31 Mai 2023

Gotthold Gloger: Berliner Guckkasten - Geschichten aus der Welt um Schinkel

Von Karl Friedrich Schinkel, dem großen Berliner Baumeister, dessen Gebäude das Gesicht der Stadt entscheidend prägten – von ihm und seiner Welt erzählt Gotthold Gloger in den Geschichten dieses mit Arbeiten Schinkels reich ausgestatteten Buches, und er entwirft ein Bild von dem Lande, das da „Preußen“ hieß, und von seinen Bewohnern, welche man die „Untertanen“ nannte. Es wird berichtet von Kammergerichtsrat Hoffmann und seinen bizarren Grotesken; von Friedrich Ludwig Jahn, der sich in seine Zelle einen Barren wünscht; von „Napoleum“, wie die Berliner den „großen Franzosen“ nannten; von der dritten Dampfmaschine in Berlin und von englischen Fabrikanten; von antiken Tempeln und von Windsorschlößchen; von einem Dorfkrug am Scharmützelsee; von einer kolossalen Schale aus Granit ...
Gotthold Gloger führt in das 19. Jahrhundert, und er erzählt farbig und interessant von bedeutenden Ereignissen, von großen Leistungen und den „kleinen Dingen am Rande“ ...

Buchanfang
Karl Friedrich Schinkel, die Hauptperson unserer Geschichten in diesem Buch, befand sich im Jahre 1804 – lange bevor er ein berühmter Baumeister der preußischen Residenz Berlin war – auf einer Reise durch Italien. Studienhalber. Wie er zogen damals viele deutsche Künstler über die Alpen nach Süden. Sie flohen aus bedrückenden Verhältnissen und aus engen Städten hin zu den Resten einer fast vergangenen Kultur, nach Rom. Und sie hofften, dort, zwischen zerfallenen Tempeln und Palästen, noch einen Hauch vom Geist, von der Kunst und Kultur der einstigen Metropole des Römischen Reiches zu spüren.
Ist es aber nur Schwärmerei, die so viele hierher treibt? Was verbirgt sich hinter diesen beschwerlichen, mühevollen Unternehmungen? Sehen wir uns das Land, aus dem die Reisenden kommen, und die Zeit, in der sie leben, einmal genauer an.
Das deutsche Reich verdiente seinen Namen schon längst nicht mehr; zwar deutsch, war es doch arg zersplittert und bestand nur noch aus Bistümern und Herzogtümern und Kurfürstentümern und Königreichen, und überall herrschte, eifrig auf seinen Besitz bedacht, ein Fürst. Es war die Zeit der ersten Ruhe nach den Stürmen der Französischen Revolution. Dort in Frankreich hatte sich ein entschlossenes Bürgertum, allen voran die Jakobiner, der Unterdrückung und Bevormundung durch den ersten Fürsten des Staates, König Ludwig XVI., mit Vehemenz entzogen und ihn kurz entschlossen auf die Guillotine gebracht. Frankreichs Fabrikanten standen endlich alle Wege offen. Niemand von Adel hatte mehr dreinzureden und Vorrechte für sich zu verlangen.
Und in Deutschland? Handel und Wandel wurden überall und auf mannigfache Weise erschwert.

Der Kinderbuchverlag Berlin

1. Auflage 1980
2. Auflage 1981
3. Auflage 1983
4. Auflage 1985

Fritz Martin Barber

Fritz Martin Barbers Vers ist aufmerksam für jene Erfahrungssituationen, in denen Vorurteile korrigiert, Verkrustungen aufgebrochen, Unbedenklichkeiten aufgeschreckt werden müssen. Einer pragmatischen unreflektierten, phantasie- und humorlosen Sinngebung des Lebens arbeiten die Gedichte gegen. Ob die lyrische Äußerung neuem Sinn zuarbeiten kann, wird nicht nur von der Aufnahmebereitschaft des Lesers, sondern von der je unterschiedlichen Bündigkeit der Gedankenführung eines Autors abhängen, der uns zu mehr Aufmerksamkeit gegenüber dem Leben einlädt.

Walfried Hartinger


Verlag Neues Leben Berlin
Poesiealbum 234
 

Sonnfried Streicher: 90 Tage im Korallenmeer - Stationen einer meeresbiologischen Expedition

Der Autor, Direktor des Meeresmuseums Stralsund, leitete eine fünfmonatige Fang- und Sammelreise in das Rote Meer. Es ging darum, umfangreiches Tiermaterial aus den Korallenriffen für den weiteren Aufbau der Museumsausstellungen und für die wissenschaftliche Auswertung zu sammeln.
Sonnfried Streicher berichtet in seinem Buch von seinen Reiseeindrücken und Taucherlebnissen. Er schildert die Arbeit und die Freizeitgestaltung an Bord, die Atmosphäre in fremden Häfen und Ländern, die Arbeit der Expeditionsgruppe und das bunte, vielgestaltige Leben im Korallenriff.
Im Mittelpunkt steht die Arbeit im Korallenmeer. „Ein Korallenriff kann man eigentlich nicht beschreiben“, zitiert der Autor den Forscher Ernst Haeckel. Und er macht kein Hehl daraus, daß alle Teilnehmer von der Schönheit und Vielfalt des Lebens im Korallenmeer so beeindruckt waren, daß sie anfangs sogar vergaßen, auf Gefahren zu achten.

Buchanfang
Eine Idee wird geboren

Wir stehen beieinander und schauen auf die bunte Welt des Korallenmeeres. Vor uns ziehen farbenprächtige Fische ihre Bahn. Da ist eine beeindruckende Vielfalt von Formen, Farben und Verhaltensweisen. Direkt vor uns tummeln sich zwischen den Fangarmen einer Riffanemone Clownfische, unbeeindruckt von unserer Nähe, zwei Kugelfische streiten sich um einen Futterbrocken, und auch den Rotfeuerfisch bringen scheuchende Handbewegungen nicht aus der Ruhe. Dagegen zieht sich der Schwarm Preußenfische erschreckt in das schützende Korallengeäst zurück, der Igelfisch pumpt sich voll Wasser, so daß er nunmehr als stachlige Kugel durch die Strömung treibt. Aus ihren Verstecken scheinen die leuchtend roten Juwelenbarsche fluchtbereit unsere Bewegungen zu verfolgen, während die Muräne in ihrer Höhle fast gelangweilt gähnt. Über den korallenweißen Boden ziehen mit wippenden Bewegungen skurril gezeichnete Lippfische dahin, kuscheln sich manchmal regelrecht in den Sand. Da stochern Wimpelfische mit ihren spitzen Schnauzen in den Spalten der Korallen herum, dort jagt der Kuhkopffisch den grellbunten Kaiserfisch aus seinem Revier. Um uns sind Leben, Bewegung und Farbe in fast unbeschreiblicher Schönheit, und doch ist das nur ein Bruchteil der Wirklichkeit. Denn zwischen uns und diesen Juwelen des Meeres befindet sich Glas – das dicke Glas der Aquarienbecken.

Wir haben Ende November. Gerhard, Karl-Heinz, Horst und ich begrüßen wieder einmal Jürgen, den Kapitän unseres Patenschiffes »Edgar André«, im Meeresmuseum Stralsund und zeigen ihm seine ehemaligen Schützlinge, wie sie sich gesund und munter in den vielen Becken des Schauaquariums tummeln.
Erst vor wenigen Tagen war ein Telegramm eingetroffen: »haben ca. 130 seebader drücker picassos schmetterlinge muränen zackenbarsche und andere korallenfische aus dem roten meer an bord + treffen sonntag ein + sofortige Abholung erforderlich + gruß kapitän«
Bereits zu Beginn der Rückreise hatte uns die Besatzung telegrafisch die guten Fangergebnisse mitgeteilt. Seitdem informierten wir uns ständig über die Schiffspositionen der »Edgar André«. Darum war in unserem Aquarium rechtzeitig alles auf den Empfang der Tiere eingestellt: die Transportbehälter standen bereit, die Sauerstoffflaschen waren gefüllt, in den Quarantänebecken zirkulierte seit Tagen frisches Seewasser, und die Medizin zur prophylaktischen Behandlung von Krankheiten war neu angesetzt worden.
Als wir an Bord der »Edgar André« kamen, war es wie immer. In der Kammer des Kapitäns herrschte Hochbetrieb, denn kaum war nach dem Anlegemanöver das Schiff zum Betreten freigegeben worden, strömten die Besucher über das Fallreep an Bord, viele von ihnen zum Kapitän. Und mitten in diesem Trubel wir mit unseren Plastefässern, Piathermkartons und Sauerstoffflaschen. Es blieb gerade so viel Zeit, daß wir den Kapitän herzlich willkommen heißen und fragen konnten: »Was habt ihr gefangen? Woher sind die Tiere? Wurden sie schon mit Medikamenten behandelt? Welche Tiere vertragen sich nicht miteinander? Nehmen sie alle Futter an? Was habt ihr gefüttert? In welchen Kammern stehen diesmal die Becken?«
Die Übernahme der Korallenfische ging schnell und ohne Komplikationen vonstatten. Es war eine phantastische Tiersendung. Diesmal wirkte das große Aquarium in der Offiziersmesse wie ein Stück lebendes Riff. ...


Hinstorff Verlag Rostock

1. Auflage 1980
2. Auflage 1982
3. Auflage 1984
4. Auflage 1989

30 Mai 2023

Heinrich Mann: Der Untertan

In wilder Begeisterung durchbricht ein junger Mann die Sperrkette der Polizisten und erreicht in eiligem Lauf auf Umwegen einen Reitweg im Berliner Tiergarten, wo er Seiner Majestät dem Kaiser von Angesicht zu Angesicht seine untertänigste Huldigung darbringen will. Doch der edle Vorsatz endet wenig erhaben: vor den Augen seines Herrschers fällt er längelang in eine Pfütze. Und so weiß Diederich Heßling, Student und trinkfestes Mitglied der Neuteutonen, zeit seines Lebens, was er Kaiser und Reich schuldig ist. Diederich Heßling steht für seine Klasse: ein weichlicher Mensch, dessen innere Unsicherheit mit forschem Auftreten und kalter Rücksichtslosigkeit überdeckt wird. Er ist stolz auf Macht, auch wenn sie ihn selbst unterdrückt. Um der Macht willen zerreißt er menschliche Bindungen, provoziert er, verleumdet er.

