26 Oktober 2020

Romain Rolland - Stefan Zweig: Briefwechsel, 1910 - 1940

 


Zweig über Rolland in "Die Welt von gestern":

Sein Wissen war beschämend vielfältig; eigentlich nur mit dem lesenden Auge lebend, beherrschte er die Literatur, die Philosophie, die Geschichte, die Probleme aller Länder und Zeiten. Er kannte jeden Takt in der Musik; selbst die entlegensten Werke von Galuppi, Telemann und auch von Musikern sechsten und siebenten Ranges waren ihm vertraut; dabei nahm er leidenschaftlich teil an jedem Geschehen der Gegenwart. In dieser mönchisch-schlichten Zelle spiegelte sich wie in einer Camera obscura die Welt. Er hatte menschlich die Vertrautheit der Großen in seiner Zeit genossen, war Schüler Renans gewesen, Gast im Hause Wagners, Freund von Jaurès; Tolstoi hatte an ihn jenen berühmten Brief gerichtet, der als menschliches Bekenntnis seinem literarischen Werke würdig zur Seite steht. Hier spürte ich - und das löst immer für mich ein Glücksgefühl aus - menschliche, moralische Überlegenheit, eine innere Freiheit ohne Stolz, Freiheit als Selbstverständlichkeit einer starken Seele. Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm - und die Zeit hat mir recht gegeben - den Mann, der in entscheidender Stunde das Gewissen Europas sein würde.


Rolland an Zweig in einem Brief vom 10. Juni 1920:

Endlich habe ich ihr Manuskript gelesen ["Romain Rolland, der Mann und das Werk"], dessen dritte Lieferung vorgestern hier eingetroffen ist; und ich bin tief bewegt. Es ist die Dichtung eines Lebens, das sich im Blick einer schönen Freundschaft spiegelt. Das muss ich vergessen, um es von außen beurteilen zu können und Ihnen zu sagen, wie sehr ich die große Kunst, die nüchterne, gerechte und vornehme Kunst bewundere, mit der Sie es verstanden haben, einen ziemlich verzweigten Werdegang, eine vielschichtige Seele ausführlich und hochgesinnt zu beschreiben, ohne sich jemals in Einzelheiten zu verlieren, stets das Wesentliche ins Licht rückend. Ich denke, dass Ihre Zuneigung das Modell manchmal unbewusst verschönt hat. Aber ich habe mich dem süßen Gefühl überlassen, dass ich solche Zuneigung einzugeben vermochte (wenn ich sie vielleicht auch nicht vollends verdiene). Die Seiten, die Sie über unsere Brüderlichkeit während des Krieges schreiben - über die kleine Familie, die wir mit ein paar anderen "fuorusciti" inmitten wahnbesessener Nationen bildeten -, haben mir das Herz berührt. Ich glaube, man wird diese Seiten noch lange nach uns lesen, und spätere Generationen werden uns um unsere gemeinsamen Leiden, um unsere Gemeinschaft freier und verfolgter Männer beneiden.

Rütten & Loening, Berlin, 1. Auflage, 1987
Manuskriptzusammenstellung und Bearbeitung: Waltraud Schwarze


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