02 Dezember 2020

Giovanni Boccaccio: Das Dekameron - Erster bis Fünfter Tag / Sechster bis Zehnter Tag


 Erster bis Fünfter Tag

Inhalt:

Il Decamerone (vom griechischen deka=zehn und hemera=Tag, also Zehntagebuch) erzählt bekanntlich, dass im Jahre 1348, als die Pest in Florenz schrecklich wütete, eines Dienstags sich in der Kirche di Santa Maria Novelli sieben junge, edelgeborene und befreundete Damen zwischen 18 und 28 Jahren durch einen Zufall trafen. Die älteste, Pampinea, macht den Vorschlag, gemeinsam die Stadt des Todes zu fliehen und sich auf ein Landgut zu begeben. Während sie noch beraten, finden sich drei junge Männer in der Kirche ein, von denen jeder in eins der Mädchen verliebt ist, und alle zehn begeben sich nun mit ihrer Dienerschaft nach einem zwei Meilen von Florenz gelegenen Schlösschen, wo sie fröhlich und geschwisterlich einige Zeit verbringen. An jedem Tag wird ein anderer der Gesellschaft zum König gewählt und hat für das Wohlbehagen und die Unterhaltung der übrigen zu sorgen. Pampinea als Königin des ersten Tages bestimmt, dass nachmittags Geschichten erzählt würden, und zwar sollte jeder der Zehn über den Stoff sprechen, der ihm am meisten zusagte. Am zweiten Tag, unter Philomenens Regierung, wird das Thema aufgegeben, von Leuten zu berichten, die nach verschiedenem Unheil am Ende doch an ein glückliches Ziel kommen. Am dritten Tag verlangt die Königin Neiphile Erzählungen des Inhalts, wie einer durch Scharfsinn ein ersehntes Ziel erreichte oder etwas verlorenes zurückgewann. Am vierten Tage wird unter Philostratus' Regierung von Liebe gesprochen, die unglücklich, am fünften unter der Königin Fiammetta von Liebe, die nach mancherlei Widerwärtigkeiten doch glücklich endete. Am sechsten Tage stellt Elise die Aufgabe, Beispiele beizubringen, wie leichtfertig Geneckte durch schnelle und witzige Antwort der Gefahr und dem Spott entgingen. Am siebenten Tage, unter König Dioneus, werden Streiche erzählt, welche Frauen ihren Männern, am achten, unter Laurettas Zepter, Streiche, die sich Eheleute oder anderen Personen gegenseitig spielten. Am neunten Tage erlaubt Königin Emilia jedem zu berichten, was ihm eben behagt, und am zehnten, unter Pamphilus' Regierung, muss jeder Beispiele von Edelmut und Hochsinnigkeit beibringen. Damit schließt dann das Buch "Il Decamerone, beigennant der Erz-Kuppler", so dass es also genau 100 Geschichten enthält.

Von diesen 100 Geschichten hat Boccaccio nur die allerwenigsten erfunden; die Stoffe der meisten stammen aus arabischen, indischen, persischen, altfranzösischen und sonstigen Quellen. Aber Boccaccio gab ihnen erst literarische Form, lokalisierte sie und erzählte sie mit einer Lebendigkeit, Anschaulichkeit und in einer Sprache, die das berühmte Muster italienischer Prosa ward. In Bau und Bildung der Perioden folgte er dabei dem bewunderten Vorbild der Alten, insbesondere Ciceros. Vielleicht hielt er sich zu sehr an dies große Muster:

seine Perioden sind etwas weitläufig, aber in aller Fülle doch von schöner Klarheit, während bei seinen Nachahmern mehr und mehr das Künstliche dieses Stiles zum Vorschein kommt. Es wird bei Boccaccio selbst minder auffällig durch die große Frische des Wortes, das der Mund dese Volkes, die Gassen von Florenz ihm gaben. Am bekanntesten von den Geschichten des Decamerone ward durch Lessings Nathan den Weisen wohl jene von den drei Ringen, die als dritte Novelle des ersten Tages von Philomena erzählt wird. Weit berühmt ist auch jene von dem armen Adeligen, der seinen einzigen Falken opfert, um der Geliebten eine Mahlzeit vorsetzen zu können. Eine andere, die letzte Erzählung des ganzen Werkes, behandelt den Griselda-Stoff, der seitdem von Dichtern aller Länder und Zeiten, zuletzt (1909) von Gerhart Hauptmann, aufgenommen ward. Und wer hat noch nicht über den Bruder Zippolla gelacht, der den Gläubigen eine Feder des Engels Gabriel vorzeigen will und der sich so wundervoll herausredet, als er in seinem Kästchen statt der Feder ein paar Kohlen findet? Witziger noch ist der Koch, der seiner Geliebten eine Keule von dem gebratenen Kranich abschneidet, seinem Herrn erzählt, dass Kraniche nur eine Keule und ein Bein besitzen und zum Beweise dessen bei einem Spazierritt auf die Vögel, die nach ihrer Art auf einem Fuße stehen, hinweist. Der Herr aber schreit Ho! Ho!, dass die Kraniche erschreckt auch das andere Bein herunterlassen und entfliehen. «Nun, Spitzbube?» fragt er dann zornig. «Ja,» sagt der Koch, «hättet Ihr den von gestern abend auch so angeschrieen, hätte auch er die andere Keule noch herausgestreck!» Am witzigsten und gelungensten sind jedoch jene Schwänke, die ins sexuelle Gebiet abschweifen. Die derbe Komik, die darin regiert, ja, die nun einmal nicht wegzuleugnende Obszönität der Stoffe wird durch die Form etwas geadelt; Boccaccio ist niemals wählerisch in der Situation, im Thema, aber stets im Worte. Er selbst hat sich am Schlusse seines Werkes auf gute Art gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit verteidigt, und wenn der saftigen Stücklein, wie sie besonders Dioneus erzählt, auch reichlich viel sind, so ist nicht nur das Schlimmste davon auf das Konto der Zeit zu setzen, sondern es bleibt auch bestehen, dass Boccaccios ganz auf das Konkrete gerichtete Natur, sein Mutwille, seine Grazie nirgends mehr triumphieren, als in diesen etas lasziven Novellen, so dass, wenn man sie entfernen wollte, ein großer Teil des Besten, was er geschrieben hat, verschwinden würde. Stärker noch als gegen die Obszönität einiger Stücke hat sich der Unwille vieler gegen den Hohn und Spott gerichtet, mit dem der Decamerone die Mönche und Nonnen, die hohe und niedere Geistlichkeit, das ganze versumpfte Priestertum des 14. Jahrhunderts überschüttet.

Dante donnert gegen das Papsttum; Boccaccio macht die Kleriker lächerlich. Alle pikanten Histörchen sind fast Geistlichen in die Schuhe geschoben. Kein Wunder, dass das Zehntagewerk auf den Index kam, dass Savonarola alle Exemplare, die er erlangen konnte, verbrannte. Es hat nichts genützt; der Decamerone hat die Jahrhunderte überlebt, und wie sich Millionen an ihm ergötzten, so haben Maler und Dichter - voran Shakespeare - immer wieder aus seinem Reichtum an mannigfaltigen Stoffen geschöpft.

Aus: "Geschichte der Weltiteratur" von Carl Busse.

Aufbau Verlag, Berlin und Weimar 1988
aus dem Italienischen übertragen von Ruth Macchi
Nachdichtung der Verse der ersten drei Tage von August Wilhelm Schlegel, der Verse der folgenden Tage von Karl Witte.

Sechster bis Zehnter Tag


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