht ganz so klein gewesen sei. „Man wird kleiner, wenn man alt wird.“ Aber so groß wie Mutti war Tante Heinefetter nie gewesen; denn man wird nur ein bißchen kleiner, wenn man alt ist.
Lottchen ging jeden Morgen zu Frau Heinefetter und blieb dort, bis ihre Mutter wiederkam. Wenn Frau Heinefetter mit dem Aufräumen der Wohnung fertig war, nahm sie Lottchen mit zum Einkaufen. Sie gingen beide, Hand in Hand, langsam die Straßen entlang und sahen beim Bäcker, beim Fleischer, beim Gemüsemann und im Lebensmittelkonsum nach, was es Gutes zu essen gab. Lottchen nahm ein Henkelkörbchen, weil sie beim Tragen helfen wollte. Frau Heinefetter trug ihre große, lederne Tasche, die seit vielen Jahren zum Einkaufen diente; denn die Mutter von Frau Heinefetter hatte schon mit dieser Tasche eingekauft, so alt war sie. Man sah es ihr auch an.
Das Leder war vom vielen Gebrauch blank und am oberen Rand dünn und abgenutzt, und an drei Stellen war sie mit hellen Lederstücken geflickt.
Frau Heinefetter liebte ihre alte Tasche, und Lottchen konnte das gut verstehen.
„Eigentlich wollte ich heute Reis mit Backobst für uns kochen“, meinte Frau Heinefetter, als sie vor dem Gemüseladen standen. „Aber jetzt sehe ich hier die schönen Mohrrüben. Was denkst du, Lottchen?“
„Mohrrüben!“ rief Lottchen und hob das Körbchen in die Höhe. „Wir können ja morgen Reis essen. Die Mohrrüben passen in mein Körbchen.“ .....

Inhalt:
Mutti geht zur Arbeit .. .. .. .. 5
Lottchen spielt allein .. .. .. .. 6
Lottchen fällt in den Schnee .. .. .. .. 9
Lottchen will nicht in den Kindergarten .. .. .. .. 12
Die Waden müssen zusammenstoßen .. .. .. .. 15
Ob Lottchen mitfährt? .. .. .. .. 18
Lottchen will mitfahren .. .. .. .. 19
Glückliche Reise! .. .. .. .. 24
Lottchen versteckt sich .. .. .. .. 27
Verreist wird trotzdem .. .. .. .. 29
Der Zug fährt ab .. .. .. .. 30
Mathilde versteckt sich .. .. .. .. 33
Die Kinder üben Schleifenbinden .. .. .. .. 37
In der Kleinbahn .. .. .. .. 41
Die Ankunft in Bärenfels .. .. .. .. 42
Hier bleiben wir, solange es geht .. .. .. .. 44
Lauter Tiere aus Schnee .. .. .. .. 46
Der Bürgermeister hat einen Pferdeschlitten .. .. .. .. 48
Die Schlittenfahrt .. .. .. .. 50
Auch Lottchen rodelt .. .. .. .. 53
Eine Ansichtskarte an Karl .. .. .. .. 56
Draußen steht einer .. .. .. .. 58
Andere Kinder sind nicht schüchtern .. .. .. .. 62
Unsre Katz heißt Mohrle .. .. .. .. 65
Lottchen möchte in den Kindergarten .. .. .. .. 67
Übermorgen bringt dich die Mutti mit .. .. .. .. 70

Zeichnungen von Ingeborg Friebel
Für Kinder von 7 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1953 [1.-30. Tsd.]
2. Auflage 1954
3. Auflage 1954
4. Auflage 1955 [61.-70. Tsd.]
5. Auflage 1957
6. Auflage 1959
7. Auflage 1960
8. Auflage 1961
9. Auflage 1964
10. Auflage 1966

Erika Schröder: Die gläsernen Stiefel – 11 Märchen aus 11 Ländern

Buchanfang:
Die gläsernen Stiefel
Es war einmal eine alte Frau, die wollte ihr Enkelchen besuchen. Sie hatte ihm feine gläserne Stiefelchen gekauft. Als sie durch den Wald ging, begegnete ihr der Hase.
„Guten Tag, Großmutter“, sagte der Hase. „Wohin gehst du, und was trägst du in der Tasche?“
„Ich gehe zu meinem Enkelchen und schenke ihm gläserne Stiefel“, antwortete die alte Frau.
„Zeig sie mir doch mal. Wenn sie mir gefallen, lasse ich mir auch solche machen.“
Die Großmutter holte die feinen gläsernen Stiefel aus der Tasche.
„Ach, wie sind die hübsch“, rief der Hase. „Ob sie mir wohl passen?“ Und schon probierte er sie an. „Sie passen mir, sie passen mir ganz genau!“ Der Hase freute sich. „Ich will versuchen, ob ich darin laufen kann.“
Der Hase hüpfte auf einem Bein, er hüpfte auf dem anderen Bein, und hops, auf einmal war er davongehüpft. Die Großmutter rannte nach Hause und erzählte den Nachbarn, daß der Hase ihr die feinen gläsernen Stiefel gestohlen hatte. Da gingen sie mit Hunden in den Wald und jagten die Hasen. Aber einen Hasen mit gläsernen Stiefeln haben sie nicht gefangen. Vielleicht waren die Stiefel schon kaputtgegangen?
Litauisches Volksmärchen

