31 Januar 2024

Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR (Hrsg.): Aktenvermerk R.u. – Ein Bericht über die Solidarität und den Widerstand im Konzentrationslager Mauthausen von 1938 bis 1945

Klappentext:
Das Konzentrationslager Mauthausen im besetzten Österreich wurde 1941 zum KZ der Lagerstufe III erklärt. Auf den Akten der hier eingelieferten Häftlinge stand: «R. u.», «Rückkehr unerwünscht», das hieß Vernichtung durch Zwangsarbeit oder durch direkten Mord. Doch schon seit 1938, dem Jahr der Errichtung dieses Lagers, war das die hier geübte Praxis. An die 122 000 Ermordete aus Deutschland und aus allen okkupierten Ländern Europas bezeugen, mit welchem Eifer die oben genannte Anordnung befolgt wurde. Aber auch inmitten des grauenhaften Alltags dieses Vernichtungslagers waren Solidarität und Widerstandswillen eine nicht zu beseitigende Realität. Die moralische Kraft der inhaftierten Antifaschisten, ihre kluge Taktik gegenüber den Wachmannschaften sowie ihr fester Zusammenhalt halfen, einigen tausend Gefangenen das Leben zu retten, und trugen dazu bei, gegen Kriegsende die Liquidierung eines großen Teils der Häftlinge zu verhindern.
Ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen geben mit diesem Bericht ein erschütterndes und eindringliches Zeitbild.

Buchanfang:
Vorwort
Man nennt sie wohl die «drei heiligen Affen» – der eine verstopft sich die Ohren, der zweite verdeckt seine Augen, der dritte verschließt sein Maul. Auch der Mensch kann sich so verhalten: taub, blind, stumm, gleichgültig gegenüber politischem Geschehen. Er muß aber dabei in Kauf nehmen, nicht sinnvoll an der Gegenwart und Zukunft seines Volkes mitzuwirken, sondern dem Spießbürger in Goethes «Faust» zu ähneln, der gemütlich beim Frühschoppen sitzt und ungerührt über Krieg und Kriegsgeschrei schwätzt, wenn «hinten, weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen».
Es tut not, Geschichtsbewußtsein zu besitzen, vor allem wenn die Vergangenheit so verlief wie die unsrige – grausam, unmenschlich auf der einen, heldenmütig und Menschlichkeit verteidigend auf der anderen Seite. Aus einem solch tiefgreifenden Geschichtsabschnitt wie dem von 1933 bis 1945 mahnen die Toten uns Lebende, mahnt eine fast völlig vernichtete Generation die nach ihr Kommenden, wachsam zu sein für die Zukunft der Menschheit.
Vor uns liegt eine Schrift, die Geschichte dokumentiert, mit unwiderlegbaren Tatsachen. Erinnerungen von Menschen, die alle nur denkbaren Erniedrigungen und Schmerzen erdulden mußten. Sie hielten es aus, blieben standhaft, erwiesen sich auch angesichts des Todes stärker als ihre Feinde, weil sie etwas besaßen, was niemand ausrotten kann – Menschenwürde, hohe Moral, Wissen um den Sieg der Mutigen und Kühnen in dieser Welt.
Nur ein kleiner Zeitabschnitt unserer Vergangenheit wird hier ins Gedächtnis gerufen. Der Bericht vermittelt Erlebnisse aus dem faschistischen KZ Mauthausen, das seine Urheber selber treffend als Vernichtungslager eingestuft hatten. Ja, es war eine Vernichtungsanstalt mit allem, was dazu gehörte. Was für Erfinder! Welch abgrundtiefer Menschenhaß tobte sich hier aus! Welch wahnwitzige Politik offenbarte sich da! Eine Politik, die das Ziel verfolgte, alle Gegner umzubringen, ganze Völker auszulöschen, sich die Welt zu unterjochen und die Erde in ein Massengrab zu verwandeln.
Faschismus – eine Philosophie, eine Ideologie? Nein – oder höchstens geistiger Ausfluß einer Verbrecherbande. Faschismus war und ist die Staatsform der brutalsten Kreise des Finanzkapitals, das immerzu nach Weltherrschaft strebt. Und wer sich diesem System widersetzt, muß beseitigt werden – Welteroberungspläne aber scheitern unweigerlich an jener Macht, die mit dem wissenschaftlichen Sozialismus der Menschheit den Weg aus dem Dschungel der Ausbeutung und Unterdrückung in die Freiheit menschlichen Daseins bahnt und die seit dem Oktober 1917 ihren Siegeszug angetreten hat. Deswegen ist Faschismus vorrangig Antikommunismus, den Thomas Mann – dieser großartige Sänger des fortschrittlichen Bürgertums – bekanntlich als Grundtorheit unseres Jahrhunderts bezeichnete. Eine Tollheit, die unter dem Faschismus zur Staatsdoktrin erhoben und zur sogenannten Theorie des «Übermenschen» hochgestapelt wurde, um den Massenmördern das moralische Recht zum Verbrechen großen Stils zu verschaffen.
Das KZ Mauthausen wurde 1938 in einem Gebiet errichtet, in dem die deutsche Kriegsindustrie eines ihrer Zentren aufzubauen begann. Die Herren von Kohle und Stahl ließen hier mächtige Produktionsbasen aus dem Boden stampfen, Rüstungsbetriebe, erbaut von Häftlingen, die deshalb Gefangene waren, weil sie sich gegen den Raubkrieg wendeten. Die SS wußte schon, wie man Gegner des Faschismus zur Zwangsarbeit treibt, sie hatte für diesen Fall gründlich studiert, geprobt und praktiziert – von den Martern der antiken Sklaverei bis hin zu den Killermethoden der Neuzeit. Auf diesen Tätigkeitsfeldern waren sie «gebildete» Leute. Und wer steckte den Gewinn ein, den sie aus den Häftlingen herauspreßten? Das waren doch Superprofite! Man bedenke: Die Arbeitssklaven bekamen keinen Lohn, hatten keine Sozialversicherung, keine Gewerkschaften, keine Krankenfürsorge, und die Ernährung wurde auf ein Minimum reduziert, denn faschistische Experimente hatten längst bewiesen, daß ein Mensch mit wäßrigen Suppen aus verfaulten Kohlrüben und Kartoffelschalen auch bei allerschwerster Arbeit noch eine ganze Weile leistungsfähig bleibt. Kurz: Alle Rechte, die sich die Arbeiterklasse in langwierigen, opferreichen Kämpfen erfochten hatte, bereiteten nun den Aufsichtsräten der deutschen Rüstungskonzerne keinen Kummer mehr. Starb ein Häftling, gab es genügend Ersatz aus dem unerschöpflichen Reservoir des «Großdeutschen Reiches» und der okkupierten Länder. So leicht sind Profite noch nie erzielt worden. Die Herren glaubten auf ewig am Drücker zu sein, und das machte sie immer gieriger, immer tollwütiger, und sie schickten ihre «Wüstenfüchse», ihre großdeutschen Divisionen, ihre Panzerknacker-Generale und U-Boot-Haie los, schmückten ihre Raubritter mit Eichenlaub und Schwertern und goldenen Kreuzen, spornten ihre SS-Totenkopfverbände zur Jagd auf «Menschenmaterial» an, damit die Kasse stimmte.
Das Buch beleuchtet also eine historische Etappe, die nicht in Vergessenheit geraten darf, denn solange die Geschichte nicht ein für allemal durch die Expropriation der Expropriateure korrigiert wird, solange besteht Gefahr, daß Krieg und Faschismus erneut die Menschheit bedrohen.
Wenn wir auf diese Zeit zurückblicken, dann reiht sich vor unserem geistigen Auge Grab an Grab, dann verkrampft sich unser Herz bei den Gedanken an alle unsere Freunde, Kampfgefährten, Genossen, die nicht überlebten. Daß der Faschismus Millionen Menschen hinschlachtete, läßt uns noch heute vor Entsetzen erstarren. Der Kamerad, der mit uns litt, mit uns gegen die Barbarei kämpfte und von unserer Seite gerissen wurde, läßt uns trauern. Der tote Kamerad war vielleicht ein Christ oder ein bürgerlicher Demokrat oder ein Sozialist, er war Deutscher, Franzose, Italiener, Tscheche, Russe, Pole oder vielleicht Jugoslawe – auf jeden Fall ein Mitstreiter. Und ohne Unterschied trauern wir um alle, die ihr Leben lassen mußten. Unsere Erinnerungen gelten besonders dem standhaften Revolutionär, dem Kommunisten, der für viele Vorbild war, der den Verzweifelten aufrichtete, dem Mutlosen neuen Mut einflößte, der sein letztes Stück Brot hergab, um anderen zu helfen. Woher nahm der Kommunist die Kraft, daß er sich so selbstlos für andere aufopferte? Warum erzählte er von den Beschlüssen seiner Partei und erläuterte, daß und wie der illegale Kampf auch im faschistischen Konzentrationslager fortgesetzt werden müsse? Warum sprach er zu seinem Mithäftling vom Sieg der Roten Armee, als der faschistische Rundfunk den Vormarsch der Hitlertruppen bejubelte? Darum, weil er von allen Häftlingen der politisch bewußteste, disziplinierteste war. Erprobt, gestählt im illegalen Kampf, trug er auch im Lager seine Überzeugung weiter, bemüht, die Front der Hitlergegner zu stärken und zu festigen. Er verstand viel von konspirativer Arbeit und fand trotz strengster Bewachung Wege, außerhalb des Lagers Kontakte mit Antifaschisten herzustellen. Er hatte ein stark ausgeprägtes Gefühl für Solidarität, nicht aus bloßer Barmherzigkeit, sondern als Waffe im Klassenkampf. So war der Kommunist auch im KZ der von der SS gehaßteste; die Häftlinge aber schätzten ihn als zuverlässigen Kameraden. Könnte man doch alle Namen dieser Unbeugsamen aufrufen und alle Nationen, denen sie angehörten; hätten wir doch die Feder, um solch tapferen Menschen das Ruhmesblatt zu schreiben, das ihren Taten gebührt.
Möge diese Schrift sowohl durch ihre sachlichen Informationen über historische Vorgänge als auch durch die wahrheitsgetreue Schilderung der Grausamkeiten den Leser bewegen; vor allem jedoch sollte sie in ihm das Hohelied auf den proletarischen Internationalismus, das Hohelied auf die Widerstandskämpfer aller Nationen zum Klingen bringen.
Nicht ohne Zorn vernehmen wir heutigentags die Kunde von der «Hitler-Welle» in der BRD oder die schreckliche Nachricht aus einer Bundeswehr-Hochschule in Bayern, wo Offiziere «Judenvergasung» übten, oder die Meldungen über Hakenkreuz-Schmierereien auf Gräbern ermordeter Antifaschisten oder die skandalösen Berufsverbote für Demokraten, Sozialisten, Kommunisten und Angehörige ehemaliger Widerstandskämpfer. Und ewig das Gelaber, man solle doch endlich aufhören, von der Vergangenheit zu reden, man «beschmutze damit ja das eigne Nest». Wie verlogen, im gleichen Atemzug von Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit zu sprechen! Dort drüben geht es also noch immer darum, das Volk zu übertölpeln, unmündig zu halten – nach dem Muster der «drei heiligen Affen»: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Der Mensch aber ist kein Affe, sondern ein vernunftbegabtes Wesen, er braucht scharfe Augen und ein feines Gehör, um zu erkennen, was ringsum passiert; er braucht seine Stimme, um ein Verbrechen beim Namen zu nennen und die Melodie der Zukunft zu singen. Er benötigt überhaupt wachen Verstand, wenn ihm das Schicksal seines Volkes nicht gleichgültig ist und er Mitgestalter einer menschenfreundlichen, friedliebenden Gesellschaftsordnung sein will.
Horst Sindermann
ehemaliger Häftling im KZ Mauthausen


