
Ludwig Uhlands Sammlung der "Alten hoch- und niederdeutschen Volkslieder", 1844 erschienen, ist zwar nicht so berühmt und populär geworden wie "Des Knaben Wunderhorn" von Achim von Arnim und Clemens Brentano, aber sie erschließt ebenfalls eine lebendige Fülle deutscher Volkspoesie, darunter bekannte Lieder wie "Es blies ein Jäger wohl in sein Horn", "Ich hört ein Sichelin rauschen", "Es ist ein Schnee gefallen", "Wie schön blüht uns der Maie", "Innsbruck, ich muß dich lassen", "Es fliegt ein kleines Waldvögelein", "Es ist ein Ros entsprungen". Deshalb gelten Heinrich Heines enthusiastische Worte zum "Wunderhorn" gleichermaßen auch für Uhlands Sammlung: "In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volks. Hier offenbart sich all seine düstere Heiterkeit, all seine närrische Vernunft. Hier trommeln der deutsche Zorn, hier pfeift der deutsche Spott, hier küßt die deutsche Liebe. Hier perlt der echt deutsche Wein und die echt deutsche Träne. ... Welche Naivität in der Treue! In der Untreue, welche Ehrlichkeit!" Vagabunden, Landsknechte, fahrende Studenten und Handwerksburschen werden als Verfasser vermutet, die, "angeregt von irgendeinem ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volkslied improvisierten oder in die freie Luft hineinpfiffen. Das erlauschten nun die Vögelein, die auf den Baumzweigen saßen; und kam nachher ein anderer Bursch, mit Ränzel und Wanderstab, vorbeigeschlendert, dann pfiffen sie ihm jenes Stücklein ins Ohr, und er sang die fehlenden Verse hinzu, und das Lied war fertig." Dies ist die poesievolle Erklärung Heines; feststeht jedoch, daß sich in der Klage des verlassenen Mädchens, in der Bitte des armen Schwartenhalses um Brot und Bett, im Berufsstolz der Müller, Maler, Schreiber, Drucker, in dem Begehren des Jünglings, in die Kammer der Liebsten eingelassen zu werden, Herz und Verstand des Volkes offenbaren. Freud und Leid, sommers wie winters, erfüllte und verschmähte Liebe, spiegeln sich in diesen sangbaren kleinen Gebilden wider, die auch später die Phantasie vieler Dichter beflügelt haben.
Ludwig Uhland spürte in seiner Sammlung die Quellen auf und bietet diese Lieder ungeglättet dar. Oft gesungen, ja zersungen - manches wurde weggelassen oder hinzugefügt -, bestätigen sie Herders Meinung, "daß nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat als Lieder des Volks". Ihre ursprüngliche Kraft und ihr poetischer Glanz haben diese Volksweisen über die Jahrhunderte bis in unsere Zeit lebendig erhalten.
Ludwig Uhland (1787-1862); Sohn eines Universitätssekretärs; 1805-1810 Jura- und Philologiestudium in Tübingen (Dr. jur.); Bekanntschaft mit Gustav Schwab; Rechtsanwalt, 1812 unbesoldeter Beamter im Stuttgarter Justizministerium; Beteiligung am Kampf um die württembergische Verfassung, 1819-1826 Abgeordneter im Landtag; 1829 Professor für Philologie in Tübingen; 1832-1838 erneut Landtagsabgeordneter; 1848 gehörte er zur liberalen Linken in der Frankfurter Paulskirche, folgte 1849 dem Rumpfparlament nach Stuttgart; nach der Revolution lebte er zurückgezogen und widmete sich seinen wissenschaftlichen Studien.
Uhland ist in erster Linie durch seine am Volkslied geschulte, sangbare Natur- und Liebeslyrik, die von namhaften Komponisten vertont wurde, und als Balladendichter bekannt geworden. Mit seiner Sammlung "Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder (1844), seiner "Abhandlung über die deutschen Volkslieder" (1845) sowie seiner Studie "Walther von der Vogelweide, ein altdeutscher Dichter" (1822) steht er am Beginn volkskundlicher Forschung und der germanistischen Wissenschaft.
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1980
bb-Reihe Band 450
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