02 Juli 2025

Albert Gabriel: Der Rathausschlüssel

Ein buntbemalter Schlüssel hängt an der Tür zu einer neuen Wohnung. Fast so groß wie der Schlüssel der eisernen Rathaustür. Viele kleine Fußtapfen auf dem Treppenflur; vierundsechzig, sechsundsechzig ...
Die Spuren führen zum Rathaus, aber nicht nur dorthin. Durch eine Stadt mit einem großen Chemiekombinat.
Folgst du diesen Spuren, begegnen dir geheimnisvolle Dinge. Eine Tangente, ein „Zebra“, eine Wasserrutsche, eine Versorgungseidechse, ein buntbemalter Schlüssel ...

Buchanfang:
Das Rosenbeet
Ingrid und Angelika, Günter, Heinz und Tutemann kamen aus dem Hort. Am Goethepark verweilten sie. Sie wußten nicht gleich, warum er ihnen heute anders als sonst erschien. Die Wege waren geharkt. Bänke standen da. einige Leute ruhten sich aus. Alles war eigentlich wie alle Tage. Wohl fehlte es an Blumen. Der Frühling war noch jung in seinem ersten Grün. Das Rosenbeet! Die Kronen waren noch eingegraben, die Stämme katzbuckelten dicht über dem Erdboden. Nur die Stäbe, die ihnen einmal Halt geben sollten, standen aufrecht und in Reihen ausgerichtet. Rot und gelb waren sie gestrichen. Das war es!
„Hübsch ist das“, sagte Ingrid und zeigte auf die Farbenpracht.
„Findest du? Mir kommt es so vor, als steckten viele Besenstiele in der Erde.“
Heinz war über den Rasen gegangen, wo er dicht an das Beet herankommen konnte. „Besenstiele sind es nicht“, stellte er fest.
„Warum wurden sie aber so bunt gestrichen?“ fragte sich wundernd Günter. „Wenn wenigstens alle gelb wären!“
„Grün wäre besser.“
„Oder Grau.“
Sie rieten eine Weile hin und her.
Endlich sagte Tutemann: „Am liebsten möchte ich sie alle neu anstreichen, grün oder grau, wie ihr wollt.“
„Warum einfarbig?“ wandte Heinz ein. Tutemann wußte es: Die farbenfrohen Rosen kommen dann besser zur Geltung. Günter ging sofort darauf ein. Sein Vater war Maler. Im Schuppen standen viele Farbtöpfe und Pinsel. Wenn sie nun alle vier am Abend wieder herkommen, die Stäbe herausziehen und sie zu ihm, zu Günter, schaffen würden?
Ingrid wollte nicht mittun. „Es gefällt mir so, wie es ist. Außerdem würden meine Eltern nicht erlauben, daß ich am Abend auf die Straße gehe.“
„Dann machen wir es ohne sie!“ entschieden die Jungen.

Inhalt:
Das Rosenbeet .. .. .. 6
Die Stadtverordnete .. .. .. 10
Die Versorgungseidechse .. .. .. 16
Die Tangente .. .. .. 20
Der Stadtrat .. .. .. 24
Die Wasserrutsche .. .. .. 28
Die Schlüsselübergabe .. .. .. 32
Der Malzirkel .. .. .. 36
Das Gasthaus .. .. .. 40
Die Waldhütte .. .. .. 44
Der Zebrastreifen .. .. .. 48
Der Bürgermeister .. .. .. 52