Schutzumschlag und Einband: Wolfgang Ritter
Kartenzeichnungen: Wilhelm Kaufmann

Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin

1. Auflage 1979 [1.-12. Tsd.]
2. überarb. Auflage 1981 [13.-22. Tsd.]
3. Auflage 1989

Anne Geelhaar: Der Affenbaum – Indische Fabeln

Buchanfang:
Der Affenbaum
Ein Händler ging durch den Palmenhain. Die Mittagshitze ermüdete ihn. Er stellte den Korb mit der Ware ins Gras. Kreuzte die Beine und setzte sich.
Die Augen fielen ihm zu. Er schlief ein Viertelstündchen. Als er erwachte, erschrak er. Sein Korb war leer, die Ware verschwunden.
Der Mann sprang auf.
»Diebe! Man hat mich bestohlen! O Brahma, Gott aller Welten, nur diesen Turban, den ich trage, haben sie mir gelassen.«
Er blickte auf und entdeckte im Baume über sich an die sieben mal sieben Affen. Die hoben die buntgeschmückten Häupter und schauten wie er zum Himmel.
»Ihr lieben Tiere, gebt meine Ware zurück. Ich muß sie verkaufen. Wovon soll ich leben?«
»Eben.« Die Affen rangen wie er die Hände.
Vielleicht hilft List, dachte der Mann, und er sprach: »Es sind besondere Turbane. Für den Maharadscha. ..... «

Illustrationen von Karl-Heinz Appelmann
 
Der Kinderbuchverlag, Berlin

1. Auflage 1986
2. Auflage 1989

Joachim Nowotny: Ein Lächeln für Zacharias

 


Illustrationen von Horst Bartsch

Für Leser von 6 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin

1. Auflage 1983
2. Auflage 1985

 


Dora Schaul: Résistance – Erinnerungen deutscher Antifaschisten

Vorbemerkung
In diesem Buch werden erstmalig Erinnerungen deutscher Antifaschisten zusammengefaßt, die während des zweiten Weltkrieges an der franzö-ischen Résistance teilgenommen haben. Die Beiträge wurden aus einer Fülle von Berichten unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, die verschiedensten Seiten des Widerstandskampfes zu zeigen.
Dieser Band soll und kann keine Wertung des persönlichen Einsatzes der einzelnen deutschen Antifaschisten in Frankreich bedeuten. Viele können nicht mehr berichten, sie weilen nicht mehr unter den Lebenden. Andere, die in der Vergangenheit bewiesen haben, wie gut sie es verstanden, illegal zu kämpfen, mit dem Maschinengewehr und mit Sprengstoff umzugehen, können ihre Taten nur schwer in Worten ausdrücken. Manche hatten großartige, atemberaubende Erlebnisse, andere wiederum verrichteten unter ständiger Lebensgefahr tagtägliche Kleinarbeit, tippten Wachsplatten, vervielfältigten Flugblätter und Zeitungen und verteilten sie mutig ohne daß sich Sensationelles darüber sagen ließe. Dieses Buch soll für alle deutschen Widerstandskämpfer in Frankreich sprechen, auch für diejenigen, die hier nicht zu Wort kommen konnten, und für diejenigen, deren Namen ungenannt blieben.
Allen, die durch ihre Berichte zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben, herzlichen Dank.

Einführung
Die Tätigkeit deutscher Antifaschisten in der französischen Résistance während des zweiten Weltkrieges ist ein wichtiger Abschnitt des Widerstandskampfes, der unserem Volk, insbesondere unserer Jugend, immer wieder nahegebracht werden sollte. Denn auch in Frankreich standen deutsche Freiheitskämpfer in der Bewegung gegen den deutschen faschistischen Imperialismus. Auch hier erwies sich die Kommunistische Partei Deutschlands durch ihre richtige Politik als führende und organisierende Kraft der deutschen Hitlergegner. Auch hier bildeten die von den Kommunisten geführten Arbeiter den Kern jener Einheits- und Volksfront, die sich im Widerstandskampf verwirklichte und bewährte. Die Haltung der Sowjetunion, vor allem ihre militärischen Siege und ihr immer sichtbarer werdender Triumph über die imperialistischen faschistischen Feinde, gaben auch den Deutschen in der Résistance Kraft und Aufschwung.
Da dieses Buch nur Handlungen deutscher Antifaschisten zum Inhalt hat, besteht die Gefahr, die richtigen Proportionen aus den Augen zu verlieren. Es sei daher unterstrichen, daß die illegale Tätigkeit der deutschen Widerstandskämpfer in Frankreich, gemessen am Kampf des französischen Volkes, nur einen relativ bescheidenen Beitrag darstellt. Als Bestandteil der deutschen antifaschistischen Widerstandsbewegung jedoch kommt dieser Aktivität hohe Bedeutung zu. Die deutschen Angehörigen der Résistance handelten als Patrioten, indem sie stets das Ziel eines demokratischen und friedliebenden, vom Faschismus befreiten Deutschlands vor Augen hatten. Sie handelten zugleich als Internationalisten, indem sie Seite an Seite mit ihren französischen Klassenbrüdern und mit Angehörigen vieler anderer Nationen gegen die faschistischen Okkupanten kämpften.
In der französischen Literatur wurde die Teilnahme deutscher Kämpfer an der Résistance des öfteren gewürdigt. Das Werk von Florimond Bonte „Les Antifascistes Allemands dans la Résistance Française“ (Die deutschen Antifaschisten in der französischen Widerstandsbewegung), Paris 1969, ist ausschließlich diesem Thema gewidmet. In französischen Büchern über die Résistance und in Erinnerungsbänden verschiedener Regionen Frankreichs gibt es vielfach ganze Kapitel ......

Zusammengestellt und bearbeitet von Dora Schaul
Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED

Mit 57 Abbildungen und Textillustrationen

Einband und Schutzumschlag: Rainer Menschik

Dietz Verlag, Berlin

1. Auflage 1973
2. Auflage 1975
3. erg. Auflage 1985  

Einband der 3. Aufl. 1985


30 Januar 2024

Peter Abraham: Von Elchen und Ohrenpilzen – Eine Reise nach Finnland


Drei Wochen lang habe ich mich in Finnland aufgehalten. Nirgendwo war ich einem Elch begegnet. Am letzten Tag stieg ich im Südhafen Helsinkis auf eines der kleinen Motorboote und fuhr auf die Insel Korkeasaari. Dort befindet sich der Zoo – auf einer felsigen Insel. Die Gehege sind mal am Meer, mal auf den Felsen. Nach längerem Suchen fand ich mehrere Elche. Ich schaute einem Tier, das der Absperrung am nächsten stand, lange in die Augen und erwartete, daß es mir endlich eine brauchbare Geschichte erzählen würde ...

Illustrationen von Stephan Köhler

Der Kinderbuchverlag, Berlin

1. Auflage 1987

Marlene Dietrich: Nehmt nur mein Leben ... – Reflexionen

Klappentext:
Millionen in der Welt sahen ihre Filme, hörten ihre Chansons und ließen sich über Jahrzehnte hinweg von ihrem Gesicht, ihrer Stimme, ihrer sinnlichen Ausstrahlung faszinieren. Unter den großen Stars der Leinwand und der Bühne ist Marlene Dietrich einer der größten. In diesem Band erzählt sie die Geschichte ihres Anfangs und ihres kometenhaften Aufstiegs. Sie beschreibt, wie sie mit Josef von Sternberg den unsterblichen »Blauen Engel« drehte und ihre Darstellung der Lola-Lola sie über Nacht berühmt machte; wie sie im zweiten Weltkrieg an den verschiedenen Kriegsschauplätzen vor Truppen auftrat und wie sie in den sechziger Jahren eine neue, inzwischen legendäre, erfolgreiche Karriere als Sängerin und Bühnenstar begann. Marlene Dietrich erzählt von ihrer Kindheit in Berlin, von den großen Freundschaften ihres Lebens zu den Schauspielern Jean Gabin, Gary Cooper, Orson Welles, zu den Dichtern Ernest Hemingway, Erich Maria Remarque, zu den Sängern Frank Sinatra, Edith Piaf und Noel Coward – von den Menschen, mit denen sie lebte, ihrem Mann und ihrer Tochter Maria. Wir hören von Künstlern, mit denen sie in allen Studios der Welt arbeitete, den Regisseuren von Sternberg, Ernst Lubitsch, René Clair, Billy Wilder, Alfred Hitchcock und Stanley Kramer. Ihre Worte über Liebe und Freundschaft sind bewegend und ehrlich. Dies ist ein Buch einer der ungewöhnlichsten Frauen unseres Jahrhunderts.

Buchanfang:
Dieses Buch ist niemandem, den ich kenne, gewidmet.
Es ist den Lesern gewidmet, die mich gern auf der Leinwand und auf der Bühne sahen, die mir das Leben erleichtert haben, so daß ich Geld verdienen konnte, Steuern bezahlen konnte und die flüchtigen Freuden des Lebens genießen konnte.
Ich hoffe, dieses Buch wird Ihnen gefallen – und ich hoffe auch, daß Sie mit mir ein wenig lächeln werden.

Vorwort
Ich schreibe, um Dinge richtigzustellen. Sehr viele Unwahrheiten sind über mich veröffentlicht worden – und oft genug nur, um auf meine Kosten Geld zu verdienen. Ich war nie in der Lage, diese Veröffentlichungen zu verhindern. Entweder waren sie, wenn ich davon hörte, schon längst erschienen, oder die Gesetze in den betreffenden Ländern boten keinen hinreichenden Schutz gegen Verleumdung und Verletzung des Persönlichkeitsrechts.
Alle diese »Biographen« besaßen leider nicht den Anstand, sich mit mir in Verbindung zu setzen, ehe sie ihre Bücher schrieben. Ernest Hemingway nannte solche Leute »Parasiten«. Wenn man mich an den Bühneneingängen der Theater darum bat, solche Bücher zu unterschreiben, habe ich mich geweigert. Doch das ist keine Lösung des Problems.
Ich spreche nicht gern über mein Leben. Aber da anscheinend ein allgemeines Interesse vorliegt, schreibe ich dieses Buch. So kann auch ich nur versichern, daß ich versucht habe, die Ereignisse, die mein Leben bestimmen, aufrichtig und den Tatsachen entsprechend darzustellen.
Ich habe nie Tagebücher geführt. Ich habe mich selbst nie ernst genug genommen, um niederzuschreiben, was ich Tag für Tag tat. Der Ruhm, der plötzlich auf mich herabfiel, bedeutete mir nichts. Ich war mir lange Zeit nicht einmal dieses Ruhms bewußt. Als der Ruhm für mich Wirklichkeit wurde, war er eher lästig, hemmend und gefährlich. Ich bin, im Gegensatz zu vielen Schauspielern, wahrscheinlich keine »Komödiantin«, ich liebe es auch nicht, auf Straßen und Flugplätzen erkannt und von Fremden angesprochen und bewundert zu werden.
Viele Schauspieler verändern sich, wenn sie den ersehnten Ruhm erlangt haben. Ich nicht. Ich hatte immer eine Laissezaller-Einstellung, die man selten bei jungen Schauspielern findet. Was auch immer die »Biographen« behaupten, ich war nie reklamesüchtig, tat nie etwas nur der Reklame wegen. Genau das Gegenteil war der Fall, sehr zum Kummer der Filmgesellschaften, für die ich arbeitete. Ich habe auch nie Fotos, Zeitungsausschnitte oder Kritiken gesammelt. Ich gab die verlangten Interviews, um meine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen, aber das war auch alles.
Ich schrieb, wie gesagt, auch keine Tagebücher. Man kann sich nicht ganz auf sein Gedächtnis verlassen. Wir alle haben Erinnerungen und Eindrücke, die vielleicht nicht immer ganz stimmen oder wahrheitsgetreu sind. Meine Mutter ist tot; ich kann sie daher nicht nach Begebnissen meiner Kindheit oder meiner Jugend fragen.