Inhalt:
Die gläsernen Stiefel
Der Handschuh
Nordwind und Ostwind
Drei rote Ferkelchen
Der Kuchenmann
Der Sohn des Königs
Der Fuchs, der Bär und der arme Mann
Die wilden Schwäne
Das Töpfchen
Die beiden Drescher
Vom undankbaren Kücken

Illustrationen von Gisela Klein
    
Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1982
2. Auflage 1983

10 August 2025

Carolina Maria de Jesus: Tagebuch der Armut / Das Haus aus Stein

Buchinfo

Carolina Maria de Jesus (1914 - 1977), brasilianische N*, seit 1937 in Sao Paulo, landete nach der Geburt ihres ersten Kindes in der Favela, "dem Ort, wohin man nicht nur Dinge, sondern auch Menschen wirft".

"Ich kam nach meinen Versuchen, etwas im Abfall zu finden, zu Hause an und hatte nichts zu essen. Ich lehnte mich innerlich auf und schrieb." Der Journalist Audálio Dantas entdeckte die Aufzeichnungen, "eine Revolution in einer Bretterbude. Die Revolution wurde zum Buch und bekam den Titel ,Tagebuch der Armut'". Die erste Auflage erschien 1960 in Sao Paulo und war innerhalb von drei Tagen vergriffen, es folgten aufsehenerregende Ausgaben in aller Welt.

Das Buch, dessen Erfolg es der Autorin ermöglichte, die Favela nach mehr als fünfzehn Jahren zu verlassen, "ist ein Schrei des Protestes. Ein Dokument der tiefsten Verzweiflung. Es ist aus dem Abfall hervorgegangen, wie seine Autorin, um einen Teil des brasilianischen Lebens zu offenbaren. Mit aller Kraft, die ihm innewohnt" (Audálio Dantas).


Leseprobe

Ich kann meiner lieben verstorbenen Mutter nichts nachsagen. Sie war sehr gut. Ihrem Wunsche nach sollte ich Lehrerin werden. Die Lebensumstände haben sie daran gehindert, ihren Traum zu verwirklichen. Aber sie hat meinen Charakter gebildet, indem sie mich lehrte, die Demütigen und die Armen zu lieben. Deshalb tun mir die Bewohner der Favela leid. Obgleich es hier Leute gibt, die verachtet werden müßten, Leute, die wirklich böswillig sind. Heute nacht haben Dona Amelia und ihr Freund sich gestritten. Sie schrie, daß er nur wegen des Geldes, das sie ihm gibt, mit ihr zusammen lebe. Man hörte nur die Stimme der Dona Amelia, die an dem Streit Freude zu haben schien. Sie hat mehrere Kinder in die Welt gesetzt. Sie hat sie alle verteilt. Sie hat zwei erwachsene Söhne, die sie nicht im Hause haben will. Sie setzt ihre Söhne zurück und zieht die Männer vor. Der Mann tritt durch die Tür ein. Der Sohn ist die Wurzel des Herzens.

Reclams Universal-Bibliothek Band 299
2. Auflage 1979


Zu diesem Buch gibt es noch einen 2. Teil. Dieser erschien, soviel ich weiß, nicht in der DDR. Ich möchte ihn euch aber nicht vorenthalten und stelle ihn hier mit vor:


Das Haus aus Stein - Die Zeit nach dem Tagebuch der Armut (1961)

Buchinfo
In "Das Haus aus Stein" beschreibt Carolina Maria de Jesus ihr Leben nach Erscheinen des "Tagebuchs der Armut", dem Tagebuch aus fünf Jahren Leben in einem Elendsviertel vor den Toren Sao Paulos. Das Aschenputtel Brasiliens, gleichsam zu einem Konsumprodukt geworden, ist plötzlich weltberühmt. Sie wird interviewt und fotografiert, die Kritiker verleihen ihr Preise, die Reichen laden sie zu Tisch, und verschiedene Präsidenten empfangen sie. Sie verläßt die Favela und lernt die Welt der "Reichen" kennen. Mit "Reichen" meint sie nicht die wirklich Reichen, von ihrem Standpunkt aus sind alle reich, die in einem Steinhaus leben. Unter gewissen Gesichtspunkten ist "Das Haus aus Stein" ein noch fesselnderes Buch, weil sich darin ein wenig Freude findet, der Glanz der neuentdeckten Welt, das Glück des vollen Magens, die Ratlosigkeit vor ungewohnten Dingen und eine bittere Feststellung: Auch in den Steinhäusern gibt es Elend in den verschiedensten Formen.
Dann vergingen die Jahre. Im Nachwort wird geschildert, wie sie in die Favela zurückkehrt und dort 1977 stirbt. Keiner erinnerte sich mehr an die Frau, die geschrieben hatte: "Der Hunger ist das Dynamit des menschlichen Körpers."

