25 Mai 2021

Erich Weinert: Das pasteurisierte Freudenhaus

Erich Weinert spricht – diese lapidare Ankündigung hat zu Lebzeiten des Dichters, besonders in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, Hunderttausende mobilisiert. Kein anderer deutscher Schriftsteller – Lyriker gar! – ist vorstellbar, der so beliebt (bei seinen Freunden) und so gefürchtet (bei seinen Feinden) war wie er.

Erich Weinert, der Dichter und beredte Anwalt der Arbeiterklasse, hat sich nie geschont. An keiner Front des internationalen Klassenkampfes hat er gefehlt: Er hat sich in der Weimarer Republik mit der deutschen Reaktion herumgeschlagen, er hat teilgenommen am spanischen Freiheitskampf, und er lag im Schützengraben vor Stalingrad. Und so wirkungsvoll Weinert mit dem schweren Säbel gegen die Führer und Verführer zu kämpfen verstand, so exzellent führte er das Florett der Satire gegen die Schwächen der Ge- und Verführten, seiner mehr oder weniger lieben Mitmenschen.

Und weil er diese – typisch deutschen? – Schwächen so gut kannte, hat er sie so brillant vorgeführt, daß sehr viele seiner meist bissigen, oft auch „nur“ humorvoll ironisierenden, immer aber leicht eingängigen, zum Sprechen gemachten und zum Nachsprechen reizenden Verse bis zum heutigen Tag lebendig, brauchbar geblieben sind.

Wem fällt da wohl nichts ein, wenn er in dieser schmalen Auswahl blättert? Gewiß, die „Gottesgnadenhechte“ sind in unseren Breiten verschwunden, und auch die Freuden selbst eines „pasteurisierten Freudenhauses“ liegen uns schon etwas fern – aber werfen wir doch einen kurzen Blick auf die „besseren Leute“ westlich unserer Landesgrenzen … Freilich, auch an unserer eigenen Nase zupft da wer nicht grade sanft! Oder können wir nicht bis zur Stunde unser „Lied von der Behörde“ singen? Vielleicht lieber das vom „geretteten Wochenendidyll“? Ist der „Stammtischwitzbold“ 1929 ausgestorben? Ging Molle 1930 zum letzten Mal maifeiern? Sahn Sie nicht erst gestern jemanden „mit einer Stoppuhr als Gehirn“ rekordefordernd „durch die Gegend schwirrn“? Und wie wird ihnen bei jenen „Sommerfrischlern“, die „Gedichte oder Initialen voll Gefühl an jeden Lokus malen“?

Weit mehr also denn ein lustiges historisches Panoptikum ist dies Büchlein. Merkt ihr nischt? flüstert es uns zu – Erich Weinert spricht!

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1978
Ausgewählt von Herbert Greiner-Mai

 

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