Mein Name ist Marlene Dietrich – das ist kein »Bühnenname«, wie so oft geschrieben wurde. Fragen Sie irgendeine Schulfreundin von mir, sie wird Ihnen das gleiche sagen!
Ich war sehr dünn und blaß als Kind, mein Haar war rötlichblond. Dieses rötlichblonde Haar gab mir eine weiße Gesichtsfarbe, eine ziemlich durchsichtige Haut, die den Rotblonden eigen ist. Ich sah ziemlich krank aus.
Meine Familie hatte Geld; ich bekam die beste Erziehung. Gouvernanten und Privatlehrer lehrten mich »Hochdeutsch« zu sprechen, die Sprache in ihrer reinsten, edelsten Form, nicht vom Dialekt gefärbt. Und Französisch und Englisch lernte ich schon in meiner Kindheit dank meiner Mutter.

Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin

1. Auflage 1984
2. Auflage 1985

Rolf Hochhuth: Jede Zeit baut Pyramiden – Erzählungen und Gedichte

Unerhörte Begebenheiten, die für Rolf Hochhuth die Wirklichkeit immer bereithält, organisieren seine Erzählungen. Berühmt wurde die Geschichte jenes Mädchens, das in einer Bombennacht die Leiche ihres hingerichteten Bruders heimlich bestattet. Wie durch diese Berliner Antigone geht der Riß der Zeit durch die meisten Figuren Hochhuths.
Angesichts der zahllosen Opfer von Krieg und Völkerverbrechen könne man unsere Epoche die der Flüchtlinge nennen. Doch Rolf Hochhuth fällt sich selbst ins Wort: »Natürlich wird man das nicht tun: man wird sie das Atomzeitalter nennen, weil das Technische leider größeren Eindruck macht als das Menschliche ...« Trotzdem weiß Rolf Hochhuth, daß zum Menschen der Erfindungsgeist gehört. Dessen Früchte müssen allerdings die menschliche Existenz sichern helfen. Als beispielhaft dafür stellt Hochhuth den englischen Mathematiker Alan Turing dar, wobei er – wie immer – gründlich recherchierte, zugleich aber die historische Figur benutzt, um sein Bild des Menschen in der Geschichte zu zeichnen. Die von Turing begründete Theorie des Computers erleichterte die Entschlüsselung der Wehrmachtsbefehle, nachdem Polen die Bedeutung der deutschen Codiermaschine erkannt und einige Apparate erbeutet hatte. Freilich konnten diese Leistungen erst durch die Soldaten der Antihitlerkoalition zur kriegsentscheidenden materiellen Gewalt werden. Der Mann, Alan Turing, dem Hochhuth eine Bedeutung zumißt wie sonst unter den Briten nur noch Churchill, mußte in den Schatten der Geschichte zurücktreten.
das Flüchtigste: der Mensch – diese Überschrift eines Gedichtzyklus im vorliegenden Band bedeutet für Rolf Hochhuth zugleich Erfahrung und Warnung. Gerade mit Gedichten, seiner Art, Tagebuch zu schreiben, spürt er die Momente der Flüchtigkeit auf, die im Leben jedes einzelnen, Liebe und Tod vor allem, und solche in der Menschheitsgeschichte. Das Meer mit seiner grandiosen Monotonie, in der Welle auf Welle folgt, wird zum Gleichnis, und das Meer zu pflügen, wie der Revolutionär Simon Bolivar sagte, versteht Rolf Hochhuth als die Aufgabe des Menschen: das Notwendige stets von neuem zu versuchen, im Flüchtigen das Dauernde zu finden.

Einbandentwurf: Gerhard Medoch

Verlag Volk und Welt, Berlin

1. Auflage 1988  

29 Januar 2024

Albrecht Franke: Zugespitzte Situation

Buchanfang:
Ich hatte längere Zeit überhaupt nicht an Simone Kreuzner gedacht. Viele Probleme, darunter der Umzug in eine neue Wohnung, beanspruchten meine Aufmerksamkeit. Durch eine zufällige Begegnung mit Simones Vater geriet ich jedoch plötzlich in einen Strom von Erinnerungen.
Kreuzner fuhr mit einem Pferdegespann durch den Neubauring. Daß er in der Schoßkelle saß und kutschierte, sah ich allerdings erst, als wir uns auf gleicher Höhe befanden. Wir erkannten uns fast gleichzeitig. Kreuzner nickte mir knapp zu und trieb dann seine Gäule an. Ich sagte ebenfalls nichts, hob nur die freie Hand zu einer lässigen Grußgebärde. Wahrscheinlich hätte ich ihn angesprochen und mich nach Simone erkundigt, wenn sein Gruß freundlicher ausgefallen wäre. Aber konnte ich das überhaupt erwarten? Ging es um Simone oder um Nuancen der Freundlichkeit? Trotzdem konnte ich mich nicht entschließen, Kreuzner zu folgen. Ich bog sogar in einen tunnelartigen Hausdurchgang ein, als ich sah, daß Kreuzner am Ende der Straße anhielt, um die Kübel zu leeren, die man für die Sammlung von Küchenabfällen im Neubaugebiet aufgestellt hat. Mein Spaziergang endete wie eine Flucht.
Ist also doch nur Unsicherheit geblieben? Oder etwas wie eine Befürchtung, Schaden angerichtet zu haben? Vielleicht würde ich mich sicherer fühlen, wenn man mir Eigenmächtigkeit, Wichtigtuerei oder die Verletzung von Dienstvorschriften unterstellt hätte.
Aber alle hatten schweigend mein Vorgehen akzeptiert: Kreuzners, Simone, der Direktor, selbst Eveline. Ich habe mich nicht rechtfertigen müssen. Auch nicht deswegen jetzt, nach mehr als einem Jahr, der Versuch, die Vorgänge zu rekonstruieren. Vielmehr geht es darum, daß ich, was damals geschah, nicht als endgültig gelöst oder abgeschlossen empfinden kann.
Zurückdenken.
Reminiszenzen. Auch an das Gefühl von Ohnmacht und Sprachlosigkeit. Bezeichnend, daß immer nur von der »Sache Kreuzner« die Rede war, mit einem Wort jongliert wurde, das einen Verstoß gegen die Disziplin assoziiert. Simone Kreuzners Tat als das anzusehen war am einfachsten, auf diese Weise ließ sie sich in den täglichen Schulbetrieb eingliedern, gewann den Schein von Normalität. Es war die Zeit, in der ich allmählich das Ausmaß der indolenten Bequemlichkeit begriff, die ich mir während des Jahrzehnts meines Lehrerdaseins nach und nach zugelegt hatte. Freilich, da waren gute Vorsätze, ein paar Extratouren, der Wille zum Anderssein und Andersmachen. Trotzdem begann ich, mir einzureden, daß allein gute Stoffvermittlung und Ruhe in den Klassen wichtig seien. Ansichten eines im großen und ganzen braven Pädagogen mit pünktlichen Gehaltshöherstufungen, regelmäßigen Prämierungen und einer Bronzemedaille für treue Dienste. Im Trott von Schuljahr zu Schuljahr, von Ferien zu Ferien, ein Leben wie am Schnürchen, in ruhiger, gleichmäßiger Bewegung.
Der Schnitt dann unerwartet, ein Sturz gleichsam. Vor einem Jahr schien es mir, als sei alles ohne jede Ankündigung gekommen. Inzwischen glaube ich, daß die Vorzeichen von mir nicht bemerkt wurden.
Das Bild muß unvollständig bleiben. Geordnete Fakten an Stelle sich überschneidender Abläufe. Heftige Erschütterungen und ausgestandene Schrecken als Erinnerung.

Schutzumschlag, Gestaltung: Monika Böhmert

Union Verlag, Berlin

1. Auflage 1987
2. Auflage 1989

Rolf Hochhuth: Spitzen des Eisbergs – Betrachtungen Dialoge Skizzen Essays

Rolf Hochhuths bisheriges Werk wurde für diesen Band einer Scherentortur unterworfen. Sieben Stücke, zahlreiche Essays, Artikel und Reden sowie eine Menge unveröffentlichter Arbeiten wurden zerschnitten. Es entstand ein Berg von Texten unterschiedlicher Länge – zwischen zwei Zeilen und zehn Seiten. Sie wurden sortiert, viele verworfen, viele, viel zu viele für gut befunden, wieder wurde geklebt und geschnitten, wieder geordnet ... Allmählich kristallisierte sich eine thematische Struktur heraus. Entstanden ist schließlich das Buch eines Lesers, zum Gebrauch für alle Leser und Freunde Rolf Hochhuths. Es ist zugleich ein Dialog zwischen Verlag, Herausgeber und Autor, der die Arbeit an dieser seiner Zwischenbilanz mit Ermunterung und Skepsis begleitet, durch die Öffnung seines Archivs, durch Aussonderung von ausgeschnittenen Texten und Neuvorschläge unterstützt hat.
Dieser Sammelband spiegelt die vehemente Zeitgenossenschaft des 1931 geborenen Rolf Hochhuth. Er ist ein Autor, der sich nicht nur auf die Medien Bühne und Buch beschränkt, der nicht nur das Feld seiner Literatur beackert, sondern überall dort Stellung bezieht, persönlich und literarisch, wo er sein oberstes humanes Prinzip, die Unantastbarkeit des Menschen, gefährdet sieht. Rolf Hochhuth läßt willentlich und wissentlich kein Thema aus, das hat ihm oft maßlose Vorwürfe eingetragen, nicht zuletzt den unaufhörlichen der Inkompetenz, das hat ihn aber auch, seit dem „Stellvertreter“, zu einer Instanz gemacht, in der BRD und darüber hinaus.
Dieses Buch soll die bisherigen Hochhuth-Editionen von Volk und Welt ergänzen. Da die Zusammenhänge der fiktionalen Werke aufgelöst wurden, treten einzelne Textpassagen stärker hervor. Sie sollten im einzelnen und ganzen Vergnügen bereiten, nachdenklich stimmen, aber auch Kritik herausfordern. Jeder Leser möge sich aufgefordert fühlen, seinen eigenen Dialog mit Rolf Hochhuth zu führen.