Buchbeginn
Eines Tages - es war ein Nachmittag im April 1958 - ging ich in die Favela do Canindé und entdeckte eine Revolution in einer Bretterbude; die Aufzeichnungen der N* Carolina Maria de Jesus. Die Revolution wurde zum Buch und bekam den Titel "Tagebuch der Armut".
Jetzt muß ich von neuen Aufzeichnungen derselben N* sprechen. Sie ist aus der Bretterbude herausgekommen und hat ein Traumhaus bezogen - ein Haus aus Stein. Sie ist unsere Nachbarin, hier, wo sie mit jenen Augen um sich blickt, die daran gewöhnt waren, die Favela zu sehen, alles zu beobachten und aufzuschreiben: das Große, Schöne und Elende dieser Seite des Lebens.

Wagner Verlag 

Ursula Ullrich: Am Abend sind die Schatten lang

Es kommt vor, daß Menschen einander nicht ihr wirkliches Leben erzählen, sondern Geschichten, mit denen sie es besser zu ertragen glauben. Die Menschen in diesen sechs Erzählungen lernten, ihr Leben so zu sehen, wie es eben ist. Sie lernten, mit Problemen zu Rande zu kommen, Auswege aus der Ausweglosigkeit zu finden, scheinbar Unannehmbares anzunehmen.

Ursula Ullrich, 1932 in Dresden geboren, erzählt Lebensgeschichten einfühlsam und mit einem feinen Sinn für Humor; sie wirbt um Verständnis für menschliche Eigenheiten und Verletzbarkeiten. Sie beschreibt, wie diejenigen, die heute fast ausnahmslos im achten Lebensjahrzehnt stehen, gelebt haben, oft viel zu gehorsam und schicksalergeben, jedoch mit einem untrüglichen Gefühl für Menschenwürde. Sie erzählt von Konflikten zwischen den Generationen, aber auch vom achtungsvollen Umgang zwischen Alten und Jungen; sie entdeckt Ungewöhnliches in alltäglichen Lebensläufen, und sie beschönigt die Bitterkeit mancher Erfahrung nicht, auch nicht die Leere, die der Tod hinterläßt. Dennoch sehen nicht alle Menschen, um die es in den Erzählungen geht, das Leben nur von seinem Ende her. Neben den Verzagenden gibt es die Mutigen. Mut gehört zum Wandeln von Lebensansichten, und Mut gehört auch dazu, mit über siebzig Jahren noch eine Ehe zu schließen, wie es in der Titelerzählung geschieht


Buchbeginn

Das Gespann

Hermann sitzt am Küchentisch und liest die Zeitung. Vor dreißig Jahren hat er sie noch weit von sich strecken müssen und gefürchtet, daß seine Arme eines Tages nicht mehr ausreichen könnten, die verschwimmenden Buchstaben in den Schärfebereich zu rücken. Jetzt wundert er sich, wie gut er sehen kann, wenn er das Blatt dicht vor die Augen hält. Hermann liest die Zeitung gründlich und fängt auch nicht von hinten zu lesen an, dort, wo die Lokalnachrichten stehen. Bloß einen einzigen Blick wirft er auf die letzte Seite. Wenn er einen bekannten Namen in einem der schwarzgerandeten Felder entdeckt, schüttelt er halb bedauernd, halb mißbilligend den Kopf und ruft seiner am Herd hantierenden Frau zu: "Hulda, denk ner, 's in widder aanergestorbn, dr Römersch Franz. Naanaa, wer hätt dös gedacht, aß der siech emol sue bezeiten drrahmachen tutt!"

Union Verlag Berlin
1. Auflage 1987
ISBN: 3372000919 

Alice Uszkoreit: Bekanntschaften - Eine Anthologie

Buchinfo

Sarah Kirsch über eine Parteiarbeiterin; Wolfgang Kröber über eine Gruppe von Chemiearbeitern; Irmtraud Morgner über einen Bauleiter; Walther Petri über einen Gleismeister im Braunkohlenrevier; Siegfried Pitschmann über eine Feinmechanikerin; Helga Schubert über einen Meister in einer Maschinenfabrik; Axel Schulze über einen Ingenieur aus Buna; Maria Seidemann über eine Metallwerkerbrigade; Martin Stephan über eine Druckereiarbeiterin, Wolfgang Trampe über einen Eisenbahner.

Neunzehn Autoren befragen Leute ihrer Bekanntschaft. Neunzehn Geschichten porträtieren Zeitgenossen.




Buchbeginn

Nach Shanghai und zurück
Aus dem Leben der Genossin Genia Nobel
nacherzählt von Sarah Kirsch

Ich komme aus einer Familie, die reaktionär und religiös war, bin aber ein vernünftiger Mensch. Und da fiel mir irgendwann mal auf - da ich ja eine Schule besuchte und in Physik und Chemie sehr gut war -, daß das eigentlich ulkig ist: Ein bärtiger alter Mann, der verträgt sich weder mit den Gesetzen der Schwerkraft noch mit irgend etwas anderem. Ich war vielleicht elf oder zwölf. Aber so ganz sicher war ich mir nicht. Ich hatte ja keine Mutter - meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Abendgebete jeden Abend. Und bloß nicht vergessen, sonst geschieht etwas Furchtbares, eine Gottesstrafe und so.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
1. Auflage 1976
Einbandgestaltung: Heinz Hellmis