Illustriert von Konrad Golz
Für Leser von 8 Jahren an

Verlag Junge Welt, Berlin
1. Auflage 1971
2. Auflage 1974 

30 Juni 2025

Georg Piltz: In alten und neuen Städten

Klappentext:
Kontraste in Geschichte, Kultur und Architektur einiger Städte aus unserer Republik verdeutlichen – das will Georg Piltz mit seinem Buch.
Im Rostock-Kapitel erhellt er uns, warum schon der Kaufmann des Mittelalters wesentlich als Genossenschaftler handelte, macht uns mit der geschickten Machtpolitik der Hanse und den ökonomischen Ursachen ihres Verfalls bekannt und begründet die heutige „Bevölkerungsexplosion“ in dieser Stadt. Ein „Saunest“ nannte Gottfried Keller Berlin mit Recht! Denn wir erfahren, wie das Hellenische in der Architektur aus einem Boden wuchs, der noch mit Kuhjauche getränkt war. Potsdams preußische Bautradition ist einer kritischen wissenschaftlichen Analyse unterzogen; bürgerliche Legenden werden widerlegt. Die Baugeschichte Schwerins bewertet Piltz in ihrer Abhängigkeit von feudalen Machtstrukturen. Inmitten preußischen Spartanertums erscheint Dessau mit dem Entstehen des Wörlitzer Parks als „Gartenreich“. Und der Maler Philipp Otto Runge wußte Dresden als ein „wahres Paradies“ zu rühmen. Die gelungene Synthese von barockem Formenreichtum und klarer Zweckmäßigkeit unseres ästhetischen Geschmacks erläutert der Autor u. a. am lebendigen Beispiel der Prager Straße – schildert, wie der heutige Kunstsinn in der Kunststadt von den Positionen der sozialistischen Gegenwart ausgeht und so die künstlerischen Leistungen der Vergangenheit zu beurteilen vermag. Wir erleben Leipzigs Entwicklung zur Welthandelsstadt. An der Kunst des Erfurter Doms erkennen wir, wie die herrschende Klasse ihre Gedanken. in Stein ausdrückte. Interessantes wird aus alten Bergstädten des Erzgebirges erzählt.
Piltz dringt in die Wesenszüge von Vergangenheit und Gegenwart der von ihm besuchten Städte ein und trägt dabei seinen eigenen Standpunkt prononciert vor.

Inhalt:
   5 .. .. .. Rostock
 21 .. .. .. Schwerin
 33 .. .. .. Potsdam
 48 .. .. .. Dessau
 61 .. .. .. Berlin
 79 .. .. .. Magdeburg
 94 .. .. .. Leipzig
113 .. .. .. Dresden
128 .. .. .. Erfurt
141 .. .. .. Bergstädte

Schutzumschlag und Einband: Gottfried Leonhardt

VEB F. A. Brockhaus Verlag Leipzig
1. Auflage (1.-15. Tausend) 1976

29 Juni 2025

Joachim Specht: Leuchtfeuer Eastern Reef

Klappentext:
Während eines Wochenendausflugs strandet die luxuriöse Motorjacht „Laura“ auf der australischen Koralleninsel Eastern Reef. Die sechsköpfige Besatzung, zwei Frauen und vier Männer, findet vorerst Aufnahme bei dem Leuchtturmwärter der Insel. Der Wunsch nach Zeitvertreib veranlaßt die Schiffbrüchigen, einander außergewöhnliche Begebenheiten aus ihrem Leben zu erzählen.
Sechs Geschichten, eingefügt in eine Rahmenhandlung und lose miteinander verknüpft, stellen Menschen in extremen Situationen, ihre Denk- und Verhaltensweisen angesichts einer Leben-Tod-Alternative vor. Die Menschen sind geprägt durch das Milieu, in dem sie leben, arbeiten, sich behaupten wollen. Ihre Verwurzelung in der Welt des Gestern bestimmt die Normen, nach denen sie sich verhalten – ihre Geschichten implizieren Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft Australiens.

Schutzumschlag: Jens Prockat

Verlag Das Neue Berlin, Berlin
1. Auflage 1976
2. Auflage 1977 

weitere Ausgaben

Wasser für die Roten Wölfe + Leuchtfeuer Eastern Reef
2 Abenteuerromane

Einbandtext:
Zwei Abenteuerromane in einem Band. Zwel Romane, die Spechts sicheres Gespür für Storys beweisen. Sie belegen die Fähigkeit des Autors, Menschen und fremde, exotische Landschaften voller Farbigkeit zu schildern. Dabei handfest und solide gebaut, spannend erzählt.
„Wasser für die Roten Wolfe“ spielt im Sudjemen des Jahres 1964. Noch sitzen die Briten in der Kronkolonie Aden. Um ihre Privilegien nicht zu verlieren, sind den Vertreten des Mutterlandes alle Methoden der Unterdrückung der Befreiungsfront recht. Dennoch mehren sich die Aktionen mit denen die Roten Wolfe, Freiheitskämpfer aus dem Rafan-Gebirge, gegen das Regime angehen. In den Nächten gehört ihnen das Land. Und ihr Einfluß wächst.
Seit 25 Jahren lebt der Leuchtturmwärter Jim Parker auf Eastern Reef, nahe der australischen Ostküste. Eines Tages, ein Zyklon wütet in diesem Gebiet, wird die Motorjacht „Laura“, mit vier Männern und zwei Frauen an Bord, an Land geschleudert. Das Warten auf Rettung läßt sie reihum ihre Lebensgeschichten erzählen. Parker flüchtete sich in die Einsamkeit, als die Suche nach seiner verlorenen Tochter ergebnislos verlief. Da beginnt Liane Kippling von einem Findelkind zu berichten... Sechs Geschichten, durch eine Rahmenhandlung lose miteinander verbunden, verdeutlichen die Denk- und Verhaltensweisen von Menschen in extremen Situationen, geprägt vom Milieu einer gestrigen Welt.