Buchanfang:
Alter
Sehr gern besuche ich sehr alte Menschen: Sie wissen, was kein anderer mehr weiß; sie glauben weder einer Religion noch einer Ideologie, sondern höchstens dem – und auch dem nicht alles –, dessen Gesicht und Stimme sie überzeugen; sie nehmen außer ihrer Ernährung, diesem Letzten, das sie erotisiert, nichts mehr völlig ernst; sie haben immer Zeit, denn sie stehen am Ufer zur Ewigkeit, von der wir zwar nichts ahnen – die jedoch immerhin den Zeitbegriff der hier noch Geschäftigen als blödsinnig erweist; in fast allem, was sie sagen, ist schon dessen ironische Aufhebung – überhaupt ist bei allem Lebensverdruß Heiterkeit um sie, die zwar nicht wärmt, sie auch vor keiner Verbitterung schützt, ihnen jedoch die Sicht weitet wie an sehr späten, kalten Oktobertagen die Sonne, die auch nicht mehr wärmt, aber aufklart. Um sie ist jene Freiheit, die total Ausgebombte nicht selten vor der Ruine ihres Hauses verspürten. Komik verdrängt oft alles Ehrwürdige, das ihrer Erscheinung das Alter ›geschenkt‹ hat – nichts hassen sie so sehr wie diese ›Geschenke‹. Hamsun, der dreiundneunzig wurde, äußerte schroff, das Alter mache nicht weise, sondern alt »und sonst nichts«. Ein Mann, den mehr als fünfundachtzig Jahre derart ausgetrocknet und kleingeschrumpft hatten, daß er nicht viel höher mehr war als sein Urenkel, der Abc-Schütze, war auch luftleicht und sagte selber, er müsse, damit ihn nicht der Wind davonblase, in jede Hand ein Bügeleisen nehmen, wenn er ausgehe. Doch selbst dann, wenn ein Gespräch mit ihnen nicht einmal mehr einen solchen Witz ›einträgt‹, weckt noch die wortlose Anschauung sehr alter einzelner ähnliche Empfindungen wie die sehr alter Bäume, an die man ja auch nicht mit der Frage herantritt, ob sie noch tragen. Und wenn diese Uralten sich meist nicht mehr erinnern können, was vor sechzig Minuten geschehen ist oder was sie da sagten, weshalb sie es noch einmal sagen oder noch zweimal – was vor sechzig Jahren geschah, ........

Inhalt:
Ein Alphabet unseres Lebens ...... 5
Frau und Mann ...... 129
Staatsbürger sein ...... 175
An der Rampe ...... 221
Vom Beruf des Schriftstellers ...... 251
Geschichte ist Naturgeschichte ...... 279
Nachbemerkung ...... 323
Quellenverzeichnis ...... 328

Einbandentwurf: Gerhard Medoch

Verlag Volk und Welt, Berlin

1. Auflage 1982
2. Auflage 1987

Rolf Hochhuth: Judith

Gleich mancher anderen mythischen Gestalt wurde Judith viel bewundert und viel gescholten, oft bedichtet und gemalt. Wie kaum eine andere ist sie eine Gestalt der Not und Verzweiflung, ging sie doch hin, die schöne junge Witwe aus Bethulia, um ihre Stadt vor der Aushungerung und Eroberung durch das Heer des Nebukadnezar zu retten.
Eine Gestalt der Not und Verzweiflung, Inbegriff des persönlichen Muts und der Opferbereitschaft ist Judith auch im vorliegenden Trauerspiel. Freilich hat sich Rolf Hochhuth, soviel Sympathie er überlieferten Modellen menschlicher Verhaltensweisen entgegenbringt, niemals in mythischen Fernen verloren. Sein Thema sind die Nöte und Notwendigkeiten unserer Zeit, seiner Gesellschaft. Rolf Hochhuth weiß und hat es nicht zuletzt in seinem Ringen mit tragischen Situationen jüngstvergangener Geschichte erfahren, daß heute nichts wichtiger ist als die Erhaltung des Friedens, und deshalb verbündet er sich mit der legendären jüdischen Täterin. Aus diesem Wissen die äußerste persönliche Konsequenz zu ziehen macht sein Selbstverständnis als politischer Schriftsteller aus.
In zweifacher Gestalt betritt Hochhuths Judith die Szene, zunächst im Minsk des Jahres 1943, als es darum geht, den faschistischen Gebietskommissar in die Luft zu sprengen. Von dieser Tat wird die Judith im heutigen Washington inspiriert, über ein Attentat auf den Präsidenten der USA nachzudenken, weil durch das Schwert umkommen soll, wer das Schwert nimmt. Judith weiß beide Male, in Minsk wie in Washington, daß eine solche Tat kaum die reale politische Situation verändern kann wie in biblischer Zeit, als Judith mit dem Kopf des Feldherrn Holofernes nach Hause kam. Aber Zeichen, so Hochhuths Judith, mußten und müssen gesetzt werden: 1943 für den ungebrochenen Kampfwillen des sowjetischen Volkes, in unseren Tagen gegen die vom US-Imperialismus forcierte und vom US-Präsidenten verantwortete Hochrüstung.
Rolf Hochhuth mutet sich selbst, seinen Lesern und Zuschauern das Äußerste zu: nachzudenken über die Berechtigung, einzelne zu töten um des Überlebens der Menschheit willen. Aber dieses Nachdenken wird sinnvoll, weil es weit über moralische Fragen hinaus verbrecherische, menschenfeindliche Politik entlarvt. Obwohl Hochhuths Judith zu Attentaten geht wie ihre mythische Schwester, bleibt sie doch zuletzt eine literarische Gestalt, die die Überlebensfrage unserer Zeit so voller Not und Verzweiflung stellt, weil sie anders von Rolf Hochhuth nicht mehr gestellt werden kann.

Inhalt:
Präambel ….. 5
Judith ….. 11
    Prolog: Minsk 1943 ….. 15
    Erster Akt: Washington, D. C. ….. 49
    Zweiter Akt: Unter den Blutbuchen ….. 101
    Dritter Akt: Kontaktgift oder Nervengas ….. 133
    Vierter Akt: Wer zum Schwert greift ….. 179
1984 - wie 1914? Wettrüsten führte zum ersten der Weltkriege ….. 197

Einbandentwurf: Gerhard Medoch

Verlag Volk und Welt, Berlin

1. Auflage 1985

Mór Jókai: Die schwarze Maske

Klappentext:
„Die Schwarze Maske“ ist einer der vielen auf Jókais (1825-1904) wunderbarem Märchenbaum gewachsenen Romane. Man könnte ihn wegen seines Themas, seiner spannenden Episoden und seines Ausgangs getrost zu der Kriminalliteratur zählen, zu der gehobenen allerdings, in dem Milieu und Gestalten mit starker Plastizität herausgearbeitet sind. Die Handlung spielt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als man noch mit dem Reisewagen durchs Land fuhr, als die Herren noch Schlösser hatten und die Bürger sich bereicherten. Das Geld, die Gier nach dem Gold begann bereits die Menschen so weit zu beherrschen, daß Ehre und Ritterlichkeit bis zu den höchsten Schichten der Gesellschaft ins Wanken kamen. In den Siebenbürger Bergen vereinigten sich ganze Dörfer zu einer Geldfälscherbande. Wer aber ist ihr Anführer, wer der gefürchtete, alles vermögende Räuberhauptmann, der hieb- und kugelfeste, der überall anwesend und nirgends zu fassen ist: Fatia Negra, die Schwarze Maske? Die Frage hält den Leser über 500 Seiten in Spannung. Eine direkte Antwort wird ihm zwar nicht gegeben, doch wird er auch nicht im Zweifel über die Lösung gelassen.

Inhalt:
Langeweile ...... 5
Mit dem er sich schlagen wollte ...... 17
Der liebenswürdige Mann ...... 27
Worüber sich Kinder den Kopf zerbrechen ...... 32
Sie paßt nicht zu dir ...... 56
Die Brautfahrt ...... 69
Die Lutschiahöhle ...... 98
Der starke Juon ...... 117
Der Mädchenmarkt von Geina ...... 128
Der schwarze Schmuck ...... 134
Zwei Geschichten, von denen nur die eine wahr ist ...... 153
Wenn sich der reiche Mann anschickt zu sterben ...... 167
Die Abendgesellschaften in Arad 180 Verrat um Verrat ...... 192
Die Mikalaer Schenke ...... 209
Fatia Negra wird erkannt ...... 217
Leander Babérossy ...... 243
Herr Margari ...... 259
Die Frau, die nicht auffindbar ist ...... 276
Die zitternde Hand ...... 295
Kampf um das Gold ...... 301
Das gejagte Wild ...... 312
Gespenstergeschichten ...... 332
Der Vergleich ...... 344
Epilog: Arme Reiche ...... 350

Titel des Originals: SZEGÉNY GAZDAGOK
Aus dem Ungarischen übertragen von HEINRICH WEISSLING
Einband und Schutzumschlag von ZOLTÁN HUSZÁRIK

Corvina Verlag, Budapest

1. Auflage 1971

Paul Kanut Schäfer: Das lautlose Abenteuer

Klappentext:
Liebe und Poesie erheben in diesem Buch ihre Stimmen und vollbringen das lautlose Abenteuer der Erkenntnis. Am Schluß
– steht ein Mann namens Brock am Totenbett seiner Mutter, doch sie beginnt für ihn zu leben –
– verliert Malle Asmus unter der Berührung einer Rose alle Kraft und ist stärker als zuvor –
– sitzt Henny Crossmann auf gepackten Koffern und weint, denn sie ist angekommen.

Buchanfang:
Erstes Buch
In Berlin-Tempelhof, hinter den hohen Fenstern der Flughafenhalle, stand Dr. Crossmann und suchte vergebens Joan, sein jüngstes Kind. Er wendete den Kopf hin und her zwischen dem Trüppchen der Ankömmlinge, das sich an den Zoll- und Paßschaltern zerteilte, und der Flugmaschine draußen, aus deren Bauch längst niemand mehr kam. An den Wimpern seiner kleinen, unruhigen, stark geröteten Augen hingen dicke Tränen. Die rechte Hand, in der er einen Zettel mit Nummer und Ankunftszeit des Flugzeugs trug, hob er in einem fort und ließ sie wieder fallen, als wollte er damit unablässig sagen: Was soll denn nun ... Was soll denn nun bloß werden? ... Nur widerstrebend ließ er sich am Informationsschalter davon überzeugen, daß ein Unglück ausgeschlossen war.
„Ausgeschlossen, ich sag's Ihnen!“ Der Beamte griff nach Crossmanns Hand mit dem Zettel und warf einen Blick auf die Zahlen. „Die Maschine ist pünktlich gelandet. Sehen Sie doch bitte selbst.“
Crossmann schüttelte den Kopf, als begriffe er nun gar nichts mehr. Seinen schwarzen Schirm hin und wieder auf die Fliesen stoßend, irrte er mit großen schwerfälligen Schritten durch die Gänge, studierte verzweifelten Gesichts völlig rätselhafte Flugpläne an den Wänden und starrte kurzsichtig und abwesend durch das Glas der Vitrinen, in denen Accessoires, Porzellane und Fotoartikel ausgestellt waren. An den Schaltern vorbei gelangte er schließlich ins Flughafencafé. Dort ließ er sich an einem Fenstertisch nieder, wischte den Beschlag von der Scheibe und sah hinaus auf den Flugplatz. .......

