04 November 2025

Johannes Bobrowski: Levins Mühle – 34 Sätze über meinen Großvater

 Klappentext:
Johannes Bobrowski dessen allzu  früher Tod am  2. September 1965 der deutschen Literatur einen ihrer großen Dichter entriß, war zuerst bekannt geworden durch seine Gedichte, die er in den Bänden »Sarmatische Zeit» und »Schattenland Ströme« veröffentlicht hatte. Das einhellige Urteil der Literaturkritik anerkannte Bobrowiki sogleich
Als einen der bedeutendsten deutschen Lyriker unterer Zeit – ein Urteil, das 1962 durch die Verleihung des österreichischen Alma-Johanna-Koenig-Preis sowie des Preises der westdeutschen Schriftstellervereinigung »Gruppe 47« bekräftigt wurde. Den  beiden  Gedichtbänden ließ der Autor 1964 seinen ersten, hier bereits im 21.–30. Tausend vor liegenden Roman folgen, der gleichzeitig als Lizenzausgabe im S. Fischer Verlag Frankfurt/Main erschienen und von dem Übersetzungen in der CSSR, in Polen, Ungarn, Frankreich, Italien, Spanien, Dänemark, Norwegen und Finnland in Vorbereitung sind.

Buchanfang:
1. KAPITEL
Es ist vielleicht falsch, wenn ich jetzt erzähle, wie mein Großvater die Mühle weggeschwemmt hat, aber vielleicht ist es auch nicht falsch. Auch wenn es auf die Familie zurückfällt. Ob etwas unanständig ist oder anständig, das kommt darauf an, wo man sich befindet – aber wo befinde ich mich? –, und mit dem Erzählen muß man einfach anfangen. Wenn man ganz genau weiß, was man erzählen will und wieviel davon, das ist, denke ich, nicht in Ordnung. Jedenfalls es führt zu nichts. Man muß anfangen, und man weiß natürlich, womit man anfängt, das weiß man schon, und mehr eigentlich nicht, nur der erste Satz, der ist noch zweifelhaft.
Also den ersten Satz.
Die Drewenz ist ein Nebenfluß in Polen.
Das ist der erste Satz. Und da höre ich gleich: Also war dein Großvater ein Pole. Und da sage ich: Nein, er war es nicht. Da sind, wie man sieht, schon Mißverständnisse möglich, und das ist nicht gut für den Anfang. Also einen neuen ersten Satz.
Am Unterlauf der Weichsel, an einem ihrer kleinen Nebenflüsse, gab es in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein überwiegend von Deutschen bewohntes Dorf.
Nun gut, das ist der erste Satz. Nun müßte man aber dazusetzen, daß es ein blühendes Dorf war mit großen Scheunen und festen Ställen und daß mancher Bauernhof dort, ich meine den eigentlichen Hof, den Platz zwischen Wohnhaus und Scheune, Kuhstall, Pferdestall und Keller und Speicher, so groß war, daß in anderen Gegenden ein halbes Dorf darauf hätte stehen können. Und ich müßte sagen, die dicksten Bauern waren Deutsche, die Polen im Dorf waren ärmer, wenn auch gewiß nicht ganz so arm wie in den polnischen Holzdörfern, die um das große Dorf herum lagen. Aber das sage ich nicht. Ich sage statt dessen: Die Deutschen hießen Kaminski, Tomaschewski und Kossakowski und die Polen Lebrecht und Germann. Und so ist es nämlich auch gewesen.
Nun steht noch an, glaubhaft zu machen, daß die Geschichte erzählt werden soll, weil es anständig ist, sie zu erzählen, und Familienrücksichten keine Rolle spielen. Ob es anständig ist, sagte ich vorhin, hängt davon ab, wo ich mich befinde, das muß ich also vorher noch feststellen, und dann muß ich die ganze Geschichte eben erzählen, sonst bekommt man kein Urteil darüber.
Feste Urteile hat man schon gern, und vielleicht ist es manch einem egal, woher er sie bekommt. mir ist es jetzt nicht egal, deshalb werde ich die Geschichte auch erzählen. Man soll sich den klaren Blick durch Sachkenntnis nicht trüben lassen, werden die Leute sagen, denen es gleich ist, woher ihre Urteile kommen, und das hat schon etwas für sich, die Kunst zum Beispiel wäre ohne dieses Prinzip nicht so heiter, wie Schiller sich das denkt, aber wir werden doch lieber Sachkenntnis aufwenden und genau sein, das heißt also, uns den klaren Blick trüben.
          Immer trübe, immer trübe,
          nur man ja kein' Sonnenschein,
hätte Prediger Feller gesungen, der Glaubensheld, doch das führt jetzt zu weit. Wir fischen hier im Trüben diesmal, wir fangen etwas, ohne vorgreifen zu wollen, etwas, was uns ganz wunderbar leicht eingeht, es sind ein paar Figuren dabei, von denen wenigstens eine ganz so schön aussicht wie wir, aber sicher noch ein paar mehr.
Ich sitze – das ist die Beantwortung der Frage: Wo befinde ich mich? – einige hundert Kilometer Luftlinie westlich von jenem Weichseldorf. Ich weiß nicht, ob es das Dorf noch gibt; es ist unerheblich. Die Leute von damals gibt es nicht mehr, nur uns, Enkel und Urenkel. Und es könnte ja sein, daß es völlig nutzlos wäre, die ganze Sache jetzt zu erzählen, genauso nutzlos, wie wenn ich sie damals meinem Großvater aufgetischt hätte – später, als er in Briesen saß und noch immer genug hatte, als alter Mann, dasaß in drei Zimmern und Küche, mit seiner Frau allein, mit den Kindern entzweit, die auch alle genug hatten für sich und ihrerseits die Entzweiung mit den Enkeln betrieben. Mit Erfolg, wie ich weiß. Und hier, wo die Einleitung zu Ende ist, abgeschlossen mit der Andeutung einer Besorgnis, ......