 

08 August 2025

Clarisse Nicoïdski: Das Nadelöhr

Leseprobe

An der Pforte de Pantin sah man durch die erleuchteten Fenster im Erdgeschoß immer dasselbe Bild: am Tischende der eingeschaltete Fernsehapparat, wie ein besonderer Gast. Die Gedecke waren aufgelegt. Hier und da war die Deckenlampe durch eine Neonleute ersetzt. Auf dem Büfett im Eßzimmer thronte ein Strauß Plastblumen. Irgendwo entströmte Suppenduft und verirrte sich bis auf die Straße, ein hartnäckiger Geruch nach Erbsen, Fett gerösteten Brotstücken, winterlicher Duft sorgsam gehütetet Wohnstätten. An den "Portes" riecht der Winter nach Suppe. Jedes Haus war eine vollendet organisierte Zelle, doppelt abgeschlossen, jedes Mitglied ein Gefangener seiner selbst, der künstlichen Blumen und des Neons. Nichts fehlte. Man hätte die Behausung notfalls hundert Meter in die Erde versenken können, ohne daß deshalb jemand in die geringste Verlegenheit geraten wäre.


Buchclub 65

 

Elisabeth Hartenstein: Der Schatten Alexanders

Buchinfo

Philonikos erzählt - er, der als Jüngling an den Hof König Philipps von Makedonien gekommen war, hat viel gesehen. Er zog den Hengst auf, der als Alexanders berühmtes Streitroß Bukephalos in die Geschichtsschreibung einging. Er erlebte Alexanders Jugendjahre mit, sah ihn als erfolgreichen Feldherrn bei der Niederwerfung der aufständischen Trakier und in der Schlacht von Chäronea. Er kannte den Jüngling deprimiert, wenn ihn das Schicksal seiner Mutter Olympias bekümmerte, und wußte von der Faszination, die von dem jungen Prinzen ausging bei der Wahl zum Anführer der Reiterei und später, als er sich nach der Ermordung Philipps zur Königswahl stellte.

Philonikos begleitete Alexander auch auf dem Feldzug gegen die Perser, die die griechischen Staaten bedrohten. Sein ganzer Lebenssinn bestand darin, für seinen jungen geliebten König dazusein. Der einfache Mann des Volkes erkannte dessen Größe, aber schließlich auch dessen Grenzen, als er mit ansehen mußte, wie Siege und Erfolge Alexander nicht mehr maßhalten ließen, daß er seine Eroberungsziele immer weiter steckte und letztlich in seinem Namen Unrecht geschah. Von diesem Unrecht wurde auch der treue Philonikos selbst betroffen.


Buchbeginn

Die Rast

Über der Ebene verblassen die Sterne. Ein zarter Schimmer steigt auf über den hohen Bäumen, die im Osten die Sicht begrenzen. Während sich ein schwacher Wind erhebt, verbreitet sich die Helligkeit und läßt die einzelnen Windungen des Flusses glitzern und glänzen, und nun schieben sich auch die Strahlen der aufgehenden Sonne durch die zackige Wand der Baumwipfel. Zugleich flattert aus dem nahen Gebüsch das erste Vogellied empor.

Illustration von Harri Förster
 Reihe "Spannend erzählt", Band 133
Verlag Neues Leben, Berlin 1976

Nadine Gordimer: Burgers Tochter

Buchinfo

Rosa Burger ist die Tochter eines angesehenen Johannesburger Arztes, der als Kommunist im Gefängnis stirbt. Mit Mitte zwanzig ist Rosa allein und, wie sie glaubt, frei von familiären Verpflichtungen und den Fesseln der Vergangenheit - sie will sich von den Idealen ihrer Eltern lösen und ein eigenes Leben führen. Nach vielen Monaten erhält sie endlich einen Reisepaß und fährt nach Frankreich, um zu lernen, wie man dem Vater abtrünnig wird. Doch weder in der schützenden Anonymität europäischer Verhältnisse noch in der Liebesbeziehung zu einem liberalen französischen Intellektuellen findet Rosa zu sich selbst. Erst nach der Begegnung mit ihrem schwarzen Kindheitsgefährten weiß sie, wohin sie gehört. Der komplizierten Entwicklung dieser jungen Frau wird die Erzählstruktur des Romans voll gerecht. Das in inneren Monolog, szenische Darstellung und Bericht, in Erinnerung, Assoziation und philosophische Reflexion aufgefächerte Werk bezieht seine geistige Spannung aus den politischen Auseinandersetzungen der siebziger Jahre in der Republik Südafrika. "Ich weiß nicht sehr viel über die Partei", sagte die Autorin in einem Interview, "aber ich bin einer Reihe ihrer Anhänger sehr verbunden, ich habe gesehen, wie mutig sie sich einsetzen - und das hat mich wiederum ermutigt, ,Burgers Tochter' zu schreiben." Das Buch wurde, wie sie befürchtet hatte, in der Republik Südafrika verboten und erst nach weltweitem Protest von der Zensur freigegeben. Dabei impliziert Nadine Gordimers Würdigung der südafrikanischen Kommunisten zugleich starke subjektive Vorbehalte, die sie offen darlegt. "Ich kenne die Ideologie nicht: Es handelt sich um das Leiden. Wie dem Leiden ein Ende bereitet werden kann" - dieses Bekenntnis zu einem tätigen Humanismus, das nicht nur literarisches Credo, sondern täglich bewiesene Lebenshaltung ist, macht ihre Geschichte über Rosa Burger zu einem der beeindruckendsten Romane gegen die Apartheid.