Schutzumschlag und Einband; Rolf F. Müller

Mitteldeutscher Verlag, Halle-Leipzig

1. Auflage 1966 [1. - 10. Tsd.]

Berechtigte Ausgabe im Buchclub 65
1. Auflage 1968 

28 Januar 2024

Julian Semjonow: Die Alternative

Klappentext:
„Wer wüßte nicht, daß Hitlers Fallschirmjäger am sechsten April bei uns abspringen werden.“ Das sagt 1941 ein alter Friseur, der, mittellos, als einziger Jude in der sonst so belebten Geschäftsgasse Zagrebs zurückgeblieben ist. In Belgrad wie in Zagreb arbeiten Hitlers Geheimdienste, bestechen, erpressen, nötigen Politiker, Beamte, Geistliche, Minister, Wissenschaftler und Militärs. Sie schüren zwischen Serben und Kroaten Gegensätze, deren Unsinnigkeit von fortschrittlichen Männern aufgedeckt wird. Die faschistischen Ustascha-Leute bereiten sich auf die Nacht der Messer vor.
Keine jugoslawische Zeitung erwähnt in jenen spannungsgeladenen Wochen und Tagen vor dem Einfall der Faschisten die Aktivität der hitlerschen Emissäre. Kein Wort über die zu erwartenden verderbenbringenden Veränderungen, obwohl jedermann weiß, daß modern ausgerüstete Armeen mit Panzern und Stukas an der Grenze zum Überfall bereitstehen.
Was diesen Aktionen eine beklemmende Note verleiht, sind viele Korrespondenzen, Funksprüche und Dokumente, die beweisen, mit welcher Brutalität der Überfall vorbereitet wurde, der dazu diente, Hitler die Flanke für den bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion frei zu machen. Millionen Jugoslawen zahlten mit ihrem Blute. Julian Semjonow, Jahrgang 1931, veröffentlichte in unserem Verlag mehrere Kriminal- und Spionageromane.

Schutzumschlag,Einbandentwurf : Gerhard Medoch

Titel der Originalausgabe: АЛЬТЕРНАТИВА
Aus dem Russischen von Corrinna und Gottfried Wojtek

Verlag Volk und Welt, Berlin

1. Auflage 1978
2. Auflage 1980

Erzsébet Galgóczi: Der Krieg ist lange vorbei | Minenfeld – Zwei Fernsehspiele

Der Krieg ist lange vorbei, und doch liegt sein Schatten über dem Leben zweier Frauen. Die 25jährige Annus lebt einsam auf dem Dorf, kein Bursche wagt es, sich mit dem hübschen Mädchen in der Öffentlichkeit zu zeigen, denn ihre Mutter ist eine Zuchthäuslerin. Vor zwanzig Jahren, im ersten Weltkrieg, soll sie gemeinsam mit ihrem Liebhaber, einem italienischen Kriegsgefangenen, ihren Mann umgebracht haben, als er von der Front auf Urlaub kam.
Auch Frau Töröks Mann mußte in den Krieg ziehen, in den zweiten Weltkrieg. Er ist nicht wiedergekommen, wie viele Männer des Dorfes, aber Frau Török lebt 15 Jahre hindurch nur in der Hoffnung auf seine Rückkehr. Als ihr Sohn Jani den Boden in die LPG einbringen will, kommt es zum Konflikt. Frau Török, für die ein Verzicht auf das Land den Verlust jeder Hoffnung bedeuten würde, hebt die Axt gegen Jani.
Die Entscheidung des Mädchens Annus, die nach 20 Jahren – in einem Augenblick, da sie die Möglichkeit für ein eigenes bescheidenes Glück sieht – ihrer Mutter gegenübersteht, sowie die Gerichtsverhandlung gegen Frau Török sind der Inhalt der beiden Fernsehspiele, die mehr zeigen als das durch den Krieg zerstörte Leben zweier Frauen. Denn Erzsébet Galgóczi veranschaulicht auch die Wandlung des ungarischen Dorfes und der zwischenmenschlichen Beziehungen, der gesellschaftlichen Verhältnisse also, die sich u. a. in der sozialistischen Rechtssprechung spiegeln.
Erzsébet Galgóczi, Erzählerin und Dramatikerin, 1930 in einem nordungarischen Dorf geboren, studierte Dramaturgie und arbeitete dann für Presse und Film. Sie debütierte mit Novellen. Für ihre Werke u. a. den Erzählungsband „Fünf Stiegen aufwärts“ (1965), die vor allem Probleme des neuen sozialistischen Dorfes behandeln, erhielt sie den Attila-József-Preis.

Originaltitel: Aknamező
entnommen dem Band Inkább fájjon,
Régen volt a háború erschienen im Verlag Szépirodalmi Könyvkiadó, Budapest 1969

Aus dem Ungarischen von Ita Szent-Iványi
Einbandentwurf: Lothar Reher

Verlag Volk und Welt, Berlin
Reihe: Volk-und-Welt-Spektrum Nr. 38 

1. Auflage 1971 

Jannis Ritsos: Was für seltsame Dinge – Roman?

Verlagstext:
Die kleinen Dinge des Alltags zu erfassen, im scheinbar Nebensächlichen den Keim des Wesentlichen zu endecken – eine mühevolle, aber beglückende Aufgabe, der sich nur ein Dichter zu unterziehen wagt. Um »das Komplizierte und Unendliche, das Tyrannische und Bewunderungswürdige der äußeren und inneren Welt« zu ergründen, formte Jannis Ritsos aus der Fülle seiner Erinnerungen und aus aktuellen Eindrücken ein farbiges Mosaik, das Spiegelbild seines eigenen, bewegten Lebens ist. Immer wieder sind es die geringfügigen, die unbeachteten Dinge, die Erlebtes wachrufen und den Sinn für das Grundsätzliche schärfen: ein Stuhl, ein Schuh, ein Vogel, die Papierdrachen in den Bäumen, die Regentropfen auf den Zeltdächern der Verbannten von Ai-Strati und die Blüten im Schaufenster des Athener Blumenhändlers Stephanos.
Was für seltsame Dinge, die, von der Phantasie verzaubert, neue Dimensionen erhalten. Was für seltsame Dinge, die, ihrer Nichtigkeit entrissen, dem Betrachter Vergangenes wie Gegenwärtiges nahebringen.
Der griechische Dichter Jannis Ritsos bezeichnete sein tiefgründiges Selbstgespräch als »Roman«, versah diese Genrebezeichnung aber sogleich mit einem Fragezeichen. Er wurde 1909 in Monemwassia auf der Halbinsel Peloponnes geboren. Im Verlag Volk und Welt erschienen seine Gedichtbände »Die Wurzeln der Welt« (1970), »Kleine Suite in rotem Dur« (1982) und »Erotika« (1983).

Buchanfang:
Dieses und das andere
Seltsame Dinge sind es, ganz ohne Sinn, völlig unbedeutend, nenn sie dumm; und trotzdem, ich weiß nicht wie und warum, haben sie für mich eine gewisse nein, nicht nur eine gewisse, sondern eine große, einzigartige Bedeutung: Die Tatsache, daß sie unbedeutend (und seltsam) sind, zwingt mich vielleicht nicht, nach Sinninhalten, Ideen, Zielen, Erklärungen, Rechtfertigungen, Spitzfindigkeiten, Pflichten, Einschränkungen, Verboten zu suchen. Ich begaffe sie bloß und erhole mich dabei. Als schliefe ich und all dies geschähe von selbst, ohne mein Eingreifen, selbst dann, wenn sie mich betreffen, wenn sich zwischen meinen Beinen Bindfäden verstricken, Kisten, Steine, Wasser, ein Fangeisen, ein alter Papageienkäfig, ein harter, vorsintflutlicher weißer Stehkragen mit Rostflecken, ein abgeschnittenes Hühnerbein, das lustig die Krallen bewegt; damals in der Sommerfrische, zu Mittag, im großen Weinberg (was für ein Licht, und diese Zikaden, auch ein Rebhuhn gab es und einen kleinen Fluß, ertränkt in Korbweiden und Brombeersträuchern), damals also zerrten wir an dem oberen Ende des Hühnerbeins, wir zupften an der harten Haut, an den Nerven (oder an den Sehnen – ich weiß nicht, wie sie heißen), ja, und sie bewegten sich sehr lustig, die Krallen mit den langen, krummen Nägeln – Bewegungen waren das, als bekreuzigten sich Greise – nein, nein, es war eher wie ein komisches Nachäffen dieser greisenhaften Gebärden, als verscheuche man eine Fliege von der Stirn einer kranken, ......

Aus dem Neugriechischen von Thomas Nicolaou
Einbandentwurf: Lothar Reher

Verlag Volk und Welt, Berlin
Volk-und-Welt-Spektrum Nr. 200

1. Auflage 1985 

Elizabeth Shaw: Guten Appetit!


Der Kinderbuchverlag, Berlin


12-seitiges Pappkinderbuch
Illustrationen von Elizabeth Shaw


1. Auflage 1976
2. Auflage 1979
3. Auflage 1980
4. Auflage 1981
5. Auflage 1985
6. Auflage 1986
7. Auflage 1987


 

Gerhard Neumann, Heiner Rank: Export

Buchanfang:
Es war kalt.
Ein gutes Jahr ging zu Ende. Ein gesundes Jahr, das mit frühem Schnee Abschied nahm.
Die Straßenbahn hielt an der Station Winckelmannstraße. Frauen mit Weihnachtsbäumen zwängten sich durch den Ausstieg des Anhängers, sperrige Markttaschen standen im Gang, und der Geruch frischer Tanne hing in der Frostluft. Zolloberkontrolleur Dührkop stieg noch nicht aus, obwohl das Ziel seiner Fahrt nur zweihundert Meter von der Haltestelle entfernt lag. Früher, als er noch in dieser Gegend arbeitete, wäre er sicher den Umweg nicht mitgefahren, den die Straßenbahn machte, ehe sie nach einer weiteren Station vor dem Haupteingang des VEB Elektro-Kälte hielt. Damals galt es pünktlich zum Arbeitsbeginn in Halle acht zu sein, in der Kleinkälte, wie die Kollegen gutmütig spotteten, denn in Halle acht wurden Kleinkühlanlagen hergestellt! Kühlvitrinen, Gewerbe- und Haushaltskühlschränke. Früher? Wie lange war das eigentlich her?
Fast drei Jahre war er nun schon beim AZKW, beim Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs. Kein Wunder, daß er heute eine Bahn zu früh vor dem Werk ankam. Man vergißt die Anschlußzeiten. Kunststück, nach so langer Zeit ...
Quietschend quälte sich die Bahn um eine scharfe Straßenbiegung, verlangsamte dann kollernd ihre Fahrt. Boisserée-Straße. Der Schaffner mühte sich mit dem Wort ab, und ein dicker Mann mit überfüllter Aktentasche, der sich verbissen mühte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, torkelte dem Ausgang zu.
„Wer die Straße so genannt hat“, sagte der Schaffner, „hat bestimmt Schulze geheißen und darum eine Schwäche für feine Namen gehabt.“
Dührkop lächelte. Er sah hinaus. Die Brüggemannsche Musikalienhandlung war großzügig renoviert worden. ,HO-Spielwaren' stand jetzt über dem Geschäft. Wieso einem in der Vorweihnachtszeit immer die Spielwarenläden besonders ins Auge fallen?
Die Autos, die an der Straßenbahn rechts vorbeifuhren, hatten bereits das Standlicht eingeschaltet. Dührkop sah nach der Armbanduhr. Zehn vor halb vier, er würde sehr pünktlich sein. Die Bahn bog nun schon in die Burckhardstraße ein, in der die Elektro-Kälte lag. Er zog das Koppel zurecht, spreizte die Finger, damit die Handschuhe glatt sitzen sollten, und nahm die Aktentasche vom Boden auf.
Auch das Café, Vier Jahreszeiten hat eine neue Fassade erhalten, stellte er fest, als er sich wieder aufrichtete. Grün leuchtete die Neon-Schrift an der Hauswand jenseits der Straße: HOG Köpenick – Vier Jahreszeiten.
Dort hatte er mit Christine gesessen. Christine Haberland. – Sie war sicher längst verheiratet. Mit diesem Herrn Rümpler, Helfried Rümpler, diesem Filou, der überall Eindruck zu schinden verstand. Dann spielte sie jetzt die brave Hausfrau, die auf den Herrn Diplom-Ingenieur wartete, um das Abendbrot recht pünktlich auf den Tisch zu bringen. Dieser lächerliche Spießer! Aber vielleicht hatte Rümpler sie auch sitzenlassen, damals – oder später. Dann würde sie vielleicht noch im Werk arbeiten, und er, Dührkop, konnte ihr heute begegnen – – . „Elektro-Kälte“, rief der Schaffner die nächste Station aus, und Dührkop gab ihm ein Zeichen, daß er aussteigen wollte.
„Na, denn man rin ins Vergnügen“, rief der BVGer ihm nach, als die Bahn hielt. „Aus die kalte Elektrische in die elektrische Kälte – .“