Umschlagentwurf: Gerhard Milewski

Verlag Das Neue Berlin
1. Auflage 1980
2. Auflage 1982

Jutta Hecker: Wieland

Einbandtext:
Das Leichte, das Graziöse, das Scharmante, es ist erreicht. Aber nur ganz wenige erkennen, daß diese frivolen, verwegen deutlichen Verse aus einem Kopf und aus einem Herzen aufgestiegen sind, die Sturm laufen wollten gegen das starre, dumpfe, spießbürgerliche Denken der Zeit.

Klappentext:
Wer zur Zeit Goethes und Schillers nach Weimar kam, pflegte meist auch den geistvollen, lebhaften, liebenswürdigen Dichter Wieland aufzusuchen. Mit dem Roman «Agathon» war er zur europäischen Berühmtheit geworden, «Oberon» und andere Werke von ihm entzückten die Leser vollends; Witz und Anmut zeichnete sie alle aus. Jutta Hecker gestaltet Leben und Entwicklung dieses Dichters, der auch als Übersetzer vor allem Shakespeares Hervorragendes geleistet hat. Sie erzählt von seiner Kindheit im Biberacher Pfarrhaus, von seiner ersten, lebenslangen Liebe zu der späteren Schriftstellerin Sophie von La Roche, von einem zweiten, ebenfalls in die Brüche gegangenen Verlöbnis, von seinem Aufenthalt bei Bodmer in Zürich, wo er emphatisch für Tugend und Askese schwärmte, von seiner abrupten Hinwendung zum heiteren Sinnengenuß und vor allem von seinem Leben und Schaffen in Weimar. Rührend und liebenswert erscheint uns der Dichter in all seinen Äußerungen, vor allem in der Art, wie er hinter den beiden Größeren, hinter Goethe und Schiller, zurücktritt.

Buchanfang:
Seit Tagen weht ununterbrochen ein föhniger Westwind. Auch an diesem Donnerstag, dem 18. Februar 1813. Der Himmel ist bedeckt; graue leichte Gespinste treiben, vom Sturme zerfetzt, vor schweren dunklen Wolkenballen im Winde dahin. Ab und zu regnet es. Auf dem Erdboden hält sich hie und da noch verharschter Schnee. Die Ilm führt Hochwasser. Sie rauscht mächtig im Anprall einer plötzlichen Biegung nach Süden an der Steinmauer des Gutes Oßmannstedt vorbei. Ihr lehmig-gelbes Wasser nagt an den Steilufern und unterspült die mächtigen Wurzeln der Bäume, die weit in ihr Bett hineinragen. Am Ende der Gutsmauer öffnet sich eine kleine Lichtung mitten in einem Waldstück: Ein Denkmal erhebt sich dort, eine obeliskenhaft schmale, dreiseitige Pyramide in grauem Sandstein. Jede Seite trägt eine Inschrift, davor wölbt sich ein Erdhügel. Schon ein wenig verwittert sind die eingegrabenen Worte, schon ein wenig verblaßt das Blau und Rot und Gold der Bilder darüber. Nur auf der einen Seite, unter der auf Fittichen schwebenden Lyra, ist die zweite Zeile deutlich vor kurzem erst eingemeißelt. Unter dem Namen Christoph Martin Wieland steht außer dem Geburtsdatum nun noch: «gestorben den 20. Januar 1813». Der Hügel davor zeigt braune, frisch aufgeworfene Erde, während die beiden anderen unter einer Decke von grobkörnigem getautem und oftmals wieder gefrorenem Schnee ruhen. Ringsum bis weit in das Waldstück hinein ist der Platz von vielen Tritten zerstampft. Das Dunkel der Nacht lagert über dem abseitigen Ort, die Ilm rauscht laut, .......

