15 Oktober 2020

Zofia Nalkowska: Die Schranke


 Auf den Bürgermeister einer polnischen Kleinstadt der zwanziger Jahre wird ein Attentat verübt: Ein junges Mädchen, anscheinend eine Bittstellerin, dringt in sein Arbeitszimmer ein, schüttet ihm Salzsäure ins Gesicht und läßt sich dann widerstandslos abführen.

Die Einwohner sind bestürzt, sie stehen vor einem Rätsel. Auch die Polizei vermag nicht, den Fall zu klären. Was hat zu diesem Anschlag geführt, der auf groteske und tragische Weise einer glänzenden Karriere ein Ende setzte? Die einzigen, die darüber Aufschluß geben könnten, die Täterin und die Ehefrau des Unglücklichen, schweigen.

Sie wissen, daß der geachtete Mann, der als liberaler, fortschrittlicher Mensch, als fürsorglicher Gatte und liebevoller Vater gilt, durchaus nicht immer so einwandfrei handelt, wie man es allgemein von ihm annimmt; sie wissen, daß er trotz leuchtender Ideale, trotz bester Absichten klare Entscheidungen meidet und im Amt wie auch zu Hause untragbare Kompromisse eingeht.

Aber sie schweigen, die beiden Frauen - die Gattin und die verlassene Geliebte.

Er selbst, dieser Zenon Ziembiewicz, zieht zum ersten Mal in seinem Dasein eine Konsequenz: Er begeht Selbstmord. Aber sogar damit weicht er vor der unsichtbaren Schranke zurück, die sein ganzes Leben bestimmte - der Schranke der Konvention.

Verlag Volk und Welt Berlin, 1958
Übersetzung: Caesar Rymarowicz

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