 

 

Umschlag Helmut Krebs

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1958
bb-Reihe Nr. 17/18

1. Auflage 1958 .......................................................................................................................................................................


Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig
Reclams Universal-Bibliothek ; Bd. 72 

Einbandtext (1986):
Heinrich Maman (1871–1950) schrieb: „Den Roman, des bürgerlichen Deutschen unter der Regierung Wilhelm II. dokumentierte ich seit 1906. Beendet habe ich die Handschrift 1914, zwei Monate vor Ausbruch des Krieges – der in dem Buch nahe und unausweichlich erscheint. Auch die deutsche Niederlage. Der Faschismus gleichfalls schon: wenn man die Gestalt des ‚Untertan’ nachträglich betrachtet.  Als ich sie aufstellte, fehlte mir von dem ungeborenen Faschismus der Begriff, und nur die Anschauung nicht. Mit dem Roman ‚Der Untertan’ kam ich früher als erlaubt. Er mußte die vier Kriegsjahre abwarten. Erst Ende 1918 konnte er gelesen werden, und wurde es wirklich: mit großem äußerem Erfolg bei allen Deutschen, denen der verlorene Krieg zuerst Bedenken über ihren Zustand aufdrängte.“ – Arnold Zweig würdigte den Roman mit den Worten: „Auf die beherrschten Schichten des deutschen Volkes blickten damals viele Könner des Wortes, mehr oder weniger mit der Fähigkeit begabt, das Wahrheitsgetreue zu sehen und zu zeichnen. Die führende Klasse aber sah und maß von der Helmspitze bis zur Schuhsohle kaum einer so unerbittlich wie der Dichter dieses Buches ‚Der Untertan’."

1. Auflage 1956 / RUB Nr 8148/52     ||     14. Auflage 1970
2. Auflage 1957 / RUB Nr 8148/52     ||     15. Auflage 1971
3. Auflage 1958 / RUB Nr 8148/52     ||     16. Auflage 1972
4. Auflage 1959 / RUB Nr 8148/52     ||     17. Auflage 1973
5. Auflage 1960 / RUB Nr 8148/52     ||     18. Auflage 1974
6. Auflage 19??                                   ||     19. Auflage 1975
7. Auflage 19??                                   ||     20. Auflage 1976
8. Auflage 1963                                   ||     21. Auflage 1978
9. Auflage 1965 / RUB Bd. 72             ||     22. Auflage 1979
10. Auflage 1965                                 ||     23. Auflage 1980
11. Auflage 1967                                 ||     24. Auflage 1983
12. Auflage 19??                                 ||     25. Auflage 1986
13. Auflage 1969                                 ||     26. Auflage 1989

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Der Untertan - aus dem Roman


Volk und Wissen Verlags GmbH, Berlin/Leipzig

Volk und Wissen Sammelbücherei
- Gruppe 1: Dichtung und Wahrheit
- Serie H: Aus guten Büchern
- Band 1

Titelbild von Hans Baltzer

1. Auflage 1946 / 1.-100. Tausend

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Bibliothek der Weltliteratur [BDW]
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
Mit einem Nachwort von Manfred Hahn

1. Auflage 1969
2. Auflage 1971
3. Auflage 1974
4. Auflage 1976
5. Auflage 1979

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Weitere Ausgaben im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar

1. Auflage 1946 - 1.-12. Tsd.
2. Auflage 19?? - 13.-22. Tsd.
3. Auflage 1947 - 23.-32. Tsd.
4. Auflage 19??
5. Auflage 1949 / Ill. von Martin Hänisch
6. Auflage 1950 - 64.-83. Tsd. / Ill. von Martin Hänisch / 8,40
7. Auflage 1951 / Ausgewählte Werke in Einzelausgaben ; Bd. 4
8. Auflage 1951 / Ausgewählte Werke in Einzelausgaben ; Bd. 4
9. Auflage 1952 / Ausgewählte Werke in Einzelausgaben ; Bd. 4
10. Auflage 1953 / Ausgewählte Werke in Einzelausgaben ; Bd. 4
11. Auflage 19?? / Ausgewählte Werke in Einzelausgaben ; Bd. 4
12. Auflage 1954 / Ausgewählte Werke in Einzelausgaben ; Bd. 4
13. Auflage 1955 / Ausgewählte Werke in Einzelausgaben ; Bd. 4
14. Auflage 1956
15. Auflage 1958
16. Auflage 19??
17. Auflage 1960
18. Auflage 19??
19. Auflage 1962

Heinrich Mann: Gesammelte Werke; Band 7
1. Auflage 1965
2. Auflage 1967

Auch erschienen bei:

Buchclub 65 - Berechtigte Ausgabe
  1. Auflage 1969

Bibliothek fortschrittlicher deutscher Schriftsteller
  Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin;Leipzig
  (Lizenzausgabe des Aufbau-Verlag, Berlin)
  1. Auflage 1950 



Rainer Maria Rilke

Die Erscheinung des Künstlers Rilke wird der Mit- und Nachwelt immer bedeutender werden ... Die Wende des 19. aufs 20. Jahrhundert hat in der Weltliteratur wenige Schöpfer von seinem Rang hervorgebracht.

Louis Fürnberg


Rainer Maria Rilke war schlecht für diese Zeit geeignet. Dieser große Lyriker hat nichts getan, als daß er das deutsche Gedicht zum erstenmal vollkommen gemacht hat; er war kein Gipfel dieser Zeit, er war eine der Erhöhungen, auf welchen das Schicksal des Geistes über Zeiten wegschreitet ... Er gehört zu den Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages.

Robert Musil
 

Verlag Neues Leben Berlin
Poesiealbum 190

Bernd Rohr / Günter Simon: Lexikon Fußball

3500 Stichwörter
800 Abbildungen (200 in Farbe)
400 Geschichtsdaten
zahlreiche Tabellen
Fachbegriffe
Funktionäre
Fußballtragödien
Journalisten
Klubs
Meisterschaften
Organisationen
Pokalwettbewerbe
Regelwerk
Reporter
Sachbegriffe
Schiedsrichter
Spieler
Stadien
Taktik
Technik
Trainer
Trivialbegriffe
Turniere
Verbände
Verletzungen

VEB Bibliographisches Institut Leipzig

1. Auflage 1987
Nachdruck der 1. Auflage 1988 
 

27 Mai 2023

Stefan Heym: Der König David Bericht

Stefan Heym (geb. 1913). „Der König David Bericht“ (zuerst 1973) ist ein Buch über die Schwierigkeit, die historische Wahrheit zu finden und sie dann auch auszusprechen. Der Gelehrte Ethan erhält von Salomo den Auftrag, die „positive“ Geschichte des biblischen Königs David zu formulieren. Ethan kann sich dem nicht entziehen: „Mit einigem Glück und mit der Hilfe unseres Herrn Jahweh mochte es mir sogar gelingen, ein Wörtchen hier und eine Zeile dort in den König-David-Bericht einzufügen, aus denen spätere Generationen ersehen würden, was wirklich in diesen Jahren geschah und welch ein Mensch David, Jesses Sohn, gewesen: der zu ein und derselben Zeit einem König und des Königs Sohn und des Königs Tochter als Hure diente, der als Söldling gegen sein eignes Volk focht, der den eignen Sohn töten und seine treuesten Diener umbringen ließ, ihren Tod aber laut beweinte, und der einen Haufen elender Bauern und widerspenstiger Nomaden zu einer Nation zusammenschweißte.“ Ethan überschreitet die Grenzen des Erlaubten, als er beginnt, diese Wahrheit aufzuschreiben. Seine Strafe: Das „Totgeschwiegenwerden“.


Buchanfang
Gepriesen sei der Name des Herrn, unsres Gottes, der dem einen Weisheit verleiht, dem andern Reichtum, dem dritten aber soldatische Tugenden.
Ich, Ethan, der Sohn des Hoshaja, aus der Stadt Esrah, ward heute zu König Salomo bestellt. Die königlichen Schreiber Elihoreph und Ahija, die Söhne Shishas, führten mich in seine Gegenwart; und ich fand allda den Kanzler Josaphat ben Ahilud, den Priester Zadok, den Propheten Nathan und Benaja ben Jehojada, der über das Heer gebietet.
Und ich warf mich dem König zu Füßen, und er befahl mir, mich zu erheben. So geschah es, daß ich den König Salomo sah wie ein Mensch den andern, von Angesicht zu Angesicht; und ob er gleich auf seinem Thron saß zwischen den Cherubim, erschien er mir von geringerer Statur, als ich ihm zugemessen, kleiner noch als sein verstorbener Vater, König David; seine Haut aber war von gelblicher Farbe. Und der König musterte mich mit stechendem Blick und sprach: „Du also bist Ethan ben Hoshaja, aus der Stadt Esrah?“
„Der bin ich, Herr König. Und Euer Diener.“ Ich höre, es heißt von Dan an bis gen Beer-sheba, du seiest einer der Weisesten in Israel?“
Ich aber erwiderte ihm: „Wer kann von sich sagen, er sei weiser als der Weiseste der Könige, Salomo?“
Worauf er die feingeschnittenen Lippen verdrossen schürzte und sprach: „Ich will dir den Traum erzählen, Ethan, den ich neulich nachts träumte, nachdem ich Opfer dargebracht und Weihrauch verbrannt auf der Höhe zu Gibeon.“ Und sich dem Kanzler Josaphat ben Ahilud zuwendend und den Schreibern Elihoreph und Ahija, den Söhnen Shishas: „Merkt euch den Traum, denn er wird in die Annalen aufgenommen.“
Da zogen die Brüder Elihoreph und Ahija Griffel und Wachstäfelchen aus ihren Gewändern und harrten der königlichen Worte, zwecks Niederschrift. Dies aber ist der Traum des Königs Salomo. „Zu Gibeon des Nachts erschien mir Gott, und Jahweh sprach: Bitte, was ich dir geben soll. Und ich sprach: Du hast an meinem Vater David, deinem ...


Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig
Reclams Universal-Bibliothek, Band 1320
Belletristik

Martin Luther

Er war zugleich ein träumerischer Mystiker und ein praktischer Mann der Tat. Seine Gedanken hatten nicht bloß Flügel, sondern auch Hände; er sprach und handelte. Er war nicht bloß die Zunge, sondern auch das Schwert seiner Zeit. ... Derselbe Mann, der wie ein Fischweib schimpfen konnte, er konnte auch weich sein wie eine zarte Jungfrau. ... Er war ein kompletter Mensch, ich möchte sagen ein absoluter Mensch, in welchem Geist und Materie nicht getrennt sind.

