17 Januar 2021

Marie Cardinal: Schattenmund oder Die Worte, um es zu sagen


 Zusammengekrümmt kauert Marie auf dem Sofa, angstgeschüttelt lauscht sie in sich hinein, beobachtet sie ihren Körper. Schon lange ist sie unfähig, zu leben wie andere, zu arbeiten, ihre Kinder zu betreuen. Was ist dieses Unbekannte, Unfaßbare, das sie bedrängt? Ein ganzes Heer von Ärzten hat sie bereits konsultiert - niemand konnte ihr helfen. Da entschließt sie sich zu einer psychoanalytischen Behandlung: dreimal in der Woche ein quälendes Gespräch, bis sie nach Jahren endlich das Haus des Therapeuten, das sie als zerstörter Mensch betreten hat, selbstbewußt und neugierig auf das Leben verlassen kann, für immer. Bis weit in ihre Kinderzeit im französischen Algerien der dreißiger Jahre hat sie zurückgehen müssen auf ihrer Suche nach sich selbst. Sie war von einer hochmütigen, traditionsbewußten Mutter in borniertem Standesdünkel erzogen worden, Verbotsschilder versperren ihr allenthalben den Weg. Das impulsive, eigenwillige Mädchen litt unter der Dressur und bäumte sich auf; doch es kam der Tag, da ihr Wille gebrochen, ihre Widerstandskraft aufgezehrt war - und fortan funktionierte sie wie eine Puppe. So lange, bis die Selbstverleugnung sie an den Rand des Wahnsinns trieb.

Mit schonungsloser Offenheit spricht hier eine Frau fast ausschließlich über sich selbst; aber sie hat einen wachen Blick für ihre Umwelt, für die Bedingungen, unter denen sie lebt und ohne die ihre individuelle Geschichte letztlich nicht entschlüsselbar ist.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1983
Edition Neue Texte
Deutsch von Gabriele Forberg und Asma El Moutei Semler
Mit einer Nachbemerkung von Johannes Helm

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