18 Juni 2021

Grete Weil: Meine Schwester Antigone

Am Abend ihres Lebens von Schuldgefühlen und Angst bedrängt, ringt die Ich-Erzählerin in diesem Roman mit jener sagenhaften Gestalt aus der griechischen Mythologie, die ihr Schicksal durch eigenständiges Handeln selbst bestimmte: Antigone wußte, daß sie mit dem heimlichen Begräbnis des Bruders wider das Gesetz handelt und mit dem Tode bestraft wird. Dieser Mut, diese Kompromißlosigkeit fordern die alte Frau immer wieder dazu heraus, das eigene Leben nach versäumten Möglichkeiten des Widerstands zu befragen. Jahrzehnte nach dem Tod des geliebten Mannes, der den Faschisten zum Opfer fiel, lebt sie in ihrer Komfortwohnung, einsam und – vergessen? Als eine der wenigen davongekommenen Jüdinnen bemerkt sie mit gesteigerter Aufmerksamkeit, was in ihrem Lande an unheilvollen Entwicklungen vor sich geht. Ihre Angst vermehrt sich mit der Furcht vor dem Tod, und sie muß sich fragen, ob sie nicht umsonst überlebt hat. Antigones trotzigen Satz: »Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich« – kann sie ihn annehmen, gibt er ihr die Kraft, das Rechte zutun, wenn plötzlich ein junges Mädchen vor der Tür steht, das als »Sympathisantin« verfolgt wird?

Grete Weil, geboren 1906, jüdischer Herkunft, emigrierte mit ihrem Mann nach Holland. Im Gefolge der Kapitulation der Niederlande wurde ihr Mann im KZ Mauthausen ermordet. Grete Weil arbeitete im Jüdischen Rat und konnte später untertauchen. Sie lebt seit 1947 in Westdeutschland. Als Schriftstellerin mit der Erzählung »Ans Ende der Welt« (Verlag Volk und Welt, Berlin 1949) erstmalig hervorgetreten, begegnet sie dem Leser in ihrem neuen, autobiographischen Roman unmittelbar und glaubwürdig, indem sie ihre rückhaltlose Selbstbefragung mit einem authentischen Bericht und literarischer Erfindung kunstvoll verknüpft. Nicht allein die äußeren Fakten eines vielfach bedrohten Menschenlebens machen die Lektüre so nachhaltig: vor allem ist es die bohrende Frage nach dem Sinn des Opfermuts, nach Formen des Widerstands gegenüber unmenschlichen Gesetzen.

Verlag Volk und Welt, 1982
Spektrum Nr. 162

 

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