Ganzleinen mit illustriertem Schutzumschlag und bedrucktem Cellophanumschlag

Union Verlag, Berlin
1. Auflage 1964
2. Auflage 1965
3. Auflage 1965
4. Auflage 1966
5. Auflage 1967
6. Auflage 1969
7. Auflage 1980
8. Auflage 1990  

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Im gleichen Verlag
erschien 1975 eine
von Anatoli Lwowitsch Kaplan
illustrierte Ausgabe.








weitere Ausgaben

Einbandtext:
JOHANNES BOBROWSKI (1917-1965) sagte über diesen seinen Romanerstling:
Ich stamme aus einer Gegend, in der die Deutschen mit ihren Nachbarn durcheinander und miteinander gelebt haben, an der früheren deutschlitauischen Grenze. Ich habe einiges an Kenntnissen und Erfahrungen mitbringen können für dieses Thema, und sonst ist die Wahl dieses Themas so etwas wie eine Kriegsverletzung. Ich bin als Soldat der Wehrmacht in der Sowjetunion gewesen, Ich habe dort das noch vor Augen geführt bekommen, was ich historisch von der Auseinandersetzung des Deutschen Ritterordens mit den Volkern im Osten und von der preußischen Ostpolitik aus der Geschichte wußte. Ich habe nur wegen dieses Themas angefangen zu schreiben. Ich habe schreiben wollen seit etwa 41 und habe dann 51 damit angefangen. Dieses Thema betrachte ich als mein Thema, als ein Generalthema... Ich habe das versucht in Gedichten zu gestalten, und ich bin jetzt dazu übergegangen, das auch in der Prosa zu behandeln, in einer ganzen Reihe von Erzählungen und eben auch in diesem Roman...

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig
Reihe:
Reclams Universal-Bibliothek ; Bd. 501
1. Auflage 1971
2. Auflage 1981
3. Auflage 1988


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