Buchbeginn

In der Gruppe von Leuten, die an der Festung warteten, stand ein Mädchen in braun-gelber Schulkleidung mit einer grünen Daunendecke über dem Arm und einer roten Wärmflasche, die es an der Öse am Schraubverschluß hielt. Einige Busse fuhren damals dort vorbei, und Fahrgäste, die hinausschauten, werden das Schulmädchen bemerkt haben. Man stelle sich vor, ein Schulmädchen: sie muß jemanden drinnen haben. Wer sind all diese Leute überhaupt? Selbst vom Oberstock eines Busses aus, der vorbeischlingerte, als die Ampel grün wurde, muß die Gruppe nicht ausgesehen haben wie Gefängnisbesucher sonst, passiv und scheu auf dem Abhang mit städtischem Rasen.


Autorin

Nadine Gordimer wurde 1923 in Springs, Transvaal, als Tochter eines aus Litauen eingewanderten Juden und einer Engländerin geboren. Sie studierte an der Universität von Witwatersrand, Johannesburg, und lebt in Johannesburg. Wiederholt reiste sie nach Europa und in die USA, wo sie an verschiedenen Universitäten Gastvorlesungen über schöpferisches Schreiben, über südafrikanische Literatur und Politik hielt. Sie war fünfzehn Jahre alt, als ihre erste Kurzgeschichte in einer südafrikanischen Zeitschrift erschien.

Aus dem Englischen von Margaret Carroux
Volk und Welt Berlin
1. Aufl., 1989
3353005781

05 August 2025

William Faulkner: Die Unbesiegten

Buchinfo

"Weil er leicht zu lesen ist", empfahl Nobelpreisträger William Faulkner (1897 - 1962) Studenten diesen 1938 entstandenen Roman, der vor dem Hintergrund des amerikanischen Bürgerkriegs und der Rekonstruktionsära angesiedelt ist und die Frage nach Sinn und Unsinn eines überlebten Ehrenkodex stellt. Der Ich-Erzähler, Bayard Sartoris, erinnert sich an seine Jugendzeit, als er und sein schwarzer Freund Ringo den Einmarsch der Yankee-Truppen in den Süden erlebten. Seine Reminiszenzen fügen sich zu einem Erziehungsroman Faulknerschen Stils, der die Zerstörung des südstaatlichen Mythos zum Ziel hat. Die Bezüge zu den anderen Büchern des Autors sind vielfältig, doch ist der Roman in erster Linie eine Ergänzung zu "Sartoris" (1988 bei Volk und Welt). Der Band erscheint innerhalb der Sammelausgabe der Werke Faulkners, die hiermit abgeschlossen wird.


Buchbeginn

Hinterhalt

In jenem Sommer hatten Ringo und ich hinter dem Räucherhaus eine lebende Landkarte. Vicksburg war zwar nicht mehr als eine Handvoll Späne vom Holzstapel, und der Fluß nur eine Rille, die wir mit der Spitze einer Hacke durch die Erdschollen gezogen hatten, aber es (Fluß, Stadt und Terrain) lebte, und das Gelände bewahrte selbst im verkleinerten Abbild seine deutlich fühlbare, wenn auch passive Widerspenstigkeit, die mehr vermag als Artillerie und der gegenüber der glänzendste Sieg und die tragischste Niederlage nichts sind als das laute Gelärm eines Augenblicks.

Inhalt:
HINTERHALT .. .. .. Seite 5
RÜCKZUG .. .. .. Seite 35
AUSFALL .. .. .. Seite 12
GEGENSTOSS .. .. .. Seite 112
VENDEE .. .. .. Seite 146
SCHARMÜTZEL IM HAUSE SARTORIS .. .. .. Seite 111
DUFTENDES EISENKRAUT .. .. .. Seite 200
ANMERKUNGEN .. .. .. Seite 243

Aus dem Amerikanischen von Erich Franzen
Originalausgabe: The Unvanquished, erschienen bei Random House, New York 1938
Schutzumschlag, Einband: Werner Klemke

Verlag Volk und Welt Berlin
Lizenzausgabe für die Deutsche Demokratische Republik
1. Auflage 1989

 

Saul Bellow: Mr. Sammlers Planet

Buchinfo

Artur Sammler, 75, in New York lebender Journalist und Philosoph jüdischer Abstammung, war es einst gelungen, in Polen der faschistischen Massenvernichtung zu entrinnen. Die ihn umgebende Wirklichkeit, die Verfehlungen und Irrtümer unseres Jahrhunderts beobachtend und kommentierend, wird er zum "Protokolleur der Tollheit" - der Tollheit New Yorks, der USA, des Planeten Erde. Und doch hat sich Mr. Sammler den Glauben daran bewahrt, daß das "geniale Tier ,Mensch'" angesichts der beängstigenden Gegenwart die Kraft zur Besinnung und Rückkehr besitzt. Tiefgründiges Wissen und erzählerisches Temperament vereinen sich in diesem von Weisheit und Skepsis, Melancholie und Hoffnung geprägten Roman, in dem Nobelpreisträger Saul Bellow, Jahrgang 1919, mahnend und warnend seine Stimme erhebt.