Schutzumschlag, Einband: Ernst Lewinger

Verlag der Nation, Berlin
1. Auflage 1975
2. Auflage 1980
3. veränd. Auflage 1984
4. Auflage 1990

weitere Ausgaben

Jutta Hecker
Wieland – Die Geschichte eines Menschen in der Zeit

Hinter dem mächtigen Dioskurenpaar Goethe und Schiller ist die liebenswürdige Gestalt Christoph Martin Wielands besonders im Gedenken der Nachwelt immer mehr zurückgetreten. Auch er stand und steht gewissermaßen im Schatten der Titanen, und doch war der Pfarrerssohn aus Biberach in Württemberg weit mehr als nur der ehedem gefeierte Autor leicht tändelnder Rokokoromane, sinnenfroher Versepen und moralisierender Bildungsbriefe. Dank seiner Kunst gewann die deutsche Sprache erst Leichtigkeit und Eleganz. Sein immer reger, weltoffener Geist vermittelte kulturelle Schätze aus allen Zeiten und Nationen; sein ständig junges Herz blieb bis ins Alter aufgeschlossen für jede neue Geistesströmung, für jedes junge Genie, und nur wenig Bedeutendes im ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jh gibt es, dem nicht seine Zeitschrift „Der deutsche Merkur“ Schrittmacherdienste geleistet hätte.
Jutta Hecker ist dem langen Leben ihres Helden in allen Stationen nachgegangen, von der Knabenzeit im schwäbischen Elternhaus, dem für seine Entwicklung so bedeutsamen Schweizer Intermezzo bei Bodmer in Zürich, der Stadtschreiberzeit in Biberach mit der ersten großen, bitter-schmerzlich endenden Liebe, dem kurzen Zwischenspiel als Professor in Erfurt bis hin zu der längsten und erfolgreichsten Lebensepoche, seinem Leben und Wirken in Weimar und Oßmannstedt. Dabei wird nicht die geheime Tragik verschwiegen, die gerade die Weimarer Jahre Wielands durchzieht, dieses immer wieder Verzichten-, immer wieder Zurücktreten-Müssen hinter den großen Gestirnen Goethes, Schillers und Herders. Aber nicht minder wird auch das viele Schöne gezeigt, mit dem die Musen ihren Liebling immer wieder bedachten.
Den festlichen Ausklang dieses Buches, das nicht nur ein höchst lebendiges Porträt einer bedeutenden Persönlichkeit, sondern zugleich auch ein überaus farbiges Gemälde einer der wesentlichsten Epochen der deutschen Kulturgeschichte ist, bildet die Totenfeier für Wieland mit dem so ergreifenden Nekrolog, den Goethe seinem langjährigen Freunde widmete.

Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig und Weimar
1. Auflage 1958 [1. - 10. Tsd.]
2. Auflage 1959 [11. - 20. Tsd.]
3. Auflage 1960 [21. - 30. Tsd.]
4. Auflage 1963 [31. - 40. Tsd.]
5. Auflage 1966 [41. - 50. Tsd.]
6. Auflage 1971 [51. - 57. Tsd.]

28 Juni 2025

Rudolf Scholz: Mein lieber alter Lukowski

Klappentext:
Der junge Lehrer Achim Groh kommt nach dem Studium ins Dorf, selbstbewußt, anspruchsvoll, ehrlich. Die Umwelt wird aus der Sicherheit gültiger Normen und Beziehungen aufgeschreckt. Geschichten erzählt man ihm, als Warnung, als Angebot: über den Bürgermeister Lukowski, den Schuldirektor Kuntze, und Geschichte erlebt er mit: den renitenten Großbauern Grunert als vorbildlichsten Wähler, die Grabrede des Pfarrers unter der roten Fahne, die Bedeutung seines öffentlichen Bekenntnisses zu dem Mädchen Helga...
Lebendig werden die Ereignisse zu Beginn der sechziger Jahre in unserem Lande, da nicht selten zeitweilig Verbündete zu Kontrahenten und Gegner zu Partnern geworden sind. Die vergangene Gegenwart befragt die heutige nach Unerledigtem.

