15 Juni 2023

Günther Weisenborn: Die Furie

 Günther Weisenborn hörte die schwarzgekleideten Caballeros unter ihren Strohhüten vom Zinnhandel und den Teepreisen plappern, sah die blauen Madonnenscheitel der Señoritas in der argentinischen Sonnenglut glänzen, und wenn er als Postreiter 1930 im Urwald des Gran Chaco auf den Dächern der Indianer zu Schindeln zerschnittene Benzintanks entdeckte, dann fügten sich diese exotisch-schimmernden Eindrücke zu einer Erfahrung: es ist Krieg im Lande. Der Direktor des eleganten Hotels, in dem Waffenhändler und Geschäftsleute aus New York und London abgestiegen waren, trug unter dem Smoking einen Revolver. „Man schläft einige Meter über den Gräbern der Azteken, aber man schläft in Daunen“, bemerkte der Autor in seiner Erinnerung. „Ich, der Nachfahre einer nördlichen Wildnis, liege müde und sinnierend im modernen Hotel nicht weit von der Reiseschreibmaschine, die meine Eindrücke aufzeichnen soll. Gott schütze ihre Fragezeichen, man wird sie gebrauchen müssen, scheint es.“ In diese Welt bricht Dr. Christian Munk, der Erzähler des Romans, auf, um die Furie Schmerz, von der das Land geschüttelt wird, wissenschaftlich zu ergründen. Als Kriegsberichterstatter gerät er zufällig mitten ins Geschehen des Urwaldkrieges. Nicht allein für seine Berichte wird auch er viele Fragezeichen brauchen.

Christian Munk war das Pseudonym Weisenborns in der Zeit, als seine Bücher verboten waren, und unter diesem Namen hatte der Bühnenautor und Filmszenarist im „Wutalltag“ des Nazireiches großen Erfolg, während er schon illegal kämpfte und später als Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ zum Tode verurteilt wurde. 1937 schrieb Weisenborn den Roman „Die Furie“, und er war bereits aus dem Zuchthaus Luckau befreit worden, als sein Buch vom Aufbruch eines Kontinents erstmals erschien.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1977
bb
DDR 2,95 M


Zur Einführung

Der deutsche Arzt Christian Munk ist nach Südamerika ausgezogen, um die Wirkungen des Schmerzes an den Kulturvölkern zu erforschen, gerät dabei in den Gran-Chaco-Krieg, verwickelt sich in eine Liebesgeschichte zu der Frau eines Diplomaten, die, schön, unglücklich und rätselhaft, ihn so in ihren Bann zieht, daß er darüber den gesellschaftlichen und beruflichen Auftrag vergißt.

Ein farbenreiches Bild wird vor dem Leser entrollt, dessen Szenerie zwischen den dunklen Wäldern des Urwaldes und dem fieberhaften Stadtleben Südamerikas wechselt. Die sumpfige Urwaldlandschaft zaubert Menschen hervor wie den schönen jungen Führer des Aufstandes, Matarazo, und den seinem Kampfziel fanatisch ergebenen Leutnant Taboada. Sie spiegelt sich aber auch in den eleganten Salons von Paraguay und der gemischten Gruppe europäischer Gäste des Hotels Gloria. Seltsame Erscheinungen sind darunter, klug und lebenshungrig, aber auch brutal und verdorben.

Eine spannende, reizvolle Atmosphäre von Geheimnis und Gefahr breitet sich über die Handlung, liegt über dem grausigen Urwaldkrieg und den farbigen wechselvollen Bildern des mondänen Stadtlebens.

Dieses mitreißend geschriebene Buch läßt hinter dem Einzelschicksal des deutschen Arztes Christian Munk die inneren Auseinandersetzungen des südamerikanischen Kontinents in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts deutlich werden.

Verlag der Nation, 1957
(Stammt vermutlich aus einer Reihe, auf Buchrücken ist Nr. 58 angegeben.)
Diese Ausgabe wurde unwesentlich gekürzt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.