Einband und Schutzumschlag: Christoph Ehbets

Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin

1. Auflage 1961
2. Auflage 1962

Waltraut Lewin: Federico

Aus dem Buch:
Die Legende vom Unruhvollen Stamm
Als Gott Himmel und Erde gemacht hatte und alles sehr gut fand, nahm er fruchtbaren Schlamm vom Ufer des Flusses und hauchte seinen Geist darauf und bildete ein Wesen, das nannte er Adam, das heißt der Irdische, und schuf ihm eine Gefährtin, das war eine Herrin, genannt Hawa, die Mutter alles Lebenden, deren Zeichen war die Schlange.
Auch stellte er in seinen Garten einen Baum, dessen Früchte zu essen machte klug, darum hieß dieser der Baum der Erkenntnis des Sinnvollen und Sinnlosen.
Hawa beschwor ihre heiligen Schlangen, und die gaben ihr ein, von den Früchten des Baumes zu essen, auf daß sie klug würde, und sie gab auch Adam, dem Manne, davon. Dessen freute sich Gott, denn seine Geschöpfe waren nun wie er geworden, und er brauchte sie nicht mehr in seinem Garten zu hüten, sondern konnte ihnen als seinen Ebenbildern die Erde übergeben, auf daß sie von ihnen verwaltet würde. Und die beiden zogen aus, um sich zu vermehren, den Acker zu bebauen, zu leben und zu sterben und immer aufs neue von den Früchten jenes Baumes zu essen, deren Samen der Herr des Gartens ihnen mitgegeben hatte.
Und Gott erschuf noch andere Geschöpfe, die man seine Söhne nannte. Manche, die er Throne, Cherubim und Seraphim nannte, waren seine Gespielen, andere gaben Wolken, Luft und Winden die Wege, Lauf und Bahn, wieder andere lenkten die Gestirne des Himmels. Einige aber erschuf er zu Boten zwischen sich und den Irdischen, und sie gingen hin und her auf den Leitern und Stegen zwischen Himmel und Erde.
Einmal jedoch fanden diese Göttersöhne, daß die Töchter der Hawa schöner waren als Dämoninnen und Geisterfrauen, und sie gingen ein zu den irdischen Weibern. Die Göttersöhne aber waren nicht klug wie die Irdischen, und es mangelte ihnen an der Kunst, den Acker zu bebauen, Häuser zu errichten, den Lauf der Gestirne zu beobachten und Schrift zu schreiben. Da wurden auch ihre Kinder von Trägheit erfaßt, und sie vergaßen, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und dünkten sich, da sie von den Himmlischen abstammten .......

Einband: Achim Kollwitz

Verlag Neues Leben, Berlin

1. Auflage 1984
2. Auflage 1985
3. Auflage 1986
4. Auflage 1987
5. Auflage 1988

Berechtigte Ausgabe für den Buchclub 65
[Lizenz d. Verl. Neues Leben, Berlin]
1. Auflage 1985  

27 Januar 2024

Klaus Trummer (Hrsg.): Unter vier Augen gesagt ... – Fragen und Antworten über Freundschaft und Liebe

Liebe Mädchen und Jungen!
Dieses Buch wendet sich an Euch an die jungen Menschen, die eine aufrichtige Freundschaft suchen, und zugleich an jene, welche schon einen Partner gefunden haben und eine echte, zuverlässige Freundschaft gestalten wollen. Es wendet sich auch an die Verliebten und die Liebenden; es will ihnen helfen, das Haus, das Glück heißt, gemeinsam auf festem Fundament zu bauen. Es soll Gedanken über viele Probleme der Freundschaft, der Liebe und der Ehe vermitteln.
Das Buch entstand auf der Grundlage der Serie „Unter vier Augen“, die seit fast drei Jahren in unserer Jugendzeitung „Junge Welt“ erscheint, und es enthält neben zahlreichen Beiträgen aus dieser Rubrik Gedanken eines Sexualpsychologen, eines Arztes und eines Lehrers – von Fachleuten also, die auf Grund ihrer wissenschaftlichen Arbeit und ihrer in der Praxis gesammelten Erfahrungen mit ihren Erkenntnissen und Überlegungen wesentlich zur Klärung vieler Probleme „unter vier Augen“ beitragen können. In der Aufnahme solcher Beiträge in diesem Buch drückt sich das gemeinsame Anliegen der Wissenschaftler, der Pädagogen und des Jugendbuchverlages aus. Dr. Heinz Grassel, Dr. med. Lothar Obgartel und Oberlehrer Kurt Bach sei für ihre bereitwillige und schöpferische Mitarbeit herzlichst gedankt.

Verlag Neues Leben, Berlin

Einband: Horst Wolff
Einbandfotos: Köppe, Berlin (vorn); Reuel, Berlin (hinten

1. Auflage 1966
2. Auflage 1967
3. bearb. Auflage 1968
4. durchges. Auflage 1971

auch erschienen bei: Buchclub 65
Auflage 1967

Mark Twain: Der Prinz und der Bettlerknabe – Eine Erzählung für große und kleine Leute

Eine Bande von Dieben und Räubern, ein wahnsinniger Einsiedler, ein tapferer, edler Ritter, unschuldig zum Tode verurteilte Frauen und Kinder, gute und hartherzige Bauern, grausame Gerichtsbeamte, geputzte Höflinge, Edelleute und Prinzessinnen ? das sind die Menschen, mit denen Tom und Edward die unglaublichsten und aufregendsten Abenteuer erleben. Wer aber sind Tom und Edward? Ist der kleine Prinz, dem ganz London zujubelt, wirklich der rechtmäßige Prinz von Wales? Warum will der Erzengel den armen, in Lumpen gehüllten Knaben töten? Und wer ist König Prahlhans? Wenn ihr das alles erfahren wollt, dann müßt ihr diesen spannenden historischen Roman lesen, in dem Mark Twain, einer der bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller, die außergewöhnlichen Erlebnisse zweier Kinder erzählt.

Ich will ein Märchen für Euch niederschreiben, das mir von jemand erzählt wurde, der es von seinem Vater gehört hatte, und der wiederum hatte es von seinem Vater gehört und so reicht es weit zurück, dreihundert Jahre und weiter. Väter haben es ihren Söhnen überliefert, und die Söhne haben es in ihrem Gedächtnis bewahrt, Es mag eine geschichtliche Begebenheit sein, es mag auch nur eine Sage, eine Legende sein. Es mag sich so zugetragen haben, es braucht sich nicht so zugetragen zu haben, aber es kann sich so zugetragen haben. Es mag auch sein, daß die klugen und gelehrten Leute in alten Zeiten an diese Geschichte geglaubt haben; es mag aber auch sein, daß nur die Unwissenden und Einfältigen sie geliebt und Nutzen daraus gezogen haben.
Mark Twain

Buchanfang:
TOMS GEBURT
Etwa um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts wurde in der alten Stadt London an einem Herbsttage ein Knabe geboren. Sein Vater hieß John Canty und war ein Bettler. Die Familie war über die Ankunft des Kindes keineswegs erfreut.
Am gleichen Tage wurde in einem reichen und vornehmen Hause Londons ebenfalls ein Knabe geboren, der mit großer Freude begrüßt wurde. Sein Vater hieß Henry Tudor und war der König von England.
Das ganze Land hatte den Thronerben ersehnt, und als er nun tatsächlich da war, wurde das Volk vor Freude fast närrisch. Menschen, die sich nur flüchtig kannten, fielen sich in die Arme und weinten. Alle legten ihre Arbeit beiseite. Hoch und niedrig, reich und arm feierten und ließen es sich wohl sein. Es wurde getanzt und gesungen, und der Wein floß in Strömen. Tage- und nächtelang ging das so fort. Mit den bunten Fahnen, die von jedem Dach und jedem Balkon herabwehten, und mit den festlichen Umzügen, die kein Ende nahmen, bot London am Tage ein farbenfrohes malerisches Bild, und sobald es dunkelte, war die Stadt mit den riesigen Freudenfeuern, die an jeder Straßenecke flammten, und mit den vielen Gruppen fröhlicher Nachtschwärmer wiederum herrlich anzusehen. ......

Inhalt:
Toms Geburt ...... 7
Toms frühe Jugend ...... 9
Tom begegnet dem Prinzen seiner Träume ...... 16
Dem Prinzen ergeht es schlimm ...... 25
Tom Canty findet am Hofe des Königs keinen Glauben ...... 30
Tom bekommt gute Lehren ...... 40
Tom speist zum ersten Male als Prinz ...... 50
Das vermißte Staatssiegel ...... 55
Das Volksfest auf der Themse ...... 59
Der Prinz ist in eine Falle geraten ...... 63
Das Bankett in der Guildhall ...... 74
Der Prinz und sein Erretter ...... 80
Der Prinz verschwindet spurlos ...... 95
Der König ist tot! – Es lebe der König! ...... 101
Tom als König ...... 116
Das feierliche Mahl ...... 131
König Prahlhans der Erste ...... 135
Der König bei den Landstreichern ...... 149
Der König und die Bauersfrau ...... 159
Der König und der Einsiedler ...... 167
Hendon kommt, um den König zu retten ...... 175
Der König wird in eine Falle gelockt ...... 181
Der König soll ins Gefängnis ...... 188
Hendons Plan gelingt ...... 193
Hendon Hall ...... 197
Miles wird um sein Eigentum gebracht ...... 207
Im Kerker ...... 213
Miles nimmt die Strafe des Königs auf sich ...... 227
Miles und der König reiten nach London ...... 232
Tom Canty soll zum König gekrönt werden ...... 235
Tom hat eine Begegnung ...... 239
Tom und Edward sehen sich wieder ...... 247
Edward der Sechste als König ...... 263
Gerechtigkeit und Vergeltung – Ein Nachwort ...... 273

Farbtafeln, Schutzumschlag, Einband von Werner Klemke
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ruth Gerull-Kardas
Für Leser von 12 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin

1. Auflage 1956
2. Auflage 1957
3. Auflage 1958
4. Auflage 1964
5. Auflage 1965
6. Auflage 1966

26 Januar 2024

B. Traven: Trozas

Travens Buch atmet die Exotik eines fremden Erdteils. Gefährlich in seinem sonnenlosen Grün liegt der Urwald.   Doch der Mensch dringt auch in dieses undurchdringlich scheinende Dickicht ein. Die Luxusläden in Paris und New York brauchen für ihre verwöhnte Kundschaft Edelhölzer  – vor allem Mahagoni. Die wenigsten Käufer werden wissen, woher das Holz ihrer Schreibtische stammt, wer es schlug. Einfache, blutarme Indios sind es, die mitten   im Dschungel als Holzfäller leben – weit ab von ihren heimatlichen Dörfern. Dort sitzen die Eltern, denen die letzte Kuh starb und  die in Schulden gerieten; für sie oder für eine schwarzhaarige Braut muß Geld beschafft werden.