Heinrich Heine


Luther fegte nicht nur den Augiasstall der Kirche, sondern auch den der deutschen Sprache aus, schuf die moderne deutsche Prosa und dichtete Text und Melodie jenes siegesgewissen Chorals, der die Marseillaise des 16. Jahrhunderts wurde.

Friedrich Engels


Verlag Neues Leben Berlin
Poesiealbum 184 

Viktor Astafjew: Das Pferd mit der rosa Mähne

Ein Pfefferkuchenpferd will Großmutter dem Vitka aus der Stadt mitbringen. Ein schneeweißes Pferd mit rosa Mähne, Traum aller Dorfkinder. Als Gegenleistung verlangt sie einen vollen Korb selbstgepflückter Waldbeeren. Den zu füllen kostet Mühe, doch Vitka schafft's. Und dann ißt er sie mir nichts, dir nichts alle auf, bloß weil dieser verdammte Sanka ihm das Pferd nicht gönnt. Verpfuscht... Kann ihn die Großmutter etwa für einen leeren Korb belohnen?
Vierzehn Erzählungen des bekannten sowjetischen Autors Viktor Astafjew vereinigt dieser Band. Astafjew schreibt über seine Heimat Sibirien, über die ferne Kindheit, die trotz des frühen Todes der Mutter eine „helle, schöne, glückliche Zeit“ war.

Buchanfang
Der Wassjutka-See

Diesen See sucht mal auf der Karte! Er ist klein, wirklich klein, aber für Wassjutka beachtlich. Na klar! Ist es doch für einen Dreizehnjährigen eine große Ehre, wenn ein See seinen Namen trägt! Gegen den riesigen Baikal ist er natürlich nichts weiter, aber Wassjutka hat ihn entdeckt und den Menschen gezeigt. Ja, wundert euch nicht, und denkt nicht etwa, alle Seen sind schon benannt und jeder hat seine Bezeichnung. In unserm Land gibt es noch viele, sehr viele namenlose Seen und Flüsse, denn unsere Heimat ist groß, und wie weit ihr sie auch durchstreift, immer wieder findet sich Neues, Sehenswertes.
Die Fischer aus der Brigade von Grigori Afanassjewitsch Schadrin – so hieß Wassjutkas Vater ließen schon bald die Köpfe hängen. Der anhaltende Herbstregen hatte den Fluß aufgeschwemmt, sein Wasser war gestiegen, und um den Fang war es schlecht bestellt – der Fisch hatte sich ins Tiefe verzogen.
Kalter Rauhreif und dunkle Wellen auf dem Fluß verströmten Trübsal. Keiner hatte mehr Lust, ins Freie zu gehen, und schon gar nicht, mit dem Boot hinauszufahren. Die Fischer wurden schlafmützig und träge vom Nichtstun, hörten sogar auf zu flachsen. Da blies plötzlich ein warmer Südwind und glättete die Gesichter. Mit vollen Segeln glitten die Boote den Fluß entlang. Immer weiter den Jenissej hinab zog die Brigade. Der Fang aber blieb kärglich.
„Es flutscht einfach nicht mehr“, murrte Wassjutkas Großvater Afanassi. „Verarmt ist Väterchen Jenissej. Früher ließen wir den lieben Gott einen guten Mann sein, und der Fisch kam in Scharen. Jetzt aber haben Dampfer und Motorboote alles Lebendige verschreckt. Wir erleben's noch, daß sogar Kaulbarsche und Gründlinge zur Seltenheit werden, von Renk, Sterlet und Stör aber wird man nur noch in Büchern lesen.“
Mit Großvater war nicht zu streiten, also legte sich keiner mit ihm an. Weit fuhren die Fischer den Jenissej hinab, ehe sie haltmachten.
Sie zogen die Boote an Land und trugen das Gepäck in eine kleine Hütte, die vor einigen Jahren Forschungsreisende errichtet hatten.
Grigori Afanassjewitsch ging in hohen Gummistiefeln mit umgekrempelten Schäften und einem grauen Regenmantel am Ufer hin und her und traf seine Anordnungen.

Inhalt
Der Wassjutka-See ........ 5
Girmantscha findet Freunde ........ 31
Die Großmutter mit den Himbeeren ........ 44
Der Bandit ........ 49
Warum habe ich den Wachtelkönig getötet? ........ 53
Die Auerhenne ........ 55
Das Uferschwälbchen Zip ........ 57
Weißbrüstchen ........ 64
Die Gänse im Eisloch ........ 68
Ein Duft von Heu ........ 75
Das Pferd mit der rosa Mähne ........ 89
Der Mönch in neuen Hosen ........ 107
Freud und Leid im Herbst ........ 140
Das Foto, auf dem ich fehle ........ 152


Illustrationen von Sabine Kahane
Für Leser von 10 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin

1. Auflage 1979

26 Mai 2023

Liesl Richter, Christine Klemke: Naseweis trifft Blütenweiß

Ich haiße Naseweis
Ich wohne an einem Spielzeugschrank. Dieser Spielzeugschrank gehört einem Jungen. Der Junge heißt Fridolin.

Fridolins Oma, Oma Annemarie, hat sich ein Bein gebrochen. Doktor Fabian hat ihr ein Reservebein geknetet: dick, weiß, steif.
Es heißt Gipsbein. Oma Annemarie darf damit nicht laufen. Sie sitzt und liegt und liegt und sitzt. Und weil den Erwachsenen das Stillsitzen viel, viel schwerer fällt als den Kindern, fuchtelt sie dauernd mit den Armen herum. Pick-pick, nick- nick, pick-pick, nick-nick..., geht es den lieben langen Tag.
Oma Annemarie strickt.
Der Winter und Fridolins Geburtstag stehen vor der Tür, und Oma Annemarie sitzt dahinter und strickt.
Pick-pick, nick-nick, soll ein kuscheliger Wollschal werden. Ein Wollschal, in den sich Fridolin vom Scheitel bis zur Sohle einwickeln kann. Anders ist das nicht denkbar, denn der Schal schlängelt sich schon durch die halbe Stube, und Oma Annemarie will ihr Stricknadelkonzert weiterspielen. Doch sie kann nicht!
Sie kann nicht, weil sich aus Luft kein Schal stricken läßt und die Wolle zu Ende ging. Oma Annemarie braucht Wolle, aber keiner findet Zeit, Wolle zu holen. Oma Annemarie murrt. Und wenn sie murrt, murrt die ganze Familie. Alle sind miteinander vermurrt.
Ob ich mich auf die Naseweis-Socken mache?

Aus dem Buch
Zu Hause angekommen, halte ich eine neugierige Naseweis-Herumschaue und traue meinen Augen nicht.
Nirgendwo sitzt Oma Annemarie. Ist sie Wolle holen gehumpelt?
Nein! Oma Annemarie brutzelt in der Küche herum.
Auf Fridolins Tisch liegt, zu einem himmelblauen Wollberg zusammengefaltet, der Wollschal. Ich überlege: Könnte es sein, daß Fridolin heute Geburtstag hat?
Ich setze meine neue Mütze zurecht, werfe mir das Seidenhemd um, das mir der gute Geist als allerallerletzten usbekischen Gruß in den Baumwollwaggon schob, zupfe aus dem Baumwollballen flauschige Flocken, damit eine große weiße Wolke auf dem Geburtstagstisch entsteht, und stelle mich – als wäre gar nichts gewesen – an den Spielzeugschrank.
Fridolin tobt durch die Stuben...
Alle Fenster stehen offen.
Der Wind tobt mit.
Holla!
Die weiße Wolke schwebt vom Geburtstagstisch. Sie verteilt ihre flauschigen Flocken auf den kahlen Ästen des Ahorns, der vor unserem Haus steht.
Die Familie setzt sich an den Geburtstagstisch. Fridolin schielt nach den Geschenken.
Erstrahlt. Er strahlt Oma an. Und mich auch.
»Ihr habt den Naseweis aber festlich herausgeputzt«, sagt er anerkennend und wickelt sich dabei in seinen neuen Schal.
Oma Annemarie, die kein Gipsbein mehr hat, ist wieder in Form. »Bloß gut«, betont sie, »daß ich den Schal noch fertigbekommen habe. Schaut hinaus, es hat schon das erste Mal geschneit!«
Alle bestaunen die Flocken.
»Geburtstagsschnee!« kommentiert Fridolin und stößt seinen Löffel halbverhungert in den Schlagsahneberg.
Wie schnell sich doch auch Erwachsene täuschen lassen!


Erzählt von Liesl Richter und illustriert von Christine Klemke
Für Kinder von 6 Jahren an

Buchverlag Junge Welt

1. Auflage 1987
2. Auflage 1988
3. veränd. Auflage 1991

Graham Greene: Der menschliche Faktor

In der Londoner Zentrale des Secret Intelligence Service gibt es eine undichte Stelle. Noch ahnt niemand, daß Maurice Castle, seit über dreißig Jahren Mitarbeiter der Sektion Afrika, Informationen an den sowjetischen Sicherheitsdienst weiterleitet. Erst als ein unschuldiger Mitarbeiter Castles auf stille Art beseitigt wird, begreift er die Tragweite seines Handelns und beschließt, sofort auszusteigen. Doch als ihm das Projekt »Onkel Remus« bekannt wird, verrät er dieses teuflische Komplott umgehend an die sowjetische Aufklärung und trifft damit die konsequenteste Entscheidung seines Lebens. Was zuvor aus individueller Dankbarkeit gegenüber einem südafrikanischen Kommunisten geschah, der Castles schwarzhäutige Geliebte unter Einsatz des eigenen Lebens außer Landes brachte, wird jetzt zu einem verantwortungsbewußten politischen Willensakt. Er gerät in tödliche Bedrängnis, aus der ihn nur eine gewagte Aktion zu befreien vermag.