Buchanfang:
Lukowski sitzt an diesem Nachmittag an seinem eichenen, breit ausladenden Schreibtisch, als Achim bei ihm eintritt. Doch er blickt nicht auf, und Achim kann sein Gesicht nicht erkennen. Er sieht nur eine massige, wie aus einem Block herausgehauene Gestalt und eine Mähne dichten, schlohweißen Haares, die auf dem Hintergrund der dunkel getönten Wand wie eine Fackel leuchtet. Dabei hat er den Eindruck, als werde der Schreibtisch, sobald sich der Mann dahinter aufrichtet, jäh nach vorn kippen.
Erst als er geräuschvoll den Koffer absetzt, hebt Lukowski den Kopf. Er sieht jedoch nicht auf Achim, sondern auf den Koffer und kneift die Augen zusammen.
»Bist du der neue Lehrer?«
»Der bin ich.«
Lukowski nickt. »Aber eine Wohnung hab' ich nicht für dich.«
Da zieht Achim das Schreiben, das ihm vor wenigen Tagen Kuntze, sein künftiger Direktor, geschickt hat, aus der Tasche, faltet es auseinander und hält es Lukowski wie einen Fetzen vors Gesicht. In dem Schreiben steht, Achim solle sich nach seiner Ankunft zuerst im Gemeindeamt melden. Hier werde ihm seine Wohnung zugewiesen.
»Ja, ich weiß«, sagt Lukowski unwillig. Aber ich kann mir auch keine aus den Rippen schneiden.«
Achim weiß, daß er das nicht kann. Aber die abweisend-unzugängliche Art, in der Lukowski spricht, macht ihn wütend.
»Wenn das so ist, kann ich ja gleich wieder abhaun.«
»Abhaun? Na, dann mal los! Wenn du schon jetzt ans Abhaun denkst, hast du sowieso nicht vor, lange hier zu bleiben.«

Illustrationen, Einband, Schutzumschlag: Peter Nagengast

Mitteldeutscher Verlag, Halle-Leipzig
1. Auflage 1981
2. Auflage 1982

Berechtigte Ausgabe für buchclub 65
Lizenz des Mitteldeutscher Verlag, Halle-Leipzig
1. Auflage 1982
 

Inge Marburg: Die Kinder des Hauptmann Swjetow

Einbandtext:
Swjetow griff zum Fernglas und blickte hinüber. Dort, wo der Bahndamm in den Wald mündete, gewahrte er mehrere Dächer von Eisenbahnwaggons. Sehen aus wie Mäuserücken, dachte er. Er schraubte am Feldstecher herum. Kein Zweifel: ein stillstehender Eisenbahnzug. Swjetow ließ einen Stoßtrupp bilden, nahm Feldwebel Sascha mit, seinen Starschina, und lief mit den Männern zum Wald hinüber auf die Gleise zu.
Da stand der Zug mit zerschossener Lokomotive. Waggontüren und Fenster aufgerissen, die Wagen leer. Die Männer entsicherten die Gewehre. Auf ein Zeichen vom Hauptmann kletterten sie in die Waggons...

