12 August 2021

Gabriel Chevallier: Cochemerle




 Mit Witz, Satire und Humor wird in diesem international erfolgreichen Roman das Leben und Treiben der Weinbauern eines südfranzösischen Dorfes charakterisiert. Am Bau einer Bedürfnisanstalt erhitzen sich die Gemüter, klerikale Reaktion ruft die liberalen Neuerer auf den Plan, und der schlaue Bürgermeister Piéchut avanciert dabei.

Heftanfang
Ein bedeutungsvolles Projekt
Im Oktober des Jahres 1922 schritten eines Nachmittags gegen fünf Uhr auf dem von wunderschönen Kastanienbäumen beschatteten Großen Platz von Chlochemerle im Beaujolais, dessen Mitte eine angeblich 1518 zu Ehren des ersten Besuchs der Anna von Beaujeu in dieser Gegend gepflanzte prachtvolle Linde zierte, zwei Männer Seite an Seite auf und ab. Sie gingen mit den gemächlichen Schritten von Landleuten, die immer für all und jedes Zeit zu haben scheinen; und was sie einander zu sagen hatten, war von so weittragender Bedeutung, daß es immer erst nach langem, vorbereitendem Schweigen ausgesprochen wurde und alle zwanzig Schritte nicht mehr als ein Satz zustande kam, der oft nur in einem einzigen Wort oder einem Ausruf bestand. Da jedoch beide Sprecher einander seit langem kannten, einträchtig gemeinsame Ziele verfolgten und sich mit sorgfältiger Erwägung wohldurchdachter Pläne beschäftigten, war sich jeder von beiden auch über die genaue Bedeutung solcher Ausrufe klar.
Im Augenblick ließen sich ihre Überlegungen deshalb so ernst und bedächtig an, weil sie politischer Art waren und einer Gegnerschaft Rechnung tragen mußten.
Der eine der beiden Männer hatte die Fünfzig überschritten, war groß und blond, mit rotem Gesicht, der Typus jener Burgunder, die sich einst im Rhônetal festgesetzt hatten. Das Lebendigste in seinem von Wind und Sonne verwitterten Gesicht waren zwei kleine hellgraue, ständig zwischen feinen Fältchen blinzelnde Augen, die ihm einen Ausdruck bald harter, bald herzlicher Schlauheit verliehen. Sein Mund, der über seinen Charakter das hätte verraten können, was sein Blick verschwieg, lag unter seinem herabhängenden Schnurrbart verborgen, aus dem das mehr gekaute als gerauchte, mehr nach Sud als nach Tabak riechende Rohr einer kurzen Pfeife hervorsah. Von Statur war er kräftig und stämmig, seine Beine waren lang und gerade, und eine Andeutung von Bauch schien mehr vom Mangel an Bewegung als von wirklicher Fettleibigkeit herzurühren. Obgleich er ohne besondere Sorgfalt gekleidet war, ließen seine bequemen, gewichsten Stiefel, der Stoff seines Anzuges und der an einem Wochentag zwanglos getragene Halskragen auf Wohlstand und bürgerliches Ansehen schließen. Seine Stimme sowohl wie seine sparsamen Gesten verrieten einen Mann, der sich Achtung zu verschaffen weiß...

Autor
Gabriel Chevallier wurde am 3. Mai 1895 in Lyon als Sohn eines Notars geboren. Er besuchte die Kunstschule in seiner Vaterstadt und war fünf Jahre Soldat. Danach arbeitete er als Handelsvertreter, Zeichner und Journalist, bevor er schließlich freischaffender Schriftsteller wurde. Seine ersten Romane – "Die Angst" (1930) und "Clarisse Vernon" (1933) – hatten wenig Erfolg. International bekannt wurde er, besonders nach der erfolgreichen Verfilmung, durch den in diesem Heft der Roman-Zeitung abgedruckten Roman "Clochemerle" (1934, dt. 1951), einer liebevoll-bissigen Satire auf das Leben und Treiben in einem südfranzösischen Weinbauernstädtchen. Weitere Clochemerle-Romane – "Clochemerle-Babylon" (1951), "Clochemerle wird Bad" (1963) und "Die Kehrseite von Clochemerle" (1966), die beiden ersten erschienen auch in der DDR – bilden weniger überzeugende Versuche, den gelungenen Wurf zu wiederholen. In deutscher Übersetzung kamen noch einige unterhaltende Bücher Chevalliers heraus: "Flegeljahre in Sainte Colline" (1937), "Traurige Scherben - lachende Erben" (1945), "Die Mädchen sind frei" (1960) und "Liebeskarussell" (1968). Gabriel Chevallier hat auch eine zweibändige Autobiographie unter dem Titel "Abgeklärte Erinnerungen" veröffentlicht. Er starb am 5. April 1969 in Cannes.

Verlag Volk und Welt, 1978
Roman-Zeitung 341 - 8/78

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