Über den Autor
Der »menschliche Faktor«, im Kontext mit der Arbeit der im Dunkel wirkenden Geheimdienste gesehen, ist auf den ersten Blick ein für Graham Greene typisches Paradoxon, das sich im Verlauf der Handlung dieses spannungsvollen, realistischen Romans als so paradox nicht erweist. Der menschliche Faktor: Das ist der Held dieses Buches, Maurice Castle, der als loyaler britischer Secret-Service-Experte mit den Apartheidgesetzen Südafrikas in Konflikt gerät; das ist der südafrikanische Kommunist Carson, der sein Leben bedenkenlos für andere einsetzt; das ist Boris, ein polnischer Aufklärer mit Herz und Verständnis. Der menschliche Faktor: Das ist für Graham Greene – wie aus allen seinen »Brennpunktromanen« ersichtlich die lebensbejahende Aktion, das selbstlose, verantwortungsbewußte Eintreten für den Nächsten; das ist sein unaufhörliches Bemühen, den »Zwiespalt der Seele« zu ergründen und zur Überwindung ideologischer und religiöser Schranken beizutragen. Bereits in seinem Vietnamroman »Der stille Amerikaner« (1955) hatte der Autor die gültige Maxime formuliert: »Früher oder später muß man Partei ergreifen, wenn man ein Mensch bleiben will.« Maurice Castle entscheidet sich für die Menschlichkeit, um sich selbst treu zu bleiben und um der ausgleichenden Gerechtigkeit willen angesichts eines verderbenbringenden imperialistischen Komplotts. Dabei ist seine Parteinahme für den »Kommunismus« keineswegs frei von Vorurteilen, wie die des Autors selbst. Aber Greenes Schlüsselthemen sind nicht auf den Ideologien an sich gegründet, sondern sie sind geprägt von der Ambivalenz des Lebens, von dem moralischen Konflikt zwischen Loyalität und Integrität, Überzeugung und Notwendigkeit, Schuld und Wiedergutmachung, Widersinn und Vernunft. Seine Helden sind stets Täter und Opfer zugleich. Auf seiner jahrzehntelangen Suche nach dem »menschlichen Faktor« im Leben hat er die Faszination der kommunistischen Idee erkannt und bewertet sie als hoffnungsverheißende Alternative für eine vom Zusammenbruch bedrohte Welt.


Aus dem Englischen von Luise Wasserthal-Zuccari und Hans W. Polak
Einbandentwurf: Gudrun Olthoff

Verlag Volk und Welt, Berlin

1. Auflage 1986
2. Auflage 1987
3. Auflage 1989

Eberhard Panitz: Der Weg zum Rio Grande - Ein biographischer Bericht über Tamara Bunke



Diese Chronik berichtet über das Leben Tamara Bunkes von 1937 - 1967 als Schülerin, Studentin, Dolmetscherin, Übersetzerin, als Journalistin, Milizionärin, Organisatorin, Völkerkundlerin, Fremdsprachenlehrerin, Aufklärerin und Partisanin; sie zeigt sie als die Frau, die Genossin, den revolutionären Menschen und würdigt das Leben und Wirken Tanjas, der in Südamerika geborenen, in der DDR aufgewachsenen Revolutionärin, die an der Seite Che Guevaras kämpfte und am Rio Grande fiel.
Die bewaffnete Auseinandersetzung, der sich Tanja anschloß, spielt ohne Zweifel in der national-revolutionären Befreiungsbewegung der lateinamerikanischen Völker eine bedeutende Rolle und hat dort tiefe traditionelle Wurzeln. Aber die Revolution kommt nicht "aus dem Gewehr", Erfolge haben bewaffnete Aktionen nur dort, wo sie Teil der Befreiungsbewegung des ganzen Volkes sind. Der biographische Bericht vermittelt Einblick in einen Abschnitt des heldenhaften Kampfes der Revolutionäre Lateinamerikas.


Buchbeginn

Am 24. Juli 1961 stand Tamara Bunke auf dem Flugplatz von Havanna und begrüßte mich mit etwas rauher Stimme in einwandfreiem Deutsch. Sie war mittelgroß, schlank, blond, trug eine kubanische Milizuniform - hellblaues Hemd, dunkelblaue Hose, Koppel, Schirmmütze - und erledigte für mich die Einreiseformalitäten im Handumdrehen. Mein Koffer war schon verschwunden, vor dem Flughafengebäude stand ein amerikanischer Straßenkreuzer, und in rasender Fahrt ging es zum Hotel "Riviera". Dort, im Foyer, drängten sich Ausländer um einen jungen kubanischen Armeeoffizier in olivfarbener Uniform, sie drückten ihm die Hand und riefen: "Comandante, Comandante!" Während ich meinen Koffer suchte, der aber schon vorm Fahrstuhl stand, ging Tamara zu dem Offizier, unterhielt sich mit ihm, erklärte mir dann: "Das ist Raúl Castro, Fidels Bruder, wir werden ihn in Santiago treffen, ich organisiere das."...

Verlag Neues Leben Berlin, 1973
Der Autor stützt sich bei seinem Bericht auf die Dokumentation "Tanja, la guerrillera inolvidable", Havanna 1970.

Die deutsche Übersetzung erschien 1973 im Militärverlag der DDR unter dem Titel "Tanja, la guerrillera". 

25 Mai 2023

Hansgeorg Stengel: Strophe muß sein!

Der perfekte Poet

Man müßte eine Maschine erfinden,
ein Supergehirn für den Dichtersmann,
das Wörter und Verse zu Strophen verbinden -
kurz: eine Maschine, die dichten kann.

Ein Inland-Komputer genügte mitnichten.
Es muß ein Produkt der Exportserie sein,
muß groß und gediegen wie Hölderlin dichten
und nicht wie ich selber. Das schaff ich allein...


Eulenspiegel Verlag Berlin
1. Auflage 1977
Illustrationen: Lothar Otto
 

Renate Seydel (Hrsg.): Schauspieler erzählen über sich und andere

Künstlermemoiren sind Persönlichkeitserinnerungen, sind Bemühungen, das Leben zu beschreiben, darzustellen, wie es wirklich war, nicht, wie man es rückschauend gerne sieht. Theater ist Sinnbild der Vergänglichkeit. Eine Theateraufführung gefällt – verfällt – zerfällt. Auch die an ihr Beteiligten sterben. Nichts bleibt übrig als die Erinnerung der Zuschauer. Alles, was da war und lebte, ist vergangen.
Warum schreiben Schauspieler über ihr Leben? Über ihre Arbeit, Triumphe und Fehlschläge? Über Kollegen, Regisseure, Proben, über ihre Ausbildung und über das Publikum, für das alles gemacht ist? Schauspieler gelten als eitel. Ich habe mich bemüht, nichts Eitles und nichts Geschwätziges auszuwählen. Ich habe versucht, Schauspieler zum Schreiben zu bringen. Über sich. Und das ist nicht leicht.

Renate Seydel



Buchanfang
Josef Kainz
Erster Held
und jugendlicher Liebhaber

Wieder einmal unter Menschen sein...
Marburg 16. 10. 1875
Ich bin jetzt der Tonangebende, ganz Marburg kennt mich schon. Ich habe aber auch, solange ich beim Theater bin, noch nie so gut ausgesehen wie gestern. Der Obergarderobier wurde bald rasend vor Entzücken. »Herr Direktor!« rief er einmal ums anderemal, »das ist ein jugendlicher Held! Was? Sehen Sie, so stelle ich den jugendlichen Helden her!« Ich kann mich aber auch nicht genug verwundern über die Pracht der Kostüme und über deren minutiöse Richtigkeit. Ich hatte im ersten Akt ein ganz neues wunderbares lila Samtwams, mit großen Stahlsternen ganz benäht, darüber einen blausamtenen Überwurf mit Silber- und Stahlketten behängt und weit ausgeschnitten, einen rundgebrannten Kopf mit Schmachtlocken, graues Trikot und meine Streitschuhe. Im letzten Akt hatte ich ein prachtvolles Goldschuppen-Trikot, einen wunderbaren Goldharnisch, der mir wie angegossen saß, darüber ein schwarzes, weit ausgeschnittenes Samtwams mit Silber. Dazu ein prachtvolles Schwert in schwarzer Samtscheide und einen zierlichen Messinghelm mit wirklich zwanzig großen wallenden Straußenfedern. Dazu goldene Sporen. Ob ich so gut gespielt habe wie ich gut ausgesehen, bezweifle ich. Das Publikum scheint hier an nicht viel Gutes gewöhnt zu sein. Denn ich glaube kaum, daß man mit einer so großen Rolle, die man in nicht ganz zwei Tagen lernt und studiert und mit einer Probe vor einem kunstverständigen Publikum durchschlagen kann. Ich muß mich sehr in acht nehmen, daß ich mir keine Unarten angewöhne und nicht zu »arrogant werde«; denn ausgebessert wird mir hier nichts mehr werden. Der Direktor sagte mir sogar, ich sollte bei der Probe nur markieren. Aber das tu' ich nicht, ich gewöhnte mir das zu leicht an, daß ich's am Ende bei der Vorstellung dann auch machte. Ich bin auf die Rezension begierig, der Rezensent soll sehr bissig sein. Wie sie herauskommt, werde ich sie Euch schicken...

Es erzählen:
Josef Kainz | Eduard von Winterstein | Ernst Legal | Max Reinhardt | Tilly Wedekind | Alexander Granach | Fritz Kortner | Gerhard Bienert | Lilli Palmer | Gustav Knuth | Wolfgang Heinz | Hubert von Meyerinck | Elisabeth Flickenschildt | Hans Söhnker | Marlene Dietrich | Willi Schwabe | Gisela May | Käthe Reichel | Alexander Lang

Gekürzte Ausgabe des in 2. Auflage 1978 im Henschelverlag erschienenen Buches »...gelebt für alle Zeiten«

Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin

1. Auflage 1980
2. Auflage 1981

Nina Hager: Der Traum vom Kosmos: philosophische Überlegungen zur Raumfahrt

Zuerst war nur das Chaos und die Nacht da und der finstere Erebos und der weite Tartaros, aber Erde, Luft und Himmel gab es noch nicht. In den grenzenlosen Klüften des Erebos aber gebiert zuerst die schwarzgeflügelte Nacht ein Windei. Welch einen Weg hat die Menschheit seit diesen kosmogonischen Vorstellungen, artikuliert von Aristophanes vor 2700 Jahren, bis zu der Auffassung, der Mensch könnte eines Tages zum Faktor der Evolution des Universums, gewissermaßen zum "homo cosmicus" oder gar "homo galacticus" werden, zurückgelegt!
Inzwischen umrundeten Sputnik 1 und Juri Gagarin die Erde, landeten Armstrong und Aldrin auf dem Mond, fungieren langlebige Orbitalkomplexe als Forschungslaboratorien, ist der Nutzen der Raumfahrt für friedliche Zwecke vielfältig und übersteigt heute bereits die Aufwendungen. Gleichzeitig steht vor der Menschheit die Gefahr einer Militarisierung des Kosmos. Wie bewerten Marxisten diese Prozesse, und wie stehen sie zu solchen Aussagen wie der von Max Born, daß die Raumfahrt ein Triumph des Verstandes, aber ein tragisches Versagen der Vernunft sei, oder zu der von Lewis Mumford, daß mit der Weltraumforschung der traditionelle Feind Gottes und der Menschen in nachfaustischer Form bereits wiedererstanden sei?
Inwieweit müssen wir angesichts der sich mit der Raumfahrt vollziehenden Prozesse philosophische Aussagen über die Stellung des Menschen in der Welt präzisieren und darüber nachdenken, welche Rückwirkungen sich aus der Raumfahrt für die gesellschaftliche, wissenschaftliche und technische Entwicklung ergeben?