Buchanfang:

„Ytu, como te llamas?“ fragte der Contratista, Don Remigio Gayosso, den jungen Tseltal-Indianer, vor dem er stand.
„Andres Ugaldo, su humilde servidor!“ antwortete der Bursche höflich.
„Bueno. Y de que sabes trabajar, muchacho? Welche Art von Arbeit hast du bisher verrichtet? Machete-
Arbeit? Oder gearbeitet mit der Hacha, mit der Axt?“
„No, Patron, ich habe für Don Laureano in Socton mehrere Jahre als Carretero gearbeitet.“
„Dann verstehst du, gut mit den Ochsen zu arbeiten?“
„Si, Patron, muy bien.“
„Boyero!“ sagte Don Remigio, sich an den Capataz, den Aufseher, wendend, der ihm wie ein Feldwebel mit einem Notizbuch in der Hand folgte. Der Capataz pokte sein Stückchen zerkauten Bleistift in den Mund, betrachtete dann die stumpfe Spitze eine Weile und sagte endlich: „Name, puerco sucio, du dreckiges Schwein?“
„Andres Ugaldo.“
„Su humilde servidor, jefe! setzest du hinzu, wenn ich dich nach deinem stinkigen Namen frage, du im Mist geborener Wurm. Verstehst du? Noch mal. Name?“
„Andres Ugaldo ist mein Name“, sagte der junge Indianer, dem Aufseher hartnäckig die Höflichkeitsphrase verweigernd, die er dem Contratista freiwillig geboten hatte. Der Contratista, der eigentliche General hier, hätte gar keinen Wert darauf gelegt und nicht ein Wort darüber verloren, wenn ihm der Bursche einfach den Namen genannt haben würde, ohne eine Ehrenbezeigung in Worten hinzuzufügen. Es ist immer nur das winzige menschliche Piepsken, das von einem Untergebenen und Wehrlosen die steifste Ehrenbezeigung unerbittlich verlangt, weil es sich über seine wahre Würde nicht im klaren ist und darum nicht im klaren sein kann, weil es so wenig davon besitzt. Wer nie vergißt, seine Medaillen auf die Brust zu kleben, ist seiner Verdienste nicht ganz sicher. „Wie heißt du, du Stinktier?“ brüllte der Capataz.
„Andres Ugaldo.“
„Ihr sehr untertäniger Diener, mein Herr! fügst du hinzu, wenn ich dich frage!“ schrie der Capataz und wurde tiefrot im Gesicht. „Noch mal. Wie heißt du, du Schwein?“
„Andres Ugaldo von Lumbojvil.“ Der Bursche verzog keine Miene in seinem Gesicht. Er stand ruhig da, als wäre er aus braunem Holz geschnitzt. Selbst im Blick seiner dunklen Augen zeigte er weder Furcht noch Erregung. Kalt und fest heftete er seinen Blick auf das Gesicht des Capataz, das vor Wut aufzuplatzen schien. „Dir werde ich schon das blinde Gehorchen beibringen, du Kröte, warte nur, wenn wir erst einmal allein und unter uns sind, ich und du“, sagte der Aufseher, während er den Namen in sein Notizbuch schrieb und in die nächste Rubrik hinzufügte: Boyero.
Boyero war Ochsenknecht.
Als er geschrieben und einige Minuten lang sein Geschriebenes mit Wohlwollen betrachtet hatte und sehr stolz darauf war, so schön und schwungvoll schreiben zu können, blickte er auf und sah Andres an. Er gedachte ihm gerade eine weitere kräftige Warnung für die Zukunft in das Gesicht zu brüllen, als Don Remigio ihn rief: „Hei, Ambrosio, du gottverfluchter Lepero, Hund von einem Faulenzer, wo steckst du denn mit deiner gottverdammten Schreiberei? Komm hierher und schreibe hier den Muchacho auf. Hat im Holz gearbeitet mit der Axt. Den nächsten notierst du als Machetero. Sagt, er kann tüchtig mit dem Machete arbeiten. Vier Wochen nur, dann geben wir ihm die Axt.“
 „A sus ordenes, jefe“, rief der Capataz sofort, als er angerufen wurde, und sprang pflichteifrig mit einem Satz hinter seinem Herrn her. Bin schon hier, Don Remigio, und stets zu Ihren hochgeschätzten Befehlen.“
„Schreib schon und prassele nicht so viel Quatsch. Mach voran, du Esel. Jede Stunde hier unnötig verbracht, kostet mich einen Sack teures Geld. Himmel und Hölle, Madre Santisima en el lado de Dios, warum habe ich mich je dazu verdammen lassen, Caobakontrakte zu übernehmen! Jeder Tag hier in dieser Wildnis, unter den Barbaren kostet mich ein volles Jahr meines schönen und gesunden Lebens. .........

Einbandentwurf: Werner Klemke

Verlag Volk und Welt, Berlin

1. Auflage 1954
2. Auflage 1955  

Kornelia Dobkiewiczowa: Der Stollen im Eulengebirge – Märchen und Erzählungen aus dem Gebiet um Opole, aus den Beskiden und aus Dolni Slask

Auszug aus dem Buch:
„Und das Gold?“ Die Bergleute wurden unruhig. „Du hast es heute nacht gestohlen, wie du selber sagtest. Schämst du dich? Bereust du es? Wie kann es nur möglich sein, daß du uns auch diese Schuld bekennst?“ „Der Stollen ist tief“, begann Sladek. Er mußte sich an einen Baum lehnen. „Dort hält sich ein merkwürdiges Geschöpf auf. Irgendein Felsteufel. Ein kleiner Schratt, kümmerlich von Gestalt und dennoch stark und schrecklich. Er ist mit euch im Bunde, wie ich glaube, und schützt das Gold. Als ich es nahm, ließ er das Flöz erbeben, und fast hätte er mir die Decke über dem Kopf einstürzen lassen. Als ich dann über ihn spottete und mich weigerte, das Gold in die Truhe zurückzulegen, schleuderte er einen schrecklichen Bann gegen mich. Die Beine wurden mir schwer, sie schienen in der Erde verwurzelt zu sein, meine Zunge wurde steif. Ich erstarrte zu Gold ... kühlte ab. Und jener Schratt ließ mich erst dann wieder menschliche Gestalt annehmen, als ich ihm versprach, meine Schuld vor der ganzen Gemeinde zu bekennen ... Ich habe sie bekannt.“ Stille folgte. Die Bergleute standen dicht aneinander gedrängt und starrten Sladek an. Milosz wandte sich von ihm ab und ließ den Kopf sinken. „Meuchelmörder ... Dieb“, so tönte es aus der Schar der Bergleute. „Er hat seine Taten nur aus Angst bekannt!“ Aus Angst, nicht weil er bereut, was er getan hat. „Fluch dem Sladek, dem Mörder ... Er darf nicht bei uns bleiben!“ Immer größere Empörung erfaßte die Menschen, die ehrliche Freunde waren und einander vertrauten. Da hob Zych Kulimaga ein paar Goldklümpchen vom Boden auf und reichte sie Sladek. „Du warst uns weder Kamerad noch Bruder“, sagte er betrübt. „Du darfst, nicht in unserer Mitte bleiben. Also geh, hier hast du etwas auf den Weg.“ Sladek nahm wortlos das Gold. Ohne sich umzuschauen, den Kopf in die Schultern gedrückt, so rannte er den Hang hinab. Er hatte es entsetzlich eilig, obwohl ihn niemand jagte. Oben auf dem Felsen war Lukierda erschienen und sah ihm erstaunt nach. Sie trug einen Korb mit Brot, das sie für Milosz und seine Schar gebacken hatte. Langsam stieg sie den Felspfad zum Stollen hinab. Lächelnd begrüßte sie Milosz.
Vergebens würde man heute den Stollen im Eulengebirge suchen. Geröll hat ihn zugeschüttet, dornige Büsche behindern den Weg, üppiges Moos grünt darauf. Wir finden auch kein Gold mehr in diesen Bergen, denn die Vorkommen sind schon seit Jahrhunderten erschöpft. Davon, daß es dort Gold gegeben hat, berichten aber nicht nur Chroniken, sondern auch Städtenamen wie Zlotoryja („Goldgrube“).Auch eine alte Sage und dieses fast schon vergessene Märchen erzählen davon. Ihnen ist es zu verdanken, daß die Kunde von dem guten Freund der niederschlesischen Bergleute, jenem winzigen, vernünftigen und häuslichen Schratt, der eine Felskluft im Eulengebirge bewohnt, bis auf unsere Zeit überliefert ist.

Inhalt:
MÄRCHEN AUS DEM GEBIET UM OPOLE
Die drei Brüder aus Opole. ...... 5
Der rote Kaftan ...... 23
Die Preußenfahne ...... 39
Wie der Flußteufel dem Kuba am Damm erschien ...... 60
MÄRCHEN AUS DEN BESKIDEN
Wie Miecek Oblaz in den Bergen verlorenging ...... 73
Das gefangene Wasser ...... 89
MÄRCHEN AUS DOLNI ŚLĄSK
Der Goldene Erpel ...... 111
Der Schmied und der Waldschratt ...... 135
Der Stollen im Eulengebirge ...... 154

Titel des polnischen Originals „Sztolnia w Sowich Górach“
Ins Deutsche übertragen von Caesar Rymarowicz