Heftanfang:
Er hatte es sich ganz anders vorgestellt, dieses Land, dessen Sprache er so beflissen gelernt, von dessen Gedichten und Liedern er viele auswendig kannte. Kein schöner Land in dieser Zeit...
Nein, das Land hier, das er jetzt mit eigenen Augen sah, war da wohl nicht gemeint. In der Phantasie eines Studenten der Universität Odessa hatte die deutsche Literatur ein ganz anderes Bild zusammengeflunkert, als die Wirklichkeit jetzt darbot. Er wischte die Gedanken schnell weg. Sie waren so unstimmig, trübselig und kompliziert und schwer zu ertragen. Und außerdem, der Frühling war heftig wie lange nicht. Ein Himmel von freiestem Blau, als hätten Bomben und Granaten alle Wolken fortkatapultiert, auf daß der Mai besser glänze.
Hauptmann Swjetow ließ die kleine Truppe halten und absitzen. Die Männer waren durchgeschüttelt, durchgestaucht in ihren Fahrzeugen, die den Granatlöchern auf der Straße selten nur ausweichen konnten. Jetzt vertraten sie sich die Beine, schlugen das Wasser ab, warfen sich müde auf die Böschung des Straßengrabens und dösten. Auf den hügeligen Feldern lagen hier und da noch Kissen von Schnee.
Swjetow steckte sich eine Papirossa an. Er spürte wieder Schmerzen im Bein. Seine Verwundung hatte eine offene Stelle hinterlassen, die immer wieder näßte und, abgeklemmt im Stiefelschaft, nicht recht heilen wollte. Sein Gesicht war spitz geworden. Das dunkelblonde Haar trug er bürstenartig geschnitten. Jedermann aber blickte ihm fasziniert auf den Mund, der die Worte der drei Sprachen, die er beherrschte, mit weichem Wohllaut formte. Swjetow paffte leer vor sich hin. Erinnerung schwamm hoch. Er dachte plötzlich an Kolja, seinen kleinen Bruder. Wie der ihm nachgewinkt hatte damals, als der Zug aus dem Bahnhof rollte... Zwölf war er gewesen und hinter seinen Brombeeraugen saß der Schalk. Wo er sie nur herhatte, die dunklen Augen; vielleicht von der Großmutter. Das waren ihre Augen. Und er sah wieder ihr festes, sensibles, erstaunliches Gesicht. Auch die Großmutter erschossen. So mir nichts, dir nichts. Einfach so, weil die beiden, fest umklammert in ihrer Angst, gerade so dagestanden hatten... Swjetow spürte ein Würgen im Hals. Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar...
Das Lied mit seinen weichen Bildern verschwamm, und vor ihm stand der wirkliche Wald, der in der Ferne von einem Bahndamm durchschnitten wurde. Einen Wald hatte er im Krieg mit militärischen Augen zu sehen gelernt. Nur selten noch stieg Poesie aus dieser grünen Blätterwelt. Angst und Ungewißheit hatten längst jeden Gedanken an Poesie verdrängt. Und der das Gedicht geschrieben hatte, gehörte er wirklich demselben Volk an wie die mit dem Totenkopf über der Nase?
Swjetow atmete schwer. Die Zeit ging nicht zurück. Wie wenig war er doch gewappnet vor innerer Verwundung! Er wischte gewaltsam die Erinnerung beiseite, griff zum Fernglas und blickte hinüber.
Dort, wo der Bahndamm in den Wald mündete, gewahrte er mehrere Dächer von Eisenbahnwaggons. Sehen aus wie Mäuserücken, dachte er. Er schraubte am Feldstecher herum. Kein Zweifel: ein stillstehender Eisenbahnzug. Swjetow ließ einen Stoßtrupp bilden, nahm Feldwebel Sascha mit, seinen Starschina, und lief mit den Männern zum Wald hinüber auf die Gleise zu.
Da stand der Zug mit zerschossener Lokomotive. Waggontüren und Fenster aufgerissen, die Wagen leer. Die Männer entsicherten die Gewehre. Auf ein Zeichen vom Hauptmann kletterten sie in die Waggons. Alles leer. Mann und Maus auf und davon. Die Abteile ein Schlachtfeld. Sitze und Fenster zerstört und zerschlagen, Tornister und Gepäckbündel zerwühlt und zerfleddert, zerlumpte Uniformreste, Mützen, Schiffchen, Gewehre mit leeren Magazinen, Packen und Bündel und Krempel, wohin man trat. Die Männer warfen alles hinaus. Swjetow nahm sich die Gepäcknetze vor, Als er gerade einen Packen zum Fenster hinausbefördern wollte, spürte er plötzlich eine seltsame Wärme in den Händen.