Dr. sc. phil. Nina Hager wurde 1950 in Berlin geboren. Nach dem Abitur 1969 studierte sie bis 1973 an der Humboldt-Universität zu Berlin Physik. Nach Abschluß des Studiums als Diplomphysiker ging sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Dort promovierte sie 1976 mit einer Arbeit zu "Philosophischen Fragen der Modellproblematik am Beispiel der Festkörperphysik", ihre Dissertation B, die sie 1987 verteidigte, trug den Titel "Mensch und Kosmos in der wissenschaftlich-technischen Revolution"...

Dietz Verlag Berlin
1. Auflage 1988
Philosophische Positionen

 

24 Mai 2023

Ilja Ehrenburg: Und sie bewegt sich doch!

„Ich kramte in alten Büchern und Handschriften herum ... Mein Leben verstrich zwischen Künstlerkneipe und mittelalterlichem Kloster. Mehr als alles Lebendige liebte ich einen toten Gott. Vollgesogen mit Staub und Weihrauch, ging ich langsam dem Ende entgegen. Wahrscheinlich wäre ich gestorben. Es begann jedoch der Krieg. Aus der ersten Blutlache erhob sich die Gerechtigkeit und zog die Schönheit zur Verantwortung.“

So Ilja Ehrenburg in der beschwörenden Appellation an sein Alter ego, die diesen Traktat beschließt. 1921 in Brüssel geschrieben, 1922 in Moskau und Berlin erschienen, stellt er den leidenschaftlichen Versuch eines geistreichen Kosmopoliten dar, die ästhetischen Schlußfolgerungen aus der Erfahrung von Krieg und Revolution zu ziehen. Die Begegnung mit den avantgardistischen Kunstströmungen Westeuropas schärfte den Blick für die Errungenschaften des russischen Konstruktivismus, und zwar unmittelbar vor dessen begeisterter Aufnahme in Deutschland. Seinen Ideen ist diese Streitschrift ganz und gar verpflichtet: Kunst und Leben zusammenführen – lautete die Parole!



Inhalt:
Geographiestunden und die Beerdigung Apolls ...... 9
Wie ich an den Toren des Arbat von Metall und vielen anderen Dingen träumte ...... 14
Ein vorsintflutlicher Anblick ...... 21
Eine lehrreiche Geschichte von blamierten Gaunern und klüger gewordenen Kindern ...... 27
Die Revolution in der Kunst und die Revolution im allgemeinen ...... 37
Konstruktion ...... 46
Ich gebe bekannt: Die Industrie hat einen neuen Stil geschaffen ...... 53
Vom Spucken über „Hilfe!“ zum Harakiri ...... 64
Die Architektur die – Skulptur – der Bau von Gegenständen und die dekorative Malerei ...... 71
Lernt, die Bewegung zu bauen! ...... 77
Noch einmal über ein unerwartetes Rendezvous ...... 90
Ein glückliches Kind ...... 98
Das Urteil des Ofensetzers ...... 103
Nachwort ...... 110
Personenregister ...... 126

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig
Reclams Universal-Bibliothek Band 1311 | Kunstwissenschaften

1. Auflage 1989 

Henry Fielding: Amelia

Die anmutige, liebenswürdige, töricht gute Amelia könnte sogar im genußsüchtigen, dem Laster verfallenen London ein Leben in Beschaulichkeit und häuslichem Frieden führen, hätte sie ihr Glück nicht an einen auf Halbsold gesetzten jungen Offizier gehängt. Captain Booth, ihr Gatte, mag zwar ein guter Soldat sein, aber die Kunst, sich in Kreisen vornehmer Intriganten zu behaupten, beherrscht er nicht. Unversehens findet er sich im Gefängnis wieder, umlauert von Betrügern, umgarnt von der koketten Miss Matthews. Während er, verfangen in einem Netz von Nachstellungen, sich leichtsinnig eitlen Vergnügen hingibt, gerät seine Familie in ernste Bedrängnis und materielle Not. Die Bemühungen des Arglosen, mit Hilfe einflußreicher Persönlichkeiten eine gerechte Anerkennung seiner militärischen Verdienste zu erlangen, liefern Amelia den schamlosen Betörungsversuchen der vermeintlichen Gönner aus. Doch die wunderbare Frau, die des Gatten Schwächen und sein treues Herz besser kennt, als er glaubt, widersteht beherzt den Schmeichlern und erringt für sich und die Ihren schließlich die Huld des Schicksals.

Buchanfang:
RALPH ALLEN, ESQUIRE, GEWIDMET
Sir,
das folgende Buch ist offen dazu bestimmt, die Sache der Tugend zu fördern und einige der schreiendsten Übel, öffentliche wie private, die gegenwärtig das Land heimsuchen, bloßzustellen, obgleich, soweit ich mich erinnere, kaum ein einziger satirischer Seitenhieb im ganzen Buch gegen irgendeine Person gerichtet ist.
Der beste Mann ist der angemessenste Schutzherr eines solchen Versuches. Das, glaube ich, wird man bereitwillig zugestehen; und die öffentliche Meinung wird auch darüber, wem sie diese Benennung geben soll, nicht geteilter sein. Sollte ein Brief wirklich so zugeeignet werden: Detur Optimo so gibt es wenige, die glauben, er bedürfe irgendeiner anderen Anschrift.
Ich will Sie nicht mit einem Vorwort über das Werk behelligen noch mich bemühen, eine Kritik, die man daran üben kann, abzuwenden. Der gutmütige Leser wird, wenn sein Herz hier gerührt werden sollte, geneigt sein, viele Mängel wegen der Freude zu verzeihen, die er aus einer zarten Gefühlsbewegung gewinnen wird; und was Leser eines anderen Schlages betrifft, so werden sie, bin ich überzeugt, um so mehr zufriedengestellt sein, je mehr Mängel sie entdecken können.
Ich möchte auch nicht den widerlichen Stil gewöhnlicher Zueigner übernehmen. Ich habe in diesem Briefe nicht ihre übliche Absicht und will auch nicht ihre Sprache borgen. Fern, sehr fern möge es sein, daß es ein höchst furchtbarer Umstand irgendeiner Feder ermögliche, ein echtes und wahres Bild Ihres Charakters zu zeichnen, ohne sich den Verdacht der Schmeichelei im Busen Übelwollender zuzuziehen. Dieses Gespräch werde ich jedoch bis zu diesem Tage aufschieben (wenn ich so unglücklich sein sollte, ihn je zu erleben), wenn jeder gute Mensch für die Befriedigung seiner Wißbegierde eine Träne zollen wird; einem Tage, an welchen im Augenblick, glaube ich, nur ein guter Mensch der ganzen Welt mit Sorglosigkeit denken kann.
Nehmen Sie denn, Sir, dieses kleine Zeichen jener Liebe, jener Dankbarkeit und jenes Respekts, mit denen ich es immer meine größte Ehre schätzen werde zu sein,
           Sir,
              Ihr höchst verbundener
                            und gehorsamster
                                   ergebener Diener
                                                    Henry Fielding
Bow Street, den 2. Dezember 1751

Henry Fielding: Ausgewählte Werke in sechs Bänden; Band V

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar

1. Auflage 1966
2. Auflage 1972
3. Auflage 1981

Günther Weisenborn: Der Verfolger

Sie nannten sich „Silberne Sechs“, sie waren eine Unterhaltungskapelle und eine Widerstandsgruppe, und einer von ihnen wurde zum Verräter. Daniel Brendel überlebte, und er entdeckte den Spitzel. Doch bei den zuständigen Stellen findet er weder Verständnis noch Hilfe. Muß der Verfolger resignieren, muß er selbst zum Rächer werden?

Leseprobe
Drei Uhr. Er muß jeden Augenblick kommen. Er wird quer über die Straße gehen. Ich werde den Gang einschalten und scharf anfahren. Dann gebe ich Vollgas, und er liegt unter den Rädern. Sie werden es einen Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang und Fahrerflucht nennen. Seit Wochen stehe ich jede Nacht hier und beobachte ihn. Gestern habe ich mir den Wagen besorgt. Er ist zwanzig Zentner schwer. Wenn ich zu spät starte, fasse ich ihn vielleicht nur halb. Ich muß ihn frontal bekommen. Er muß mir aufrecht vor den Kühler. Es tut gut, die kalte Nachtluft zu atmen. Ich bin nicht erregt. Im Gegenteil, meine Gedanken sind klar und kalt. Ich liebe diese kühle Drei-Uhr-morgens-Stimmung in den leeren Straßen der großen Städte. Wenn er mit dem Taxi in die Straße einbiegt, werde ich den Motor starten, den man im Leerlauf kaum hört. Er wird ein wenig angetrunken sein, er wird wie immer schweigend das Taxi bezahlen, das dann davonfährt. Ich habe das oft beobachtet. Er wird wie immer an den gelben Zigarettenautomaten treten und eine Packung ziehen. Dann wird er ein wenig pfeifen und die Straße überqueren, ziemlich langsam übrigens. Es fängt an zu regnen, ein wenig nur. Ausgezeichnet. Das macht den Unfall wahrscheinlicher...
Im Krieg hatte ich den Mann aus den Augen verloren. Aber dann sah ich ihn eines Mittags in den Wartesaal treten. Die Sonnenstrahlen warfen durch die gelben Fenster ein aprikosenfarbenes Licht auf die vielen Tische, an denen vorüber er langsam näher kam. Ich erkannte ihn sofort. Er hatte sich herausgemacht, er sah gepflegt aus. Ich versteckte mich hinter meiner Zeitung, als er an meinem Tisch vorbeikam. Er sah mich nicht. Er ging davon. Ich ließ die Zeitung langsam sinken und folgte ihm unauffällig mit den Augen. Sein Haar war ein wenig grau geworden. Aber er hatte noch denselben weichen, trägen Gang wie damals. Gelassen schlenderte er durch den Wartesaal. Die runde blasenartige Stirn, die Lachfältchen um die Augen, die auffallend korallenroten Lippen unter dem blonden Schnurrbart; er war es, und nichts an ihm hätte auf den ehemaligen Spitzel der Gestapo schließen lassen.