Aus dem Amerikanischen von Walter Hasenclever
Verlag Volk und Welt Berlin
1. Auflage 1989

 

Salman Rushdie: Scham und Schande

Buchinfo

Eine "Saga von sexueller Rivalität, von Ehrgeiz, Macht, Protektion, Betrug, Tod und Rache", aber auch "ein modernes Märchen" nennt der in London lebende indische Autor Salman Rushdie, Jahrgang 1947, diesen Roman. Mit verschwenderischer Phantasie zeichnet er das Bild eines fiktiven islamischen Landes, das vom blutigen Machtkampf zweier nach dem höchsten Staatsamt gierender Männer erschüttert wird. Die von brutaler Unterdrückung besonders der Frauen, von religiösem Fanatismus und einem unheilvoll-strengen Sittenkodex geprägten Verhältnisse in Peccavistan führen schließlich zum visionären Kollaps dieser Gesellschaft. Rushdies beißend satirische Darstellung aktueller Entwicklungstendenzen in der islamischen Welt entspringt der Besorgnis über die zunehmende Intoleranz in einem der ältesten Kulturkreise der Erde. Sein Roman führt an die Wurzeln dieser Problematik heran.


Buchbeginn (von einer Penguin-Ausgabe)

In der entlegenen Grenzstadt Q., die aus der Vogelperspektive am ehesten einer missproportionierten Hantel gleicht, lebten einmal drei liebliche und liebende Schwestern. Ihre Namen ... doch ihre richtigen Namen wurden nie benutzt, wie das beste Geschirr im Haus, das nach der Nacht ihrer gemeinsamen Tragödie in einen Schrank gesperrt wurde, dessen Standort allmählich in Vergessenheit geriet, sodass das prunkvolle tausendteilige Service aus den Gardner-Manufakturen im zaristischen Russland zum Familienmythos wurde und sie nach einer Weile nicht mehr so recht wussten, ob es das Geschirr überhaupt je gegeben hatte ... die drei Schwestern, sollte ich ohne weitere Verzögerung bemerken, trugen den Familiennamen Shakil und waren (in absteigender Reihenfolge des Alters) allgemein als Chhunni, Nunnee und Bunny bekannt. Und eines Tages starb ihr Vater.

Aus dem Englischen von Karin Graf
Verlag Volk und Welt Berlin
1. Auflage 1990

 

Bobbie Ann Mason: Geboren in Amerika

Buchinfo

Die kleine Stadt Hopewell in Kentucky ist der Schauplatz dieses Erstlingsromans von Bobbie Ann Mason, Jahrgang 1940. Erzählt wird von der 17jährigen Sam, die auf der Suche nach der Wahrheit über den "vergessenen Krieg" der USA in Vietnam ist. Ihr Vater fiel noch vor ihrer Geburt, ihr Onkel Emmett kam als Soldat mit Agent Orange in Berührung. Sams Fragen nach dem, was damals geschah, passen nicht in die zunehmend nationalistische Stimmung der Reagan-Ära, und so wird ihr Bemühen, die lethargisch dahinvegetierenden "Vietnam-Veteranen" zu aktivieren, zum Prüfstein ihrer Reife. Über das Buch urteilt ein Kritiker: ",Geboren in Amerika' ist von hoher Kunst, leidenschaftlich, lebensvoll, historisch notwendig. Mehr noch: der Roman ist ein Zeugnis für die Auseinandersetzung mit unerbittlichen, aber vergessenen Wahrheiten, den tiefen Wunden unserer Nation."

Aus dem Amerikanischen von Harald Goland
Verlag Volk und Welt Berlin
1. Auflage 1989

 

Roger Martin du Gard: Die Thibaults – Die Geschichte einer Familie

Band I - Das graue Heft / Die Besserungsanstalt / Sommerliche Tage
Titel der französischen Originalausgabe:
LES THIBAULT – LE CAHIER GRIS / LE PÉNITENCIER / LA BELLE SAISON