„Hier, halt mal!“ Er drückte dem Starschina das Paket in den Arm und durchsuchte abermals das obere Netz.
Sascha spürte ebenfalls die Wärme und ließ vor Schreck beinahe das Bündel fallen. „Doch nicht möglich, Kapitan, nicht möglich!“
„Festhalten!“ rief Swjetow scharf. Selten nur hörte man aus seinem Munde einen so schneidenden Befehlston. „Laß die andern weitermachen!“ Er kletterte auf der gegenüberliegenden Seite aus dem Waggon. Suchte mit dem Glas die Gegend ab.
„Verdufte, Mensch!“ hörte er plötzlich neben sich. „Überall Russen hier! Wenn die dich kriegen, biste dran. Deine falschen Klamotten da“ – gemeint war Swjetows Uniform –, „die nutzen dann auch nischt mehr!“ Die Stimme kam hinter einem Busch hervor und gehörte einem Jungen, der einen zerbeulten Wassereimer zwischen den Knien hielt. „Und dort“, er zeigte mit dem Daumen nach hinten in Richtung der Waggons, „nur Tote drin. Die andern alle abgehauen.“
„Gib mal den Eimer her!“ Swjetow in seinem tadellosen Deutsch sagte es wie beiläufig, stellte den Eimer neben sich ins Gras und schaufelte sich das Wasser ins Gesicht. Er prustete wild.
Unter dem Eisenbahnzug krochen jetzt die übrigen Männer hervor, Maschinenpistolen im Anschlag. Der Starschina mit dem Bündel im Arm blieb an der Böschung stehen. Der Eimer ging reihum.
Der Junge hinter dem Busch hatte sich wie der Blitz niedergeduckt, schmiegte sich an seine Schwester, die ängstlich im Busch kauerte, und starrte entgeistert durch das Gestrüpp.
Swjetow packte Sascha am Arm und wies auf den Busch. „Hierbleiben!“ befahl er auf russisch. Sascha setzte sich neben den Strauch, legte das Bündel ins Gras, pflanzte die Maschinenpistole auf, holte Zigaretten heraus und stieß Rauchkringel in die Luft. Er schmauchte genüßlich und hielt belustigt die Zigaretten durch die Zweige, grinste den Jungen an. Der wandte sich erschrocken ab. Das Mädchen verbarg sein Gesicht im Armel.
Swjetow war indessen mit den Männern in den Zug zurückgeklettert. Sie warfen hinaus, was sie noch fanden. Ein Lappen kam durch die Luft geflogen. Sascha fing ihn geschickt, umwickelte die Füße mit der unverhofften Errungenschaft und fuhr mit Bedacht in die Schäfter zurück. Der Junge und das Mädchen hinter den Ästen saßen da wie angefroren, beobachteten jeden Handgriff. Als unmittelbar neben ihnen eine Mütze im Gebüsch niederging, konnte sich der Junge nicht beherrschen. Er griff danach und stülpte sie sich auf den Schädel. Das schwarze Ungetüm mit dem Totenkopf rutschte ihm über die Ohren. Er zwinkerte mit den Augen, blies die Backen auf und erhob mit stummer Gebärde zu seiner Schwester hin den Arm zum deutschen Gruß. Das Mädchen zog eine Grimasse.
Swjetow war zum Starschina zurückgekehrt. Die Männer verhandelten miteinander etwas, was der Junge nicht verstehen konnte, und wurden sich anscheinend nicht einig. „He!“ rief Swjetow zum Busch hinüber. „Komm 'raus!“
Der Junge blickte ratlos die Schwester an. Doch ehe er sie etwas fragen konnte, gab sie ihm einen Schubs. Er kullerte unversehens die Böschung hinunter. Swjetow mußte lachen und hielt ihm das Bündel entgegen. „Halten!“ befahl er.
Der Junge stolperte die Böschung hinauf. Swjętow legte ihm das Paket in den Arm. Er blickte in ein Knabengesicht von bitter verschlossenem Ausdruck. Dabei sah er die Mütze auf dessen Kopf, die auf häßlich abstehenden Ohren saß. Er nahm sie ihm sachte ab und schleuderte sie in hohem Bogen den Bahndamm hinunter. „Die steht dir nicht!“ Der Junge stand reglos vor ihm. Die Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht. Die Schwester kroch ängstlich unter dem Strauch hervor und klammerte sich an den Bruder, die Augen bald auf Swjetow, bald auf das Bündel gerichtet.
„'s ja warm!“ rief der Junge plötzlich und unterzog das zusammengewickelte Etwas einem furchtsamen Studium.
„'n Windelscheißer!“ schrie das Mädchen fassungslos. Kindliche Freude bewegte sein ganzes Gesicht.