Verlag Volk und Welt Berlin, 1979
Roman-Zeitung 357

23 Mai 2023

István Ráth-Végh: Die Komödie des Buches

Bücher sind unsere Lehrmeister und besten Freunde, und doch wissen wir wenig von ihrer Vergangenheit; noch weniger von den Abwegen, auf die sie im Laufe ihrer Geschichte gerieten, von dem Mißbrauch, der nur zu oft mit Büchern getrieben wurde. Der durch seinen Humor bekannte Kulturhistoriker nimmt in diesem Werk die Absonderlichkeiten in der Geschichte des Buches aufs Korn, von den frühesten Zeiten angefangen. Wir erfahren, daß – nach der Behauptung der mittelalterlichen Gelehrten schon Adam eine Bibliothek besaß. Höchst unterhaltsam ist die Geschichte des Druckfehlers; interessant sind die riesengroßen und winzig kleinen Ausmaße, die das Buch zuweilen annahm, gruselig die Materialien, in die es gebunden wurde. Wir lernen Geographiebücher kennen, die das „Reich der Liebe“, und andere, die die Hölle genau beschreiben. Natürlich werden auch ernsthaftere Themen behandelt wie die Charakteristik der Bibliophilen und Büchersammler oder der ewige Kampf des Geistes mit der durch den Zensor verkörperten Fortschrittsfeindlichkeit und Prüderie. Von all dem erzählt der ebenso kundige wie humorvolle Autor in dem bei ihm bekannten angenehmen Plauderton, er führt uns sicher durch den Irrgarten der Vergangenheit und zerstreut auf recht vergnügliche Art manche falschen Vorstellungen.

Buchanfang
Die Bibliothek Adams und die Literatur vor der Sintflut

Ein Loffel Wasser ist für die Mücke das Meer
(András Dugonics)

Wann erschien das erste Buch?
Der moderne Wissenschaftler zuckt mit der Schulter, auf diese Frage gibt es keine Antwort. Man kann höchstens darüber diskutieren, welches das älteste Buch ist, das wir kennen. Die Pariser Nationalbibliothek besitzt Papyrusrollen, die aus dem Jahre 3350 v. u. Z. stammen und die der französische Orientalist Prisse d' Avennes in einem thebanischen Grab auffand. Nach ihm werden sie Prisse-Papyrusse genannt. Sie sollen das älteste Buch der Welt sein – aber kann man wissen, welche Überraschungen die ägyptischen Gräber noch für uns bereithalten?
Will man aber auf diese Frage eine ganz genaue Antwort erhalten, muß man sich nur an die Gelehrten des Perückenzeitalters wenden. Ihnen waren die Skrupel der heutigen Wissenschaftler unbekannt, und obwohl sie sich nicht aus dem Zimmer rührten, lösten sie alle Fragen – nämlich vom Schreibtisch aus. Nicht nur einzelne Gelehrte, sondern ganze Scharen von Wissenschaftlern des 17. und des 18. Jahrhunderts befaßten sich mit diesem wichtigen Problem und gelangten zu dem Schluß, daß es Adam war, der das erste Buch geschrieben hat.
Bevor wir uns aber mit den Ergebnissen ihrer Forschungen – mit den Werken Adams und seiner Bücherei bekannt machen, wollen wir die Perücken jener alten Gelehrten ein wenig lüften und sehen, was sich unter ihnen verbirgt. Natürlich sind hier nicht die wirklichen Gelehrten gemeint, die das Feld der Wissenschaft pflügten und es mit fruchtbarer Saat bestellten, so daß der späteren Forschung reiche Ernte beschert war. Nicht diese kleine Anzahl glänzender Köpfe soll vor das Tribunal gezerrt werden, uns geht es um die graue Sperlingsschar der Bedeutungslosen, die zwischen den Stoppeln der abgeernteten Felder die übriggebliebenen Körner aufpickte...

Inhalt
    5 Die Bibliothek Adams und die Literatur vor der Sintflut
  19 Die Titelsucht der Bücher
  35 Die Kosmetik des Buches
  63 Schwärmer des Buches
  97 Mörder aus Liebe zum Buch
105 Das Schicksal der Bücher
128 Kataloge nichtexistierender Bücher
134 Kuriosa der Zensur
156 Pasigraphia oder die Weltschrift
164 Garten der Erquickung und sprießende Parabel
172 Die Memorien eines Hundes
181 Nachtigallenlautlehre, Hundegrammatik und Affenwörterbuch
197 Leiden und Freuden des Buchhändlers
207 Das Wörterbuch und die Geographie der Preziösen
216 Welche Sprache sprechen die Marsbewohner?
225 Der Gemeinplatz
230 Die Ana
239 Wie schreibt man Kriminalromane?
244 Die Literatur der Grobheiten
252 Sind Frauen auch Menschen?
263 Betrugslexikon
270 Das Lexikon der Wetterhähne
278 Das Granittagebuch des Restif de la Bretonne
285 Der erste Plan zu einem Völkerbund. 1713
280 Ungewöhnliche Gebetbücher
300 Autogrammsammlung aus dem Jenseits
306 Die Vampirliteratur
319 Höllentopographie
326 Ein Besucher aus dem Fegefeuer
336 Bücher aus dem Himmelreich

Originaltitel: A könyv komédiája
Aus dem Ungarischen übertragen von Erika Széll
Zeichnungen von Líviusz Gyulai
Einband und Schutzumschlag von Judit Erdélyi

Gemeinschaftsausgabe mit Corvina Kiadó, Budapest

Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig und Weimar

1. Auflage 1964
2. Auflage 1967
3. Auflage 1984 

Alexander Puschkin

Seit dreißig Jahren lebe ich mit Puschkins Versen, Gedichten, Briefen, Tagebüchern, Aufsätzen, Stücken. Sein Werk ist eins von denen, die nie aufhören, in jedem Alter liest man es neu, anders, immer mit Folgen fürs eigene Leben und Denken. Es ist nicht nur Besitz seiner Nation, die sich einig ist in der Liebe zu diesem Wunder von einem Dichter (trotz Tausender Interpretationsversuche: ein Wunder). Schon lange gehört es der Menschheit, der er sich - ganz Russe in seiner Sprache und in den Gestalten und Fabeln, die er erfand - weltbürgerlich zugehörig fühlte und deren sich erneuernden Geist er bürgerlich tapfer und künstlerisch glanzvoll bekannte.

Eva Strittmatter


Alexander Sergejewitsch Puschkin, geboren am 6. Juni 1799 in Moskau. Entstammte väterlicherseits einem alten russischen Adelsgeschlecht, sein Urgroßvater mütterlicherseits war der Mohr Abram Hannibal, ein entführter äthiopischer Fürstensohn, den man Peter I. zum Geschenk gemacht hatte; 1811 bis 1817 Besuch des neugegründeten Lyzeums in Zarskoje Selo (heute Puschkin); bereits in dieser Zeit Gedichtveröffentlichungen; von 1817 bis 1820 Beamter im Außenministerium; Kontakt zu dekabristischen Petersburger Kreisen; für seine politische Lyrik 1820 in den Süden Rußlands verbannt; 1824 bis 1825 in der Verbannung auf dem väterlichen Gut Michailowskoje; 1825 Rückkehr nach Petersburg. Als Opfer einer höfischen Intrige starb Alexander Sergejewitsch Puschkin am 10. Februar 1837 in Petersburg an den Folgen eines Duells.

Verlag Neues Leben
Poesiealbum 169
 

Wolf Spillner: Der Bachstelzenorden

 Gäbe es ihn, Hannes hätte ihn verdient: den Bachstelzenorden. Und nicht nur, weil er Stapellauf, Auszeichnung und Fernsehkamera davonlief, um ein Bachstelzennest zu retten. – Eines Tages hält Gustav seine Lok vorschriftswidrig an. Seltsam, denkt er, daß die Vögel nicht nach der Seite davonfliegen, sondern immer gegen die fahrende Lok prallen und sterben. Und er beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. – Wolf Spillner hatte als Junge den großen Wunsch, einen Hund zu besitzen. Der erfüllte sich schließlich, doch was dann geschah, ist ihm auch heute noch Anlaß, in seinen Geschichten von Menschen und Tieren zu erzählen, von keinen besonderen Menschen und keinen exotischen Tieren, sondern solchen, denen man überall begegnen kann, schaut man nur richtig hin.

Buchanfang
Falkengustav
Die E-Lok kommt erst hinter der Brücke zum Halt. Die Bremsen quietschen und pfeifen, und die Drähte über den Bügeln der Stromabnehmer schwingen und zittern. Gustav Magerbrot schiebt die Tür des Führerstandes auf, sieht nach links und nach rechts, klettert zögernd die eiserne Leiter der Lokomotive hinunter und springt auf das Schotterbett. Er starrt unentschlossen zur Brücke zurück. Er bereut schon, den Zug zum Halt gebracht zu haben. Aber er rennt doch los. Die Steine klirren und scheppern unter seinen Schuhen gegen die Schwellen.
Der Zug ist lang offene und geschlossene Güterwagen. Schwarzglänzende Kohle ist in die Waggons geschüttet, Frachtgut in Kisten gestapelt, und auf drei Spezialwagen funkeln übereinander rote und sandfarbene Škodalimousinen.

