19 Juni 2023

Terje Stigen: Meine Marion

Ihre erste Begegnung an einem abseitigen Zufallsort verträgt keine Worte. Doch selbst aus dem Schweigen heraus spüren beide des anderen Argwohn, Abwehr, sogar Feindseligkeit. Denn Marion und Georg sind körperbehindert, vom Alleinsein, von oberflächlicher Anteilnahme zermürbt und überreizt. Verbittert haben sie sich bereits damit abgefunden zu verzichten – auf einen Partner, auf Familie, auf ein normales Leben. Und nichts fürchten sie mehr als Hoffnungen, die wieder mit Enttäuschung enden können. So beginnt diese überaus sensible und herbe Liebesgeschichte von Marion und Georg. Unsentimental erzählt der Autor vor allem von den psychischen Problemen der beiden jungen Menschen, die aus Selbsterhaltungstrieb und gegenseitiger Solidarität zueinanderfinden, die sich nicht aufgeben wollen, alle Kraft und Fähigkeiten aufwenden, um einen bescheidenen Anspruch darauf durchzusetzen, was sich hinter dem Begriff Glück an Lebenserwartung verbirgt. Sie müssen erfahren, daß Nachbarn auf ihre erotischen Beziehungen mit moralischer Entrüstung reagieren, daß Wohnungsofferten mit perversen Verpflichtungen verbunden sind, ihnen „Dreiecksverhältnisse“ zugemutet werden. Gefahr droht aber auch von ihrem geschwächten Selbstbewußtsein, vom ständig nagenden Zweifel, ob Liebe oder doch nur verhülltes Mitleid ihre kleine Gemeinschaft zusammenhält.

Buchanfang
Gestern abend gegen halb acht habe ich sie zum erstenmal gesehen. Sie lehnte an einem der Betonpfeiler, die das Dach des größten der drei Lagerhäuser unten am Kai tragen. Sie war lahm.
Jemandem, der nicht solch ein Gebrechen hat, wäre das unmöglich aufgefallen, aber ich kenne diese Stellung zu gut, um mich täuschen zu lassen, ich nehme sie selbst ein, wenn ich am Ende bin und mich ein paar Minuten ausruhen muß. In den ersten Monaten nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus stand ich oft so da. Jetzt kommt das seltener vor, und das ist gut; ich brauche diese kleine Finte nicht mehr, um mich unter anderen Leuten aufrecht zu halten, denn wie ich endlich begriffen habe, kriegen sie ja doch deutlich mit, daß ich beträchtlich hinke, sobald ich mich in Bewegung setze, und daß meine rechte Hand auf eine Weise lädiert ist, die sie untauglich macht, Zärtlichkeiten oder Schläge auszuteilen.
Ich stand völlig still, trotzdem mußte sie etwas gemerkt haben, denn plötzlich wandte sie mir das Gesicht zu, und erst da entdeckte ich, daß die linke Partie anders war als die rechte, gewissermaßen grindig und blauviolett wie von einer gutartigen Hautgeschwulst.

Übersetzt a. d. Norwegischen von Udo Birckholz
Schutzumschlag Dieter Heidenreich

Verlag Volk und Welt Berlin

1. Auflage 1982
2. Auflage 1985


Auch erschienen bei:
Verlag Volk und Welt, Berlin
1989 | Roman-Zeitung 477

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