08 Juni 2020

Maria Kuncewizowa: Die Fremde



Maria Kuncewizowa zählt neben Maria Dombrowska, Zofia Nalkowska, Hanna Malewska zu den großen weiblichen Repräsentanten der modernen polnischen Literatur. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, als Polens nationale Wiedergeburt die Künstler zu höchsten Leistungen beflügelte, als Dramatik, Lyrik und Prosa eine neue Blüte erreichten, verhalf Maria Kuncewiczowa dem psychologischen Roman zum Durchbruch. Bereits die frühen Werke offenbarten ihre Neigung, den Absonderlichkeiten der menschlichen Seele nachzuspüren und versteckte Kausalitäten in den menschlichen Beziehungen aufzudecken.
Der erste große Wurf gelang ihr 1936 mit dem Roman „Die Fremde", der,  1937 mit dem Preis der Stadt Warschau gewürdigt, heute fast in ein Dutzend Sprachen übersetzt ist.
Erzählt wird die Lebensgeschichte der schönen und begabten, bewunderten und gefürchteten, leidenschaftlichen Geigerin Roza. Die Enkelin eines polnischen Offiziers der Napoleonischen Armee und einer Kreolin, die Tochter freiheitlich gesinnter, in der zaristischen Verbannung lebender Eltern wird in ihrer Jugend von der nationalpolnisch denkenden Tante in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nach Warschau geholt. Hier, in dem fremden Vaterland, besucht sie das Konservatorium, entbrennt in Liebe zu dem Sohn ihres Lehrers, der sie schon bald mit einer anderen betrügt. Für Roza ist damit das Leben zu Ende. Zu keinem echten Gefühl mehr fähig, verschließt sie sich in Haß und Rachegedanken gegen die Welt, gegen den ungeliebten Mann und die Kinder. Sie flieht in das Traumreich der Musik, doch auch dort läßt ihre Gefühlsarmut sie nicht Letztes vollbringen. Erst im greisen Alter begegnet sie einem Menschen, der den Fluch der Erstarrung von ihr nimmt.
Bei aller im Vordergrund stehenden Seelenforschung bleibt „Die Fremde" ein unverwechselbar polnischer Roman, ist das Erscheinungsbild der Protagonistin Roza nicht nur geprägt von der verlorenen großen Liebe und dem Hang zum Übersensiblen, sondern vor allem von dem Schicksal ihrer Familie, das stellvertretend ist für die Wirrnisse der polnischen Geschichte überhaupt.

Maria Kuncewiczowa (geb. 1899) kommt aus einer bürgerlichen Familie mit freiheitlich-patriotischen Traditionen; studierte in Nancy französische Literatur, später Gesang und polnische Philologie; emigrierte 1939 zunächst nach Paris, dann nach London; leitete dort von 1940 bis 1955 den polnischen PEN-Club im Ausland; 1956 Übersiedlung in die USA und Vorlesungen über polnische Literatur an amerikanischen Universitäten; 1962 endgültige Rückkehr nach Polen, wo alle ihre Bücher erschienen; lebt in Kazimierz an der Weichsel.
Wichtigste Werke: Bündnis mit dem Kind (1926), Das Gesicht des Mannes (1928), Die Fremde (1936), Verschwörung der Abwesenden (1946), Tristan 46 (1967), Phantome (1971).

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1974


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