Klappentext:
Roger Martin du Gard (1881-1958), als Sohn einer großbürgerlichen Familie in Neuilly-sur-Seine geboren, in Paris aufgewachsen, wo er an der Hochschule für Historiker und Archivare studierte, ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller dieses Jahrhunderts. Mit seinem Freund André Gide gehörte er zu den Initiatoren der einflußreichen. literarischen Zeitschrift „La Nouvelle Revue Française“ und des gleichnamigen Verlages. Er schrieb Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Essays, u.a.: Jean Barois (1913), Confidence africaine (1931, dt. „Das Geständnis“), Vieille France (1933, dt. „Die kleine Welt des Herrn Joigneau“). Als sein Meisterwerk gilt der achtteilige Romanzyklus Les Thibault (1922-1940, dt. „Die Thibaults“ VVW 1958-1960), für den er 1937 den Nobelpreis erhielt. In einer lebendigen Darstellung und mit psychologischem Einfühlungsvermögen gestaltet Martin du Gard hierin das Schicksal zweier französischer Familien zu Beginn dieses Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen die Brüder Antoine und Jacques Thibault, deren unterschiedliche Lebenswege die seelischen und geistigen Spannungen sowie die politischen Auseinandersetzungen jener Zeit widerspiegeln.
Ein Heft mit grauem Leinendeckel – damit fängt alles an. Jacques und seinem Freund Daniel de Fontanin dient es zum ungestörten Gedankenaustausch während des Unterrichts. Als ihr Lehrer, ein frommer Abbé, das Heft eines Tages entdeckt, stößt er darin auf Sätze, die ihn moralisch entrüsten.
Der alte Thibault ergreift daraufhin drakonische Maßnahmen: Er schickt seinen Sohn in eine Besserungsanstalt für „sittlich gefährdete“ Kinder. Von dort kommen dem jungen Arzt Antoine Thibault seltsame Dinge zu Ohren, so daß er sich trotz des väterlichen Verbots entschließt, den Bruder zu besuchen. Das Wiedersehen mit dem nun so gefügigen, geistig und seelisch aber gleichsam erstarrten Jungen veranlaßt ihn, Jacques in seine Obhut zu nehmen.
Jahre später sind Jacques' Erinnerungen an die quälenden Erlebnisse der Kindheit verblaßt; im warmen Schatten des alten Parks von Maisons-Laffitte verbringt er sommerlich unbeschwerte Tage, bevor er sein Studium aufnimmt – Tage mit Gisela, der Kindheitsgefährtin, und mit Jenny, die ihn in einen Taumel widerstreitender Gefühle stürzt. Doch immer stärker bedrängt ihn der Gedanke an die Zukunft, und eine unklare Sehnsucht nach den „Wundern des Aufbruchs“ läßt ihn eines Tages heimlich die Flucht ergreifen.

Band II - Die Sprechstunde / Sorellina / Der Tod des Vaters

Titel der französischen Originalausgabe:
LES THIBAULT –  LA CONSULTATION / LA SORELLINA / LA MORT DU PÈRE

Klappentext:
Antoine Thibault erlebt sommerlich heiße Tage in Paris – ganz andere Tage als sein Bruder Jacques, von anderen Begierden, anderen Sehnsüchten und Wünschen erfüllt. Aus der Zufallsbegegnung mit der rothaarigen Rahel ist eine Liebe entstanden, wie er sie bisher nicht gekannt hat. Eine eigenartige Frau, diese Rahel, von überschäumender Sinnenfreude und geradezu davon besessen, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Eines Tages bleibt Antoine allein zurück – der Sommer ist vorbei.
Durch Zufall ist Antoine auf ein schmales Buch, die Novelle „La Sorellina“, gestoßen, die er mit ungläubigem Staunen liest. Die hier geschilderten Menschen tragen fremde Namen und leben in einem anderen Land, aber er kennt sie, ihm sind die Gestalten vertraut. Giuseppe und Humberto, die beiden Brüder, Annetta, die „kleine Schwester“ – für ihn heißen sie Jacques, Antoine und Gisela; Mrs. Powell und ihre Tochter Sybil, die „Ketzerinnen“ wer sollte das sein, wenn nicht Madame de Fontanin und Jenny, die der alte Thibault von jeher mit seinem Haß verfolgte? Ja, alles stimmt, und doch widerstrebt Antoine der Gedanke, daß Jacques, der Verfasser der Novelle, hin und her gerissen zwischen seiner Liebe zu Jenny und der Leidenschaft für Gisela, keine andere Möglichkeit blieb als die Flucht.
Herr Thibault wird nie erfahren, was den Sohn, den er seit drei Jahren tot glaubt, von zu Hause forttrieb. Er weiß nicht, daß er sich in der Schweiz einem Kreis junger Sozialisten und Pazifisten angeschlossen hat, noch nimmt er wahr, daß Jacques jetzt an seinem Sterbebett steht. In seinem qualvollen Todeskampf ist sich der Greis nur noch seiner Schmerzen bewußt, für die es keine Linderung gibt. Wieder einmal muß sich Antoine mit der Frage auseinandersetzen, die ihm nur das eigene Gewissen beantworten kann: Darf er als Arzt einen unheilbaren Kranken von seinem Leiden erlösen? Der Tod des tief im bürgerlichen Milieu und im katholischen Glauben verwurzelten Vaters befreit die Söhne von den Fesseln einer lastenden Vergangenheit, die sie nunmehr, jeder seiner Wesensart gemäß, endgültig abstreifen werden.

