Jedes Jahr beruft die Universität von Texas in Austin einen deutschsprachigen Schriftsteller als Gastprofessor an ihre germanistische Abteilung: Im Herbstsemester 1972 konnte Günter Kunert dieser Berufung folgen. Er vermittelte zeitgenössische Lyrik in der DDR sowie seine Ansichten und Hypothesen über die methodologischen Prinzipien der eigenen Arbeit, über deren Entstehung und deren Sinn.
Den Aufenthalt nutzte Kunert, sich im Lande umzusehen; nicht nur in Texas, sondern auch in angrenzenden Bundesstaaten wie Louisiana und New Mexico: knapp drei Monate lang fuhr er in einem alten Auto zehntausend Kilometer durch Wüsten, Prärien und Gebirge, er besuchte Indianersiedlungen und Metropolen, geriet in Santa Fé in einen Schneesturm und holte sich am Golf von Mexico einen Sonnenbrand. Kurzfristig bereiste er noch den Norden: Iowa, das Mecklenburg der Vereinigten Staaten, Washington, den Regierungssitz, und zuletzt die Stadt der Superlative: New York. Ein großer Teil des im Wortsinn Erfahrenen und des Erschauten, aus dem kritische Reflexion ihre über den Anlaß hinausgehenden Einsichten schöpft, ist in diesen Texten verarbeitet, verbunden mit der Haltung eines Menschen, der sich zu seiner eigenen Verwunderung auf einem „anderen Planeten“ wiederfindet.
Inhalt:
Vorwort .....7
1 Kennedy Airport .....11
2 Austin (Texas) .....18
3 Aladin in Austin .....23
4 Die alte Bäckerei .....28
5 6. Straße .....30
6 Campus .....33
7 Highways .....37
8 Lions Country Safari Park .....42
9 Bei den Wachsfiguren in Texas .....44
10 Padre Island .....48
11 Apartmenthaus .....53
12 Patriotische und andere Stunden .....56
13 Kings Village .....59
14 San Antonio .....66
15 New Orleans I .....73
16 Bei den Wachsfiguren in New Orleans .....79
17 New Orleans II .....84
18 Go west! .....90
19 Truth or Consequences .....97
20 Santa Fe .....101
21 Acoma .....108
22 White Sands .....114
23 Erfahrungen im Vorüberfliegen .....117
24 Zwischenlandung in Chicago .....123
25 Iowa City .....127
26 Amana .....132
27 Museum of History and Technology (Washington) .....135
28 Im Weißen Haus .....144
29 Washingtoner Impressionen .....148
30 Ankunft über Queensboro Bridge .....152
31 East 86. Street .....154
32 Termitenbau .....158
33 Fifth Avenue am Vorweihnachtssonntag .....162
34 Subway .....167
35 Empire State Building .....170
36 Orchard Street .....172
37 Broadway mit Abweichungen .....175
38 „Stadtgespräch“ .....181
39 Wall Street .....184
40 Museen Manhattans .....187
41 Zwei Hotels .....190
42 An der Brooklyn Bridge .....192
43 Times Square .....196
44 South Ferry .....199
Nachtrag: Wieso ich beinahe Amerikaner gewesen wäre .....204
Vorwort
Erinnern und Schreiben, das ist identisch. Im Prinzip. Und woraus bestünde dieses, wenn nicht in dem fragwürdigen Vorgang von Selektion, Verdrängung, Bewertung, Urteil, der seine Gegenstände verfärbt und verändert – manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Trotz aller Mühe: Objektivität steht nicht in unserer Macht. Wir sind keine Speichergeräte. Unser aufnehmendes Auge erweist sich bereits beim Aufnehmen als partiell blind, zumindest als kurz- oder weitsichtig: ungewollt nehmen wir manches einfach nicht wahr oder nur bestimmte Dinge, deren Analogien in unserem Bewußtsein oder auch Unterbewußtsein schon vorrangig vorhanden sind, vergleichbar den Kenntnissen des Frühgeschichtlers, der sehr wohl bearbeitete Steine von nur natürlich zerfallenen unterscheiden kann, und die der Fachunkundige übersähe. Ein weit umherreisender Oberförster kehrte mit einem anderen Bild von der Welt heim als ein Architekt, ein Schauspieler, ein Genetiker. Dem Schriftsteller ergeht es nicht anders; ihm, der einen empfänglichen Sinn für alles Formale entwickelt hat, schließen sich divergente und isolierte Momente zu Einheitlichkeit und Sinnaussage zusammen. Dann pflegt man von „höherer Wahrheit“ zu sprechen. Das Stückwerk der Realität wird im Schreiben zu einer Vollkommenheit und Bedeutung erst zusammengefügt (einem allgemeinmenschlichen Kausalbedürfnis entsprechend), wodurch über längere Epochen hinweg der Eindruck zu entstehen pflegt, die Wirklichkeit enthalte die gleiche Mechanik, wie sie auch in der Literatur erscheint; selbst bei einer rationalen Einsicht in den unaufhebbaren Dualismus von Kunst und Realität verraten die Einsichtigen durch die Art und Weise, wie sie agieren, daß sie insgeheim auf eine (von wem oder was) dramaturgisierte Wirklichkeit bauen. Allein die anhaltenden, durch keine tatsächlichen Erfahrungen begründeten oder bestätigten Erwartungen auf den jeweils „guten Ausgang“ von Unternehmen, die stete Zielrichtung auf ein sich von selbst ergebendes Happy ending, implizieren „falsches Bewußtsein“, verursacht durch die in jedem, selbst (und gerade) im trivialsten Werk wirksame konstruktive Logik und Schlüssigkeit...
Günter Kunert, 24.3. 1974
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
1. Auflage 1974
2. Auflage 1975
3. Auflage 1978
4. Auflage 1980
Einbandgestaltung: Heinz Hellmis