Inhalt
5 ..... Falkengustav
24 ..... Die erste Rose
47 ..... Ein Denkmal für Fritz Schmahl
71 ..... Der Bachstelzenorden
85 ..... Die Antwort für das Mädchen mit den Zöpfen

Für Leser von 11 Jahren an
Illustrationen von Thomas Schleusing

Der Kinderbuchverlag Berlin

1. Auflage 1979
2. Auflage 1980
3. Auflage 1981
4. Auflage 1990

22 Mai 2023

Gabriele Sander: Die Flöte des Pan oder Was eine alte Geschichte von der Entstehung der Musik erzählt

Pan verliebt sich in die schöne Syrinx und erfindet ein Musikinstrument. Hirten kommen, hören die Flöte und lernen sie spielen. Von nun an leitet die Flöte mit ihrem Klang die Herden, warnt bei Gefahr, erzählt von Liebe und Glück der Hirten.
So berichtet eine alte Geschichte über die Anfänge der Musik. Man kann sie lesen, diese Geschichte, oder auf einer Flöte spielen, und wie man Flöte spielen soll, wird auch erklärt.

Buchanfang
Pan verfolgt die schöne Syrinx und erfindet ein Musikinstrument
Seltsam und fremd klingen die Namen aus den alten Geschichten. In längst vergangenen Zeiten verehrten die griechischen Hirten und Weinbauern einen göttlichen Beschützer, dem sie den Namen Pan gaben. Die Viehzüchter und Landwirte schätzten ihn mehr als die anderen Götter, die allzu sehr nach Herrenart das Leben der Menschen willkürlich und launisch bestimmen wollten. So eng glaubten die Griechen ihren Pan mit den nützlichen Tieren verbunden, daß sie sich ihn zur Hälfte in Gestalt...

Inhalt
Pan verfolgt die schöne Syrinx und erfindet ein Musikinstrument ….. 5
Die Hirten kommen und hören die Flöte ….. 10
Chloë verliebt sich in Daphnis und erlernt das Flötenspiel ….. 12
Dorkan und seine Syrinx retten die Freunde aus großer Gefahr ….. 15
Daphnis kämpft mit seiner Syrinx gegen die Piraten und befreit Chloë ….. 17
Der Sieg wird mit Musik und Tanz gefeiert ….. 19
Daphnis erzählt Chloë die Geschichte vom Echo ….. 26
Zum Hochzeitsfest unterhält das Paar seine Gäste mit dem Spiel von Pan und Syrinx ….. 29

Illustrationen von Eberhard Binder
Mit kleinen Liedern für Blockflöte
Für Leser von 8 Jahren an

Der Kinderbuchverlag Berlin

1. Auflage 1989

Nicolas Born

Nicolas Born: Die Gedichte sollen roh sein, jedenfalls nicht geglättet; die rohe, unartifizielle Formulierung, so glaube ich, wird wieder Poesie, die nicht geschmäcklerisch oder romantisierend ist, sondern geradenwegs daher rührt, daß der Schreiber Dinge, Beziehungen, Umwelt direkt angeht, das heißt also, Poesie nicht mit Worten erfindet. (1967)
Ich zeige Rituale und Übereinkünfte, die ich erkenne, bin aber ebenso darauf aus, mein eigenes Ritual und meine eigene Übereinkunft zu erkennen und loszuwerden. (1970)
In neue Vorstellungsräume eindringen. Ganze Skalen von Empfindungen in Bilder und Bewegungen verwandeln. Mit der Entdeckung anderer Lebensmöglichkeiten eine Kettenreaktion von Wünschen und Sehnsüchten auslösen, die das standardisierte Lebens-Schema zersetzen. (1972)

Nicolas Born, geboren am 21. Dezember 1937 in Duisburg. Aufgewachsen im Ruhrgebiet; nach Abschluß der Volksschule Lehre als Chemigraph; arbeitete in diesem Beruf bis 1965; dazwischen längere Reisen in die Balkanländer, nach Griechenland und in die Türkei; dann als freischaffender Schriftsteller in Westberlin und in der Nähe von Gorleben; 1970/71 Aufenthalt in Amerika Nicolas Born starb am 7. Dezember 1979 in Hamburg.

Verlag Neues Leben Berlin
Poesiealbum 167

 

Alfred Wellm: Das Mädchen mit der Katze

Vor dem Haus und unter einer Pappel sitzt das Mädchen mit der Katze. Die Kinder rufen es, aber das Mädchen kann es nicht hören. Manchmal geht es zum See hinunter, wo die Urlauber baden und sich sonnen. Da ist einer, der immer Zeitung liest. Mit ihm redet das Mädchen bisweilen, – „Welch eine Farbe hat die Welt?“ fragt ihn das Mädchen, und es ist stolz, weil es die Welt rundum schon so gut kennt, vieles besser als der Mann, die Feldwege etwa, den Fluß mit den Schlammpeitzkern, die Bäume im Wald und die vier Steine, die wohl Leoparden sein mögen; der bucklige große aber ist ein Elefant. Auf ihm reitet das Mädchen. Und nun haben wir es nicht mehr weit ins Siebenland...

Für Leser von 9 Jahren an
Illustrationen von Siegfried Linke

Der Kinderbuchverlag Berlin

1. Auflage 1983
2. Auflage 1984
3. Auflage 1985
4. Auflage 1987
5. Auflage 1989

19 Mai 2023

Paul Eluard

Das Geheimnis dieser Dichtung hat ihre Unschuld, ihre Kindlichkeit, die nicht schwindet im Zusammenprall von Wellen, nicht abdankt vor Krankheit und Gewalt. Ihr erstes und letztes Wort heißt Vertrauen.

Stephan Hermlin


Paul, Eluard, geboren am 14. Dezember 1895 in Saint-Denis, Sohn eines Buchhalters und einer Schneiderin; wird 1914 eingezogen und dient zuerst als Sanitäter, dann als Infanterist; schwere Gasvergiftung an der Front; 1918 Bekanntschaft mit Aragon und Breton, Teilnahme an der Bewegung des Dadaismus, später des Surrealismus; 1924 lange Reise nach Südostasien und in die Südsee; Eluard tritt vorübergehend der Kommunistischen Partei bei; 1936 Reise in das republikanische Spanien, Gedichte über den Kampf gegen Franco; 1938 Bruch mit den Surrealisten...

Verlag Neues Leben Berlin
Poesiealbum 162

 

Wolfgang Hildesheimer: Mozart

 „Dem Wolfgang sei – so die Nachwelt – alles leicht geworden, es habe sich ihm, dem Lieblingskind zwar der Musen, nicht aber der Mitwelt, alle Eingebung widerstandslos umgesetzt...“
Sehen wir Mozart nicht in der Tat so vor uns: als das „ewige Wunderkind“, ein schwebend leichtes Lächeln im Gesicht? Und hören wir nicht zugleich jene „berückende Melodie“, dies „typisch Mozartsche“, das uns einlädt, „im Heiteren“ zu verweilen? Brauchen wir ein Buch wie das vorliegende, das jene Vorstellung als eine trügerische zu erkennen gibt?
Wolfgang Hildesheimer (geb. 1916) bietet dem Leser ungewöhnlich viel: bissige Polemik gegen die uferlose Mozart-Literatur, Neues oder bisher kaum Bekanntes aus den Lebensdokumenten des berühmten Tonschöpfers, verblüffende Neuinterpretationen Mozartscher Musik, provozierende Entdeckungen von Zusammenhängen zwischen dem vergangenen Leben eines Künstlers und selbstgefälliger später Verehrung für ihn...
In der spannungsgeladenen Atmosphäre einer assoziationsreichen Prosa deckt dieser Entwurf von Leben und Werk Mozarts Probleme auf, die nicht nur den Musikfachmann und Mozart-Verehrer in genießerisches Nachdenken versetzen. Vor allem wendet sich Hildesheimer an jene Leser, die das Schöpferische jeder menschlichen Tätigkeit als Widerspruch zwischen schmerzhafter Auseinandersetzung mit der Realität und lustvollem Selbstgenuß zu begreifen bereit sind.

DIESES BUCH ist die vierte, somit also dreimal und diesmal um ein mehrfaches erweiterte Fassung eines Vortrages aus dem Mozartjahr 1956. Aus den vorbereitenden Überlegungen für eine Auftragsarbeit entstand, zunehmend und sich schließlich potenzierend, eine Art innerer Drang, dessen Fluchtcharakter als Motivation nicht geleugnet werden soll, dessen wahre Wurzeln jedoch in einer niemals nachlassenden aktiven Verehrung Mozarts liegen, in der ich bekanntlich nicht der einzige bin. Bekanntlich bin ich auch nicht der einzige im Wunsch nach Dokumentation dieser Verehrung. Zwar ist Mozarts Größe nicht meßbar, doch ist ihre Wirkung feststellbar; ihr Niederschlag als Interpretation, quantitativ überwältigend, bietet ein augenfälliges Beispiel des ewig Scheiternden: des Versuches, die überragende Gewalt des Werkes eines Menschen zu vermitteln, ihrer Eigenart und Einzigartigkeit deutend beizukommen, ihr Geheimnis zu ergründen.
Dieses Scheitern ist denn auch das gemeinsame Element zwischen meinem und allen anderen Versuchen, Mozart als Gestalt erstehen zu lassen; nur eben; Ich habe es in meine Arbeit einkalkuliert; sie ist nach drei Anläufen das endgültige Resultat meines Wunsches, zu dem Konzert unterschiedlichster Stimmen beizutragen und es zugegeben durch diese eine Stimme zu verändern. Hiernach gebe ich das Thema an die Zunft zurück, dies ist meine letzte Version. Sie macht so wenig Hehl aus der Wiederholung einiger Passagen früherer Fassungen ....

Verlag Volk und Welt, Berlin
ex libris Volk und Welt

1. Auflage 1980
2. Auflage 1981
3. Auflage 1988 / 1. Auflage ex libris

Tobias Smollett: Die Abenteuer Roderich Randoms

Roderich Random ist ein Held, der stets vor neuen Schwierigkeiten steht. Die Hürden jedoch, die sich vor ihm aufbauen, nimmt er mit Humor und Sarkasmus. – Smollett erzählt mitreißend und mit Tempo. Was er sagt, ist manchmal derb. Immer aber sagt er die Wahrheit.

