17 Oktober 2021

Simone de Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

„Ich habe mich auf ein unbesonnenes Abenteuer eingelassen, als ich anfing, von mir zu sprechen: man kommt ins Erzählen und findet kein Ende. Meine ersten zwanzig Jahre hatte ich mir schon lange erzählen wollen; nie habe ich die Hilferufe vergessen, die ich als junges Mädchen an die Frau richtete, die mich – Leib und Seele – in sich aufnehmen würde: nichts würde von mir zurückbleiben, nicht einmal eine Handvoll Asche. Ich beschwor sie, mich eines Tages dem Nichts wieder zu entreißen, in das sie mich stürzen würde. Vielleicht wurden meine Bücher nur geschrieben, damit diese alte Bitte Erhöhrung finde.“

Ein Erinnerungsbuch, aber kein rührselig-beschaulicher Rückblick aus der Sicht der abgeklärten Erwachsenen. Simone de Beauvoir berichtet über die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens – 1908 bis 1929 -, um Klarheit zu gewinnen über sich, über das Milieu und die Zeit, in die sie hineingeboren wurde. In einer Fülle von anschaulichen Details ersteht vor dem Leser das stockkonservative Elternhaus, die strenggläubige Mutter und der „rechtsdenkende“ Vater, der ganze Familienclan mit seinen Vorurteilen und überholten Wertmaßstäben, seinen Riten und Tabus, seinem unerschütterlichen Glauben an eine festgefügte Ordnung. Wohlbehütet, verhätschelt und bewundert wächst die „Tochter aus gutem Hause“ in dem Bewußtsein auf, daß ihr in dieser Welt zu Recht ein privilegierter Platz zukomme. Doch bald schon beginnt sie sich aufzulehnen, zuerst gegen willkürliche Gebote und Verbote, später, nach langen inneren Kämpfen bricht sie auch mit dem Weltbild ihrer bürgerlichen Umgebung. Sie verliert den Glauben, sie schließt sich der „gefährlichen Sekte“ der Intellektuellen an und baut sich ein Leben in geistiger und materieller Unabhängigkeit auf, anders als das ihrer Kreise, in denen „alles entschieden war, ohne daß jemand etwas entschied“.

Mit großem Einfühlungsvermögen, frappierender Offenheit und scharfer Beobachtungsgabe analysiert Simone de Beauvoir diesen langwierigen und komplizierten Prozeß der Loslösung von der eigenen Vergangenheit. Sie zeichnet damit zugleich ein lebendiges Bild der französischen Bourgeoisie im ersten Viertel dieses Jahrhunderts.

Verlag Volk und Welt Berlin 175
Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens

 

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