Illustrationen Jürgen Wagner

Militärverlag der DDR, Berlin
Reihe:
Erzählerreihe 294
1. Auflage 1986 

27 Juni 2025

Peter Kaiser, Norbert Moc und Heinz-Peter Zierholz: Der Rädelsführer

Einbandtext:
Die drei Flüchtlinge beschleunigten ihre Schritte. Da der Weg jedoch leicht bergan führte, kamen sie nicht allzu schnell voran. Als sie schließlich auf dem Rabenstein anlangten, der durch einen Galgen in der Gewitterstimmung besonders gespenstisch wirkte, fielen die ersten Tropfen. Dick und schwer klatschten sie hernieder, und es war, als öffneten sich Schleusen. Sie suchten unter Bäumen Schutz, doch bald waren sie völlig durchnäßt. So rannten sie weiter die Landstraße entlang. Endlich sahen sie in der Ferne ein Haus. In zwei Fenstern flackerte Kerzenlicht. Sie liefen auf die schützende Behausung zu. Jakob Schaffer klopfte an die starke, eisenbeschlagene Bohlentür. Nach einiger Zeit wurde sie von drinnen ruckartig aufgestoßen. Ein mürrisch blickender, grobschlächtiger Kerl knurrte sie an: „Was wollt ihr denn bei dem Sauwetter hier?“
„Wir suchen eine Unterkunft, laßt uns um Gottes willen ein, wir sind naß bis auf die Haut.“
„Na schön, kommt schon 'rein“, lautete die nicht gerade liebenswürdige Einladung.
Die drei Flüchtlinge sahen sich betreten an. Irgendwie wirkte der Mann unheimlich auf sie...

Heftanfang:
„Johann, mein Junge, wach auf!“ Behutsam versuchte Meister Christoph Wagener seinen Sohn zu wecken. Es dauerte jedoch ein Weilchen, bis der Junge die Augen aufschlug. Doch dann war er mit einem Satz auf den Beinen, streifte sich Hemd und Hose über und folgte, jedes Geräusch vermeidend, dem Vater zur Tür. Dort erwartete sie bereits Jakob Schaffer, der Geselle Wageners. Neben der Tür, in der Dunkelheit kaum erkennbar, lagen drei Bündel, ein kleines für Johann, zwei stattliche für die beiden Männer. Sie enthielten neben Proviant und einigen persönlichen Habseligkeiten auch die notwendigsten Werkzeuge, die der Meister und sein Geselle für die Ausübung ihres Berufes, des Messerschmiedehandwerks, benötigten, sowie einige Messer, die als Tauschobjekte dienen sollten.
Jeder griff sein Bündel. Wagener öffnete vorsichtig die Tür, die er am Abend zuvor so präpariert hatte, daß jetzt auch nicht das leiseste Knarren zu hören war, denn würde Meister Tenner, der die zweite Hälfte des Wagenerschen Hauses bewohnte, oder der Nachtwächter ihr Weggehen bemerken, ihre Flucht wäre zu Ende, ehe sie noch richtig begonnen hatte.
Die lange, schnurgerade Straße der Vorstadt, zu beiden Seiten von Bäumen umsäumt, war menschenleer. Dunkel duckten sich die Häuser, Nirgends brannte Licht. Auch der Nachtwächter war nicht zu sehen. In einiger Entfernung hob sich als schwarzer Schattenriß Neustadt-Eberswalde vom grauen Himmel ab.
Vorsichtig schlichen die drei auf die Straße. Im Schutz der Bäume liefen sie in Richtung Ziegelei, die zur Eisen- und Stahlwarenmanufaktur der Berliner Bankiers Splittgerber und Daum gehörte. Wenige Häuser davor bogen sie nach links ab und überquerten eine kleine Brücke. Eine Wolke schob sich vor die helle Mondsichel. Nach kurzem Fußmarsch erreichten sie die sogenannte Bürgerheide. Schon zeigte ein heller Streifen am Horizont die aufgehende Sonne an.
Die Flüchtlinge schwiegen noch immer und marschierten beharrlich weiter. Sie wollten den Vorsprung gegenüber etwaigen Verfolgern so groß wie möglich halten.
Stunden später, die Sonne stand schon hoch am Himmel, ließen sich Christoph Wagener und seine Begleiter am Rande einer Lichtung nieder. Der Junge rieb sich die zerkratzten Füße. Er war barfuß über den mit Kiefernnadeln übersäten Waldweg gelaufen. Wie die meisten Kinder hatte er für den Sommer nur ein Paar Holzpantinen, und auch die durften nur an Sonn- und Festtagen oder wenn das Wetter gar zu schlecht war, getragen werden; ........

Umschlaggestaltung und Illustrationen Wolf-E. Roß

Militärverlag der DDR, Berlin
Reihe:
Erzählerreihe 263
1. Auflage 1982