05 April 2022

Elias Canetti: Der Ohrenzeuge - Fünfzig Charaktere

Charakter-Bilder stehen als literarische Form in einer langen Tradition. Theophrast, La Bruyère, Balzac geben mit ihren Typisierungen soziologisch aufschlußreiche Bilder ihrer Zeit. Auch Elias Canetti (geb. 1905) reiht sich mit Charakteren wie "Der Namenlecker" oder "Der Hinterbringer" in diese Tradition ein. Sie sind leicht erkennbare Grundtypen einer Gesellschaft, die nur noch dem Eigennutz verpflichtet ist. Mit anderen Charakteren - mit dem "Schadenfrischen" etwa, dem "Papiersäufer" oder dem "Vermachten" - bevölkert Canetti ein Panoptikum: skurrile Typen, schwer zu entschlüsseln, scheinbar nicht von dieser Welt. Dann aber, auf den zweiten oder dritten Blick lassen sich auch diese Fabelwesen entziffern. Es sind bewußt überzeichnete Deformationen bürgerlicher Endzeit. Canetti führt Zweibeiner vor, deren ganzes Leben und Auftreten von einer einzigen alles überwuchernden Funktion bestimmt wird. Die Rolle, die sich das Individuum in einer deformierten Welt zulegen mußte, weil sie ihr durch die gesellschaftlichen Verhältnisse aufgezwungen worden ist, hat sie verstümmelt.

Die Marionetten und Lemuren dieses Buches sind nur scheinbar zeitlos, und das verbindet sie mit den anderen Gestalten von Elias Canetti. Wie schon in seinem Roman "Die Blendung" (Volk und Welt 1969 und 1974) sind die vorgestellten, in einem engen Verhaltenskorsett sich bewegenden Typen Opfer einer illusionären Bürgerwelt. Wieder erweist sich Canetti als der Schriftsteller hohen Ranges, von dem schon seinerzeit Thomas Mann angetan war - wegen der "erbitterten Großartigkeit seines Wurfs, seiner dichterischen Unerschrockenheit, seiner Traurigkeit und seinem Übermut".

Verlag Volk und Welt Berlin, 1. Auflage 1976
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