21 Oktober 2022

Herbert Nachbar: Der Mond hat einen Hof

Wilhelm Stresow, der „Bootsmann“, ahnt noch nicht, welche Verwirrungen auf ihn warten, wie eng sein Schicksal sich mit Stines Schicksal verknüpfen wird. Und selbst wenn er etwas ahnte, selbst dann würde er nicht ausweichen. Und so ist er bald mitschuldig an dem Komplott, das Inspektor Bünning und Pastor Winkelmann gegen des Bootsmanns Freunde schmieden. Nichts weltbewegend Böses wollen die beiden, sie sind Menschen wie viele andere auch, und der Bootsmann fügt sich ihnen nicht ungern, als sie ihm Stine Wendland ins Haus geben wollen. Des Bootsmanns Frau ist krank. Inspektor Bünning kann ihm eine Vergünstigung beschaffen, die alle Sorgen für den Bootsmann auslöscht. Ein neues Haus will er bauen, Gemeindevorsteher will er werden – das Leben wird leichter für ihn sein. Aber er hat seine Freunde vergessen; er hat aufgehört, mit ihnen zu rechnen. Stine und alle Vergünstigungen bringen Verwirrung in sein Herz und sein Haus.

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ERSTER TEIL

Der Fluß durchzieht mooriges Land. Die Dämme, die ihn halten bei hohem Wasser, sind stellenweise mit Birken bewachsen, mit weißfleckig schimmernden Birken. Das Astwerk ist kahl und braun, grau ist das Gras über den Wurzeln. Der Fluß gurgelt dem Meer zu, dem Bodden. Wasser glitzert im Mond, ist gezeichnet von silbernen Spuren. Der Fluß, der von den Fischern bündig Tümpel genannt wird und eigentlich die Riecka heißt, stinkt. Er kommt von der Stadt und bringt viel Unrat mit, und der moorige Grund wirft Blasen nach oben.

Aber dann passiert er die holländische Holzbrücke, schleicht müde und träge am Dorf vorbei, geht ein in den großen Bodden, verliert so seine Selbständigkeit und ist nichts mehr, ist alles – hat mit einemmal die Weite gewonnen, ist stark geworden und mörderisch. Der Mond macht ihn ganz zu Silber und Ebenholz, kein Damm setzt ihm mehr Schranken.

Die Sonne liegt noch weit unter dem Horizont. Im Dorf glänzen frühe Lichter aus den Katen. Die Boote im kleinen Hafen reiben sich manchmal knarrend an den Pollern, an denen sie vertäut liegen. Wasser saugt schmatzend an Planken.

Und im Dorf ist kein Laut. Die Eichen, die vor Martin Bischs Krug seit undenklichen Zeiten stehen, scheinen Geheimnisse zu verbergen, die hölzernen Grabkreuze auf dem alten Friedhof unter der Kirche erzählen von all den vielen, die da waren und gegangen sind, von denen, die gingen und noch da sind. Die Fischer spucken dreimal gegen den Mond, wenn sie unabsichtlich so ein Kreuz oder gar den ganzen Friedhof zu sehen bekommen.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1959
bb-Reihe Nr. 31

 

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