Klappentext
Ein Leben in guten, gesicherten Verhältnissen stand ihm bevor: Roderich Random, Sohn einer begüterten schottischen Familie. Aber dann kam alles ganz anders. Eine Familienintrige beraubt ihn seines Erbes, und Roderich Random steht plötzlich auf der Straße, mit nichts in der Tasche, aber mit dem festen Vorsatz im Kopf, so oder so sein Glück zu machen. Er versucht es mit diesem Beruf und mit jenem, wird schließlich Schiffsarzt, nimmt an mehreren Kriegen teil und macht eine schlimme Erfahrung nach der anderen. Er verliert, was er sich erwirbt, nur seinen Humor erhält er sich. Nach den Jahren bei der englischen Flotte gerät er in Schauspieler- und Literatenkreise, besteht die verschiedensten Liebesaffären genauso gut wie die Haft im Schuldgefängnis. Und endlich, nach vielen Prüfungen, findet er doch zu dauerhaftem Liebesglück und zu Wohlstand.

Buchanfang
APOLOG
Ein junger Maler verfertigte in einer Anwandlung von lustiger Laune eine Art Genrebild, worauf sich ein Bär, eine Eule, ein Affe und ein Esel befanden. Um sein Gemälde auffallender, launiger und moralischer zu machen, charakterisierte er jede Figur durch ein Emblem aus dem Menschenleben.
Dem Petz gab er die Tracht und die Stellung eines alten, zahnlosen und betrunkenen Soldaten; der Uhu hockte auf dem Henkel eines Kaffeetopfs mit einer Brille auf der Nase und schien Zeitung zu lesen; und der Esel saß, mit einer sehr stattlichen Allongeperücke ausgeschmückt (die dennoch seine langen Ohren nicht verbergen konnte), einem Affen Modell, der mit Malergerätschaften versehen war.
Die possierliche Gruppe machte lachen und erhielt allgemeinen Beifall, bis ein arger Schalk den Wink fallen ließ, das Ganze sei ein Schmähwerk auf die Freunde des Künstlers. Kaum war diese Äußerung laut geworden, als eben die Leute, die vorher dem Stücke Beifall gegeben hatten, unruhig zu werden begannen, ja sich sogar einbildeten, sie wären mit den Figuren im Gemälde gemeint.
Unter anderen erschien ein würdiger bejahrter Mann, der in der Armee mit vielem Ruhm gedient hatte, höchst aufgebracht über die vermeinte Beleidigung in dem Logis des Malers, den er zu Hause fand. „Hör Er, Herr Affenkopf“, sagte er zu ihm, „weiß Er wohl, daß ich nicht übel willens bin, Ihm zu zeigen, daß Bruder Petz wohl seine Zähne, aber nicht seine Tatzen verloren hat? So betrunken bin ich noch nicht, um nicht Seine Unverschämtheit einzusehen. Beim Element! die Kiefer ohne Gebiß sind 'n verdammt skandalöses Schmähwerk. Aber bildet Euch nicht ein, daß, weil ich alle Hauer verloren habe, nicht mehr um mich herumhauen kann.“
Hier wurde er durch die Ankunft eines gelehrten Arztes unterbrochen, der mit wütendem Blick auf den Angeklagten losstürzte und rief: „Weil der Esel große Ohren hat, so soll der Pavian kleinere haben, meint Ihr etwa? Nur keine Ausflüchte und Winkelzüge gesucht. Beim Barte des Äskulap! Da ist kein Haar in dieser Perücke, das nicht zum Zeugnis dafür aufstehen wird, daß du mich persönlich gemißhandelt hast. – Sehen Sie nur, Herr Hauptmann, wie das armselige Wichtchen die Locken ganz akkurat kopiert hat. Die Farbe ist zwar freilich anders, aber ihr Bau wie auch das Toupet sind sich völlig gleich.“
Indem er dies mit mächtig lauter Kehle erwies, trat ein ehrwürdiger Ratsherr herein. Er watschelte auf den Delinquenten zu und rief: „Ich will dir Meerkatzengesicht zeigen, daß ich mehr kann als Zeitungen lesen, und zwar ohne Hilfe einer Brille. Da ist eine Handschrift von dir, Bürschchen. Hätt ich dir damals das Geld nicht vorgeschossen, so würdest du selbst einer Eule geglichen haben, da du bei Tage dein Gesicht nicht hättest zeigen dürfen, du undankbarer, ehrenschändrischer Bube!“
Umsonst erklärte der erstaunte Maler, es sei nicht im geringsten seine Absicht gewesen, irgendein Individuum zu beleidigen oder dessen Charakter zu schildern. Allein die drei Männer behaupteten, die Ähnlichkeit sei nur zu sehr in die Augen fallend, das lasse sich gar nicht ableugnen, und beschuldigten ihn der Unverschämtheit, der Bosheit und der Undankbarkeit. Da das Publikum ihr Geschrei hörte, so blieb der Hauptmann ein Petz, der Doktor ein Langohr und der Senator ein Uhu all ihr lebelang.
Christlicher Leser, ich bitte dich um Gottes Barmherzigkeit willen, erinnere dich dieses Beispiels, indes du die folgenden Bogen durchläufst, und suche nicht dir zuzueignen, was ebensogut einigen hundert Menschen zugehört. Wenn du auf einen Charakter stoßen solltest, der dich in irgendeinem nicht günstigen Lichte zeigt, so geh bei dir zu Rate und erwäge, daß ein Zug kein Gesicht ausmacht und daß, wenn du dich vielleicht durch eine unförmige Nase auszeichnest, zwanzig von deinen Nachbarn in ebendem Falle sein mögen.


Titel des englischen Originals: „The Adventures of Roderick Random“
Nach der Übersetzung von W. Chr. S. Mylius (1790), sprachlich erneuert und ergänzt
Mit einem Nachwort von Rolf Recknagel
Illustrationen von Werner Klemke

Verlag Neues Leben
[Diese Ausgabe erscheint mit freundlicher Genehmigung des Verlages Volk und Welt, Berlin]*

1. Auflage 1978

*Im Verlag Volk und Welt Berlin erschienen:
illustriert von George Cruikshank
1. Auflage 1952
2. Auflage 1954

18 Mai 2023

Anneliese Probst: Die unentwegte Großmutter - Plaudereien über ein unerschöpfliches Thema

„Plaudereien über ein unerschöpfliches Thema“: für dieses Thema sorgen – wie könnte es bei einer Großmutter anders sein! – die Enkelkinder. Die Autorin schildert in 13 Kapiteln Erlebnisse von Anna Fierlinger, Anfang Fünfzig, berufstätig und glücklich verheiratet, mit ihren drei Enkeln. Die Ich-Erzählerin versucht, jedes dieser Kinder wirksam zu fördern, seine ihm eigene, besondere Art anzunehmen und zu lieben.
Von ihrer christlichen Glaubenshaltung geprägt, muß sie sich mit der Gefahr auseinandersetzen, womöglich in eine Selbstaufopferung zu geraten; dabei hat sie immer auch die Möglichkeit eines Großmutter-Egoismus im Blick, der zu Lasten der Kinder ginge.
Daneben wird das Bestreben deutlich, echtes Verständnis für die Freuden und Nöte der Kinder aufzubringen, ihre besonderen Fähigkeiten zu erkennen und entwickeln zu helfen. Die Autorin will – ausgehend von eigenen Erfahrungen – die Bereitschaft der Älteren zum Lernen, zum Offensein gegenüber neuem und unbekanntem kindlichem Leben, zum Wachsen und Reifen, zusammen mit den Kindern, wecken und unterstützen.
Bei der Schilderung der Erwachsenen wird manches Fehlverhalten, werden Engherzigkeit und Familienegoismus, falsch verstandene Liebe und Gedankenlosigkeit nicht ausgespart. Die Kinder wissen manches zurechtzurücken durch die ihnen eigene starke Naivität, die viele Barrieren überwinden kann. Die Autorin baut auf das Zusammengehen von jung und alt, auf die Kraft der Liebe, die beide zusammenhält, ohne die jeweiligen Eigenheiten zu verwischen.

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Präludium
Ich heiße Anna Fierlinger.
Ich bin Anfang Fünfzig, einigermaßen gesund, vollschlank – was für ein scheußliches Wort! – und Großmutter. Unter anderem.
Ich habe einen guten Mann. Wir sind seit vielen Jahren verheiratet, und wir lieben uns immer noch. Oder besser: wir lieben uns immer mehr. Wir sind fröhlich und traurig, wie es sich ergibt, das Leben hat uns nicht mit Samthandschuhen angefaßt. Geboren 1920 und 1925, das sagt eigentlich genug. Wir gehören zu denen, die noch einmal davongekommen sind. Die es trotz allem gewagt haben. Die immer wieder und immer noch an die Möglichkeit eines guten, erfüllten und sinnvollen Lebens glauben.
Wir klammern Not und Kummer und Enttäuschungen nicht aus, es gibt Tage, an denen wir nicht ein einziges Mal lächeln. Hin und wieder aber wird uns eine Stunde geschenkt, in der wir Freude erfahren, dann staunen wir über unsere eigene Heiterkeit und über den Leichtsinn, der uns übermütig macht wie die Kinder. Ach ja – Kinder!
Wir haben einen Sohn und eine Tochter, wie sich das im Grunde für ein Durchschnittsehepaar gehört – und wir haben auch einen Schwiegersohn und eine Schwiegertochter. Außerdem haben wir eine Pflegetochter, nicht amtlich bestätigt, aber familiär anerkannt. Alle wohnen in unserer Nähe, das tut uns gut, wir freuen uns, wenn sie sich bei uns treffen und wir wie stolzes, aufgeplustertes Federvieh um unsere Küken herumstaksen und für ihr Wohl sorgen. .....

Inhalt:
Präludium ...... 5
Spazierfahrt ...... 18
Nachtwache ...... 28
Tobias ...... 36
In der Kirche ...... 45
Die Gute-Nacht-Geschichten ...... 55
Hast du für mich Zeit? ...... 67
Der Einling ...... 81
Großmutter Olga ...... 91
Variationen über ein Thema ...... 100
Das Gesicht im Spiegel ...... 109
Schnipsel-Mosaik ...... 121
Auf dem Wege ...... 137

Schutzumschlag, Einband und Illustrationen: Erika Bock
 
Evangelische Verlagsanstalt Berlin

1. Auflage 1978
2. Auflage 1984