Band III – Sommer 1914 Teil 1 / Sommer 1914 Teil 2

Titel der französischen Originalausgabe:
LES THIBAULT – L'ÉTÉ 1914, I / L'ÉTÉ 1914, II

Klappentext:
Attentat in Sarajewo, Notenaustausch zwischen Österreich und Serbien, Großmächte um Lokalisierung des Konflikts bemüht, kein Grund zur Besorgnis... Die offiziellen Presseberichte sind in zuversichtlichem Ton gehalten, und die satten Bürger, denen die Sommerferien an der See wichtiger sind als die „lächerlichen Streitigkeiten“ auf dem Balkan, lassen sich allzugern beruhigen.
Auch Antoine Thibault verschließt die Augen vor der über Europa schwebenden Kriegsgefahr. Mit spöttischem Lächeln hört er dem Bruder zu, der im Auftrag der Genfer revolutionären Gruppe für ein paar Tage nach Paris gekommen ist, um mit den französischen Sozialisten Verbindung aufzunehmen. Solidarische Aktion der Arbeiter aller Länder, Generalstreik als wirksame Waffe gegen den Krieg – für Antoine sind das Hirngespinste von Wirrköpfen und Weltverbesserern.
Sein kurzer Abstecher nach Paris bringt Jacques noch eine Begegnung ganz anderer Art, die ihn in tiefe Unruhe versetzt: nach Jahren der Trennung steht er unvermutet der Frau gegenüber, die er niemals wiedersehen wollte – Jenny de Fontanin. Auf der Flucht vor ihr, vor der Liebe zu ihr, hatte Jacques seinen Platz und seine Aufgabe im Leben gefunden; er glaubte sich innerlich gefestigt, frei von allen privaten Bindungen. Nun ist für ihn die Vergangenheit mit einem Schlag wieder lebendig, und es drängt ihn, der jungen Frau rückhaltlos zu gestehen, was ihn damals von ihr forttrieb, ins Ungewisse. Der Wunsch, Jenny möge ihm verzeihen, ist stärker als alle Hemmungen und Bedenken. Schroff, fast mit Gewalt, erzwingt Jacques eine Aussprache, die endlich die Last der Einsamkeit von ihm nimmt.
Über der Bereitschaft zu lieben und der Gewißheit, geliebt zu werden, vergessen beide für kurze Zeit die Welt. Bald aber werden sie unerbittlich in die Wirklichkeit zurückgerufen: In einem Wirbel einander widersprechender Gerüchte und Nachrichten zieht das Unwetter herauf, das Europa mit Tod und Vernichtung bedrohen wird.

Band IV – Sommer 1914 Teil 3 / Epilog

Titel der französischen Originalausgabe:
LES THIBAULT – L'ÉTÉ 1914, III / EPILOGUE

Klappentext:
Eintönig rattern die Räder des Zuges. Für Jacques Thibault ist diese Fahrt von Genf nach Basel die erste Ruhepause, seit er sich entschloß, unter Einsatz seines Lebens das große Völkermorden verhindern zu helfen. Noch einmal ziehen die Erlebnisse der letzten Tage an ihm vorüber die Mobilmachung, die erschütternden Szenen, als er den einberufenen Bruder zum Bahnhof begleitete, der Abschied von Jenny, von dem nur er wußte, daß es eine Trennung für immer war, das Gespräch mit Meynestrel, dem Piloten, mit dem er seinen Plan, eine geheime Flugblattaktion. beriet.
Wieder und wieder malt Jacques sich aus, wie es sein wird: Das Flugzeug kreist über der Front. Meynestrel sitzt am Steuer. Jacques beugt sich vor, ergreift immer neue Stapel bedruckter Blätter, wirft sie hinunter. Überall in den französischen und in den deutschen Stellungen wird man das Manifest lesen, das die Soldaten zum Widerstand gegen den mörderischen Krieg aufruft. Ein sinnloses Unternehmen? Für Jacques Thibault, den einsamen Rebellen, ist es der einzige Weg, in dieser verworrenen Zeit sich selbst treu zu bleiben. Sein unbezähmbarer Wille, dem Gemetzel Einhalt zu gebieten, ist stärker als die Angst vor dem Tod.
Jacques bezahlt seine mutige Tat mit dem Leben. Antoine kämpft seit Monaten verzweifelt gegen eine tückische Gelbkreuzvergiftung. Trotz seines schlechten Gesundheitszustandes entschließt er sich kurzerhand, das Lazarett zu verlassen und nach Paris zurückzukehren: Insgeheim hofft er, dort mit Hilfe seines alten Lehrers, Professor Philip, eine wirksame Behandlungsmethode zu finden. Doch das Urteil, das er in den Augen Philips liest, ist unumstößlich.
Aus der instinktiven Furcht vor dem Ausgelöschtwerden erwächst in Antoine das Verlangen, wenigstens eine Spur seiner selbst zu hinterlassen. Die Krankengeschichte, in der er sachlich genau jedes Symptom des unaufhaltsam fortschreitenden Leidens registriert, soll zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen verhelfen. Sein Tagebuch aber, ein erschütterndes Dokument menschlichen Ringens, ist Jean-Paul gewidmet, dem Sohn seines Bruders, in dem sich die Energie der Thibaults eines Tages vielleicht zu wahrhaft schöpferischer Kraft entfaltet.

Autorisierte Übersetzung aus dem Französischen
Band I u. II:  von Eva Mertens
Band III u. Iv: von Frederick Lehner

Schutzumschlag: Lothar Reher
Einbandentwurf: Horst Hussel

Verlag Volk und Welt, Berlin
Reihe:
ex libris, Volk und Welt
2. Auflage 1979 (1. Auflage ex libris Volk und Welt)