Illustriert von Maria Orłowska-Gabrys

Nasza Ksiegarnia, Warszawa

1. Auflage 1970
2. Auflage 1972
3. Auflage 1974

Ernest Claes: Pater Cellarius und andere Geschichten aus dem Kempenland

Buchanfang:
PATER CELLARIUS
Da ich nun die Absicht habe, von dir zu erzählen, seliger Pater Cellarius, fühle ich mich, offen gesagt, ein wenig verlegen. Denn einerseits weiß ich, daß die Leute von Everbeur, sowohl Bettes Tor als auch Warre Poft, sowohl Kail Potter als auch Jef Petekke, nicht verstehen würden, daß ich Bücher schreibe über Leute wie Hannes Raps, Wizze, Victalis und andere dieser Sorte und über einen Mann wie den seligen Pater Cellarius nichts zu erzählen wüßte. Und anderseits – ja, wir wollen die Dinge sagen, wie sie sind – ist es so: wir beide, Pater Cellarius, haben einander nie gut leiden mögen. Von allen Norbertinern unseres Klosters warst du der einzige, der mich allerlei falfcher Streiche und einer fcheinheiligen Kriecherei berdächtigt hat, der glaubte, ich würde dich beim hochwürdigen Herrn Prälaten verleumden, den Besuchern der Abtei allerlei unwahres Zeug über das Kloster weismachen und die Frauen im Waschhaus mit törichten Geschichten und schamlosen Liedern von der Arbeit abhalten. Du wußtest, daß Hannes Raps bei uns zu Hause auf dem Heuboden schlief, während wir den Gendarmen vorlogen, ihn absolut nicht zu kennen, daß Dick Vernelen mein leiblicher Vetter war, daß auch Wizze zu unserer Verwandtschaft von Mutters Seite angehörte, daß Victalis fast Abend für Abend bei uns am Herd hockte, und in deinen Augen konnte jemand mit einer solchen Verwandtschaft, mit solchen Beziehungen zu den Wilderern, die dir soviel Arger verursachten, nur ein völlig unzuverlässiger Taugenichts sein. Du hattest mich in Verdacht, jeden Tag bei Servaas in der Klosterbrauerei Bier zu trinken, und, während du weit weg außerhalb des Klosters umherliefst, den Gartenknechten Jesper, Suske Hut, Peer Mus, den man Herzkönig nannte, Scheper und Petekke zu sagen, sie könnten ruhig in die Brauerei gehen, um das letzte Gebräu von Servaas einmal zu »kosten«. Du haft mir vorgeworfen, daß ich die kaputte Harmonika von Pater Pius – (Dies obitus 1. 6. 1922. Anno aetat. 66) – in deinen Koffer gestopft hätte, mit dem du zur Primiz deines Neffen nach Meerhout gereist bist, daß ich die Seife in die Mütze von Dikke Torekens, dem Orgelbläser, geschmiert hätte, und ich sollte auch an dem Krüglein Schnaps von Kubber und an der jungen Katze in der zerplatzten Orgelpfeife, die tonlos geworden war, schuld sein. Und du warst dennoch nicht ganz gewiß, Pater Cellarius, ob ich das alles allein verbrochen hätte, du hast es nur vermutet, du hast vorwiegend mich jedes Unrechts verdächtigt, das in der Abtei verübt wurde, nur weil ich nach deiner Meinung mit soviel verdächtigen Wilderern verwandt war. Brauchte man sich da zu wundern, daß ich ein schiefes Gesicht zog und schwieg, wenn jemand »diesen guten Pater Cellarius« erwähnte? Sagen wir ruhig, wie es war, wir haben einander unser Lebtag geärgert. Nicht bösartig, nicht giftig, nicht verletzend, mit einem Lächeln sogar, aber dennoch geärgert. Du mit meiner schlechten Verwandtschaft und indem du mich fühlen ließet, daß ich im Kloster zuviel Anmaßung zeigte – was stimmte, und ich, indem ich dich im Gästezimmer in Gespräche über Guido Gezelle oder Goethe verwickeln wollte, während du nur über Butter oder Kartoffeln, über Landwirtschaft und Küche mitreden konntest. Wir haben uns gegenseitig beim Herrn Prälaten verklatscht, auch wieder mit einem Lächeln, aber immerhin verklatscht. Es ist wahr, Hochwürden hat das nie böse aufgenommen, weder von dir noch von mir, außer dem einen Mal, als du mich im Waschhaus bei dem Versuch erwischtest, Mieke Pauwels und Zeva von Onkel Viktor das Liedchen von »Tingelingeling den Eisendraht« beizubringen. Da mußte ich Hochwürden das ganze Verschen vorsingen, um festzustellen, ob es ein schlechtes Liedchen sei, das Zeva und Mieke auf sündige Gedanken bringen könnte. Hochwürden war nicht der Meinung, du wohl, weil du, wie du behauptest, die Frauensleute im Waschhaus besser kennen würdest als ich. Hochwürden hat mir nur geraten, künftig für die im Waschhaus das Lied »Zu Lourdes auf den Bergen« zu singen.
Nein, Pater Cellarius, wir beide wurden nicht einig.
Und dennoch – und dennoch ... Wie kam es nur, wenn ich später Hochwürden besuchte, während du, vor der Zeit verbraucht, meistens auf deinem Zimmer saßest, daß ich zu allererst fragte, wie es dir ginge? – Oder daß Bruder Viktor mir sagte, du hättest schon dreimal nach mir gefragt oder daß Bruder Laurentius (Dies obitus 19. 10. 1925. Anno aetat. 49) mir ins Ohr flüsterte: »Er ist in feinem Zimmer.« Wie kommt es nur, wenn ich so dasitze und mit ein wenig Wehmut im Herzen, weil das nun alles vorbei ist, über die schöne Zeit nachdenke, da wir in unserem alten Everbeur noch alle beisammen waren, ........

Inhalt:
Pater Cellarius ...... 5
Unser Onkel Hannes ...... 69
Pfarrer Munte ...... 91
Die Mutter und die drei Soldaten ...... 118
Die alten Leute unseres Dorfes ...... 157
Sarelewies Weihnachten ...... 189

Aus dem Flämischen übertragen von Peter Mertens
Illustrationen und Ausstattung von Ino und Paul Zimmermann

St.-Benno-Verlag GmbH Leipzig

1. Auflage 1956
2. Auflage 1957
 

25 Januar 2024

Robert Louis Stevenson: Das Flaschenteufelchen

Buchanfang:
Es war ein Mann auf der Insel Hawaii, den will ich Keawe nennen. Er lebt nämlich noch, und sein Name soll nicht genannt werden; sein Heimatort ist nicht weit von Honaunau entfernt, wo die Gebeine Keawes des Großen in einer Höhle liegen. Der Mann war arm, brav und arbeitsam; er konnte lesen und schreiben wie ein Schulmeister; auch war er ein vortrefflicher Seemann; er fuhr eine Zeitlang auf den Inseldampfern und steuerte ein Walboot an der Hamakua-Küste. Endlich kam es Keawe in den Sinn, einen Blick in die große Welt zu tun und fremde Städte zu sehen, und er schiffte sich nach San Franzisko ein.
Das ist eine prächtige Stadt mit einem herrlichen Hafen und unzähligen reichen Leuten, und besonders ein Hügel ist mit stattlichen Häusern wie besät. Auf diesem Hügel ging Keawe eines Tages spazieren, die Taschen voll Geld, und betrachtete mit Vergnügen die großen Häuser zu bei- den Seiten. „Was sind das für herrliche Häuser“, dachte er, „und wie glücklich müssen die Menschen sein, die darin wohnen und sich nicht um die Zukunft sorgen.“ So dachte er, als er an einem Haus vorüberkam, das kleiner war als manches andere, aber vollendet schön und zierlich wie ein Spielzeug. Die Stufen dieses Hauses glänzten wie Silber, die Beete im Garten blühten ........

Illustrationen und Umschlagentwurf von Dagmar Schwintowsky

Gebrüder Knabe Verlag, Weimar
Reihe: Knabes Jugendbücherei

1. Auflage 1967
2. Auflage 1970   

.......................................................................................................................................................................

 

 

Verlag Neues Leben, Berlin
Reihe: Das neue Abenteuer, Nr.261

Illustration: Günter Lerch

1. Auflage 1967

.......................................................................................................................................................................

Das Flaschenteufelchen – Aus „Südsee – Nachtgeschichten“

Verlagstext:
DER ENGLISCHE DICHTER Robert Louis Stevenson kam, als er durch seine Romane und Erzählungen schon ein berühmter Mann war, um Heilung für seine kranke Lunge zu finden, nach langen Reisen durch die ganze Welt nach der Insel Samoa. Er erwarb einen Hof, Vailima, nahe Apia, der Hauptstadt der Insel, und verkehrte fast nur noch mit den Eingeborenen, die ihm lieber waren als die immer nach Verdienst und Reichtum jagenden Menschen Europas. Seines gütigen und hilfreichen Wesens wegen verehrten ihn die samoanischen Einwohner sehr, und als er, vier Jahre nach seiner Ankunft auf Samoa, im Jahre 1894 starb, begruben sie ihn auf dem Gipfel des Berges Vaêsa und pilgerten noch lange zu seinem Grabe wie zu dem eines Heiligen.
Robert Louis Steveneon hat viele wunderschöne Erzählungen und Romane geschrieben, darunter vor allem die Geschichte von der „Schatzinsel“, aus der wir in dieser Reihe der VOLK UND WISSEN SAMMELBÜCHEREI einige der schönsten Kapitel bringen werden. Die Geschichte vom „Flaschenteufelchen“ ist eine seiner berühmtesten. Sie wird manchen unserer Freunde an die Märchen der Brüder Grimm erinnern, in denen wir auch immer wieder von dem einfältigen Manne hören, der vom Teufel versucht wird und ihn am Ende überlistet Aber das merkwürdige bei unserer Geschichte ist, daß der gute Keawe gar nicht durch List, Schlauheit oder gar durch Mut und Heldentaten sich von der Gewalt des Bösen befreit und Gesundheit und ein gutes Gewissen wiedererlangt. Keawe und seine liebe Frau Kokua werden von der Macht des Bösen, in die sie durch, Keawes Schuld verstrickt wurden, gerettet allein durch ihre Liebe und die Bereitschaft, einer für den andern sein Leben hinzugeben: zuerst Kokua für ihren Mann, dann Keawe für seine liebe Frau. Und weil sie so einer für den anderen die schwere Last der Schuld auf sich nahmen, können sie den Fluch des schnell erworbenen Reichtums von sich abschütteln und Zufriedenheit und Ruhe wiedergewinnen. All das, was das Flaschenteufelchen dem Keawe verschafft hatte, all das, was man für Geld kaufen kann, große Häuser und kostbaren Schmuck, hatten die Samoaner erst von den Weißen kennengelernt, die dafür zum Dank ihr reiches Land ausbeuteten und ihnen ihre Freiheit nahmen. Fast hatten sie schon vergessen, daß sie auf ihrer stillen Insel mehr besaßen, als ihnen alle Kostbarkeiten Europas bieten konnten: ein friedliches, arbeitsreiches Leben auf dieser von der Natur gesegneten Insel in der Südsee. Erst als sie aus der großen Not und der Angst vor der Macht des Bösen durch die Kraft ihrer Liebe gerettet sind, haben sie auch ihre Zufriedenheit und Freudigkeit wiedergewonnen.

Volk und Wissen Verlags GmbH, Berlin/Leipzig
Reihe: Volk und Wissen Sammelbücherei
- Gruppe 1: Dichtung und Wahrheit
- Serie H: Aus guten Büchern
- Band 11

Das Vor- und Nachwort schrieb I. M. Lange

1. Auflage 1947 / 1.-100. Tsd.  

.......................................................................................................................................................................


Reihe:
Insel-Bücherei, Nr. 302
Insel-Verlag, Leipzig

Auflage 1925 /  1. - 15. Tsd.
Auflage 1930 / 16. - 20. Tsd.
Auflage 1933 / 21. - 25. Tsd.
Auflage 1935 / 26. - 30. Tsd.
Auflage 1951 / 41. - 50. Tsd.
Auflage 1955 / 51. - 60. Tsd.
Auflage 1955 / 61. - 70. Tsd.
Auflage 1963 / 71. - 78. Tsd.
Auflage 1972 / 79. - 93. Tsd.