28 Oktober 2022

Rudolf Hirsch: Patria Israel


 Haifa 1940. – Das Schicksal der „Patria“ hält verschiedene Menschen in höchster Erregung. Für Georg Samson – selbst ein nach Palästina Geflüchteter – beginnen Tage schwerster Prüfung. Mitten in diesem Krieg kommen Schiffe – voll mit Flüchtlingen, vor dem Zugriff der deutschen Faschisten gerettet. Was wird mit der „Patria“ geschehen? Ein Anschlag soll auf dieses Frachtschiff, übervoll beladen mit 1900 Flüchtlingen, verübt werden. Wird es gelingen, das mörderische Geschehen aufzuhalten? War Lore Spiro, der ihm teuerste Mensch, auf dem Schiff? Rudolf Hirsch enthüllt in diesem aktuellen und zugleich tief persönlichen Roman die Hintergründe eines Sprengstoffanschlags und vermittelt durch eigenes Erleben ein umfassendes Bild jener Zeit.

Zwei Motive aus dem Machsor Lipsiae sind für den Schutzumschlag ausgewählt worden, beide aus dem 2. Teil dieses Werkes. Auf der Vorderseite ist ein Motiv des Blattes 181 verwendet worden. Im Original ist darauf das Gebet zum 1. Tag des Laubhüttenfestes (Sukkoth). Die Gestalt neben dem Text trägt den traditionellen Feststrauß zu diesem Fest, bestehend aus Palmenzweig, Weidenzweig und dem Etrog, einer Zitrusfrucht. Unter dem Text die zwei biblischen Ungeheuer aus dem Buch Hiob, Leviathan und Behemoth, die zu Wasser und zu Land die Menschheit bedrohen.
Das bebilderte und hervorgehobene Anfangswort „Achtir“ bedeutet: „Ich werde bekränzen.“

Auf der Rückseite des Schutzumschlags ist das ganze Blatt 165 aus dem 2. Teil des Machsor Lipsiae abgebildet. Auf dem Blatt beginnt das Nachmittagsgebet zum höchsten Feiertag, zum Versöhnungsfest (Jom Kippur). Die untere Illustration zeigt Szenen aus dem Leben des Urvaters Abraham, seine wundersame Errettung von einem brennenden Scheiterhaufen. Ganz links bittet der Kerkermeister König Nimrod um Gnade für Abraham. In der Mitte Abraham mit seinem Bruder Nahor, die sich beide weigern, die Götzen Nimrods anzubeten. Das bebilderte Wort am Kopf des Blattes Ejtan bedeutet: „Ein Starker“.

Buchanfang
(An Edom!)
Ein Jahrtausend schon und länger
Dulden wir uns brüderlich,
Du, du duldest, daß ich athme,
Daß du rasest, dulde ich.
Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,
Ward dir wunderlich zu Muth,
Und die liebefrommen Tätzchen
Färbtest du mit meinem Blut!
Jetzt wird unsre Freundschaft fester,
Und noch täglich nimmt sie zu;
Denn ich selbst begann zu rasen,
Und ich werde fast wie du.

Heinrich Heine
Aus einem Brief an Moses Moser vom 25. Oktober 1824

Epilog

Lea Grundig, die große Graphikerin, die große Erzählerin, war auf der „Patria“. Sie hat den Untergang miterlebt. Sie hat ihn beschrieben in ihrem Buch „Gesichte und Geschichte“. Mit ihr habe ich mich oft über ihre Erlebnisse auf der „Patria“ unterhalten.

„Da ging es wie ein Stoß durch den Körper des Schiffes. Siehe, es schwankt. Es legt sich, den elenden Kästen gleich, auf die Seite. Wir stehen und staunen. Und es ist fast komisch. Fast warten wir, daß der Kapitän rufen wird: ‚Alles auf die andere Seite!’ Aber auf einmal ist jeder für sich allein. Sucht jeder für sich nach Rettung. Das große Schiff legt sich um wie ein getroffenes Tier, etwas hat seine Eingeweide zerrissen.
Die Menschen, die es trägt, sind sie am unteren Bord, so sind sie verloren. Taue, Balken, Kessel, es stürzt auf sie herab und erschlägt sie. Ein wildes Schreien bricht aus. Wirre, schreckliche Bilder, die das Hirn kaum verarbeitet; nur ein klarer Gedanke, Leitmotiv für alles Tun: Rette dich, das Schiff geht unter.
Ruhig überlegte ich mir: Was tun? Zuerst fort vom Deck, über das Geländer hinüber. Damit war ich eigentlich in Sicherheit. Nur den aus dem Wasser herausragenden Rumpf hinunter. Der Mantel würde mich beim Schwimmen hindern – also weg mit ihm. Mit Staunen sah ich den feuchten, geteerten Schiffskörper, der sonst nicht sichtbar im Wasser liegt. Algen, Muscheln, kleine Tiere hatten ihn in eine lebende Wand verwandelt. Ich rutschte und glitt sie hinunter, und dann zogen mich helfende Arme ins Boot. So eilten viele Boote herbei und retteten die Überlebenden.
Im Hafen von Haifa, einem der schönsten Häfen, im Angesicht der Stadt, ging ein Schiff unter. Es wurde auf die Seite geworfen, die Treppen wurden unbegehbare Brücken, Stationen entsetzlichen Sterbens. Trauben verzweifelter Menschen hingen an den Geländern, bis sie hinabfielen. Stärkere drängten nach vorn, einander tretend und von Todesangst gequält, erstickten und ertranken sie in den eindringenden Wassern. Ich sah noch, wie einige sehr fromme Menschen, anstatt einen Ausweg zu suchen, sich in die Knie warfen und gellend beteten, ich sah die schreckliche Wirkung der panischen Angst, die den Menschen jegliche Besinnung raubte.
So starben 220 Menschen, gekommen, um zu leben es starben die Kranken in den Betten, es starben jene, die sich in den Kajüten verweilt hatten, es starben jene, die hinuntereilten, um ihre Habe zu retten."
In einem irrte Lea Grundig. Später hat es die Haganah veröffentlicht: 250 Menschen kamen beim Untergang der „Patria“ ums Leben.

Ich muß aus dem Versteck Georg Samson herausgehen. Vielleicht aber war Georg Samson gar keine Figur aus einem Versteckspiel. Er war eher der Mittler, der Vermittler, dem es erlaubt ist, Wunderliches als wunderlich, Schmerzhaftes als schmerzhaft zu benennen, Großes als groß und Kleines als klein zu bezeichnen in einer unaufdringlichen Art, die das Ich aus einer gewissen Scheu vor dem Lauten und vor den Ausrufezeichen: Seht her, ich bin's, aussparte.
Ja, ich sah dieses Land mit meinen Augen, als ein Beteiligter. Und so ist dieses Buch entstanden, das auch eigenes Leben beschreibt. Aber das Leben eines Menschen ist kein Roman. Es besteht aus vielen Tagen, und jeder Tag hat seine Erzählung. Aber nicht jeder Tag ist des Schreibens wert. So habe ich vieles verkürzt und verdichtet in beiden Bedeutungen des Wortes – Wahrheit und Phantasie.
Es ist ein sehr persönliches Buch, die Umstände sind so beschrieben, wie sie sich mir darstellten. Aber nicht alles kommt aus meinem Gedächtnis, geschweige denn aus meiner Phantasie.
Bei der Schilderung der Begebenheiten um die „Patria“, wie sie im Hafen vor Haifa lag, habe ich mich vor allem auf den Bericht von Munya M. Mardor gestützt, der sich seiner Mitwirkung am Untergang der „Patria“ rühmt, in seinem Buch „Haganah“, erschienen im Verlag The New American Library in New York. Mardor, nach seiner eigenen Darstellung, war es, der die beiden Höllenmaschinen auf die „Patria“ gebracht hat. Das Buch „Haganah“ wird mit einem Vorwort von David Ben Gurion eingeleitet, der in dem 1948 begründeten Staat Israel Ministerpräsident wurde.
Keiner der Männer, die an dem Untergang der „Patria“, an diesem Verbrechen, mitwirkten, ist je in Israel wegen Mord zur Verantwortung gezogen und verurteilt worden. Im Gegenteil, die Täter bekleideten und bekleiden noch heute in der legalen israelischen Armee und in ihrem Geheimdienst hohe Posten. Daß diese Untat von der höchsten Stelle des heutigen israelischen Staates gebilligt wurde, ja angeordnet, ist nie bestritten.
Nie aber darf man bei der Bewertung der Ereignisse vergessen, daß dieses Geschehen eine Folge der barbarischen Judenmordpolitik der deutschen Nazis war. Ungezählte jüdische Menschen aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Holland, Belgien und Luxemburg, aus Polen, der Sowjetunion, aus Rumänien, Ungarn, der Tschechoslowakei, auch aus Griechenland, Italien, Jugoslawien und Bulgarien, den baltischen Staaten, aus Dänemark und Norwegen fielen der faschistischen Mordindustrie zum Opfer.
Nicht alle Ermordeten dieser nazistischen Verbrechen, nicht alle Opfer auf der „Patria“ waren Kämpfer. Sie waren in der Mehrheit Menschen des bürgerlichen Alltags. Keine Helden. Menschen mit unverwechselbaren Eigenschaften. Oft eigenwillig. Menschen mit dem Anspruch, ihr Leben nach ihrer Weise zu gestalten. Ihrer soll in diesem Buch liebevoll gedacht werden.
Ich habe mich bemüht, die Menschen, die mir begegnet sind, so zu schildern, wie sie waren oder richtiger, wie ich sie heute sehe. Viele von ihnen sind in den Vernichtungslagern umgekommen. Ich meine, daß es richtig ist, wenn ich sie nicht mit vollem Namen nenne. Genauso halte ich es mit den Personen, die heute noch leben. Wenn einige glauben, sie würden sich in diesem Buch wiedererkennen, mögen sie mir verzeihen. Einige wenige, die wesentlichen Anteil an meiner Entwicklung genommen haben, nenne ich mit vollem Namen.
Mein Freund und Genosse, der Chefredakteur der „Wochenpost", Kurt Neheimer, gab mir den Anstoß zu diesem Buch. Er, der selbst als Fünfzehnjähriger 1940 auf einem dieser Totenschiffe vor den Gaskammern gerettet wurde – durch eine Kommunistin, die illegal im Palästinaamt arbeitete –, hat durch seinen Rat, seine Erfahrungen und durch sein tiefes historisches Verständnis meine Arbeit gefördert.
Einige Erkenntnisse über die Entstehung des Leipziger „Machsor“ verdanke ich den Erläuterungen von Hauptrabbiner Elias Katz, Bratislava, und Dr. Bezalel Narkiss, Jerusalem, Erläuterungen, die der Ausgabe der achtundsechzig Faksimiletafeln von Edition Leipzig (1964) beiliegen. Das mit den eigenen Augen Gesehene prägt sich tiefer ein als das nur mit dem Verstand Erfaßte. Und mit den eigenen Augen sah ich: Seinen ursprünglichen Zweck konnte der Zionismus nicht erfüllen, er wollte dem Judenhaß oder dem modernen Antisemitismus etwas entgegensetzen, die Heimstatt für die verfolgten Juden, den Judenstaat.
Ich erkannte, der ursprüngliche Zweck konnte nicht erreicht werden, im Gegenteil, durch die Siedlungs- und Vertreibungspolitik wurden die großen arabischen Völker – selbst der Sprache nach Semiten – zu erbitterten Feinden des Staates Israel. Völker, die bisher einen Judenhaß nicht gekannt hatten. Ich sehe immer noch die Augen eines mir unbekannten, alten Arabers.
Nun, aus dem „Versteck Georg Samson“ getreten, sehe ich mich an einem