22 Juni 2021

Martin Walser: Brief an Lord Liszt


 Franz Horn kennt der aufmerksame Walser-Leser schon aus "Jenseits der Liebe". Die "Dummheit mit den Tabletten" liegt nun Jahre zurück. Horn ist längst zufrieden mit sich. Zufriedener konnte man gar nicht sein, obwohl ihn einiges beschäftigt. Dr. Liszt, Kollege und Konkurrent, zum Beispiel, mit dem er vor kurzem wieder so einen peinlichen Auftritt hatte. Könnte ein richtiger Brief an diesen unnahbaren "Lord" Liszt nicht alles klären und die ewigen Mißverständnisse wegräumen?

Eine ganze Nacht schreibt Horn an seinen Freund-Feind und entwickelt dabei seine "Gesellschaftsphysik", die er dem fünfzehnjährigen Angestelltendasein in Arthur Thieles Firma verdankt: "Der Unternehmer braucht Erfolge; Mißerfolge müssen die Mitarbeiter übernehmen. - Wer jemanden unter sich erträgt, erträgt auch jemanden über sich. - Zwischen Konkurrenten ist Freundschaft nicht möglich. - Zwischen Chef und Abhängigen gibt es menschliche Kontakte nur zum Schein. - Der Mißerfolg seines Konkurrenten ist der Erfolg des Erfolglosen." Horn hat sein Dilemma schreibend erkannt, das macht ihn verzweifelt optimistisch. So verloren wie er ist, kann er sich gar nicht fühlen, denkt er, und das ist denn doch ein ziemlich unsicherer Grund für Zufriedenheit.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Aufl., 1984
Schutzumschlagentwurf: Heinz Hellmis
Abbildung: Jürgen Wagner
Edition Neue Texte

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