27 Mai 2021

Ivo Andric: Gesichter

 Gesichter... Sie gleiten zu Tausenden an uns vorüber und werden vergessen. Andere prägen sich - selbst nach flüchtiger Begegnung - für immer in unser Gedächtnis ein, weil in ihnen etwas geschrieben steht, was uns seltsam und tief berührt, was unser lebhaftes Mitempfinden weckt. Dem Dichter nun ist es gegeben, das, was aus ihnen spricht - freudiges und schmerzliches Erleben, zuweilen ein ganzes Schicksal -, zu fassen und zu gestalten.

So geschieht es auch hier. Der Autor macht uns die Gesichter von Menschen lebendig, die er irgendwo, irgendwann gesehen hat und die ihn seither nicht loslassen, und jedes von ihnen gibt gleichsam seine Geschichte preis. So erhalten wir eine Kette kleiner erzählerischer Kostbarkeiten, die von neuem die hohe epische Kunst des jugoslawischen Dichters Ivo Andric, des Nobelpreisträgers von 1961, beweisen.

Beginn

Am Sternenhimmel und am Gesicht des Menschen wird man sich niemals satt sehen können. Man schaut und schaut, und alles ist längst geschaut und doch unerforscht, bekannt und doch neu. Das Gesicht, das ist die Blüte an jener Pflanze, die Mensch heißt. Eine Blüte, die sich regt, die ihren Ausdruck wandelt - von Lachen, Stolz oder Nachdenklichkeit bis zum sprachlosen Stumpfsinn  oder zur Unbewegtheit der toten Natur...

Aufbau-Verlag, 1962
Aus dem Serbokroatischen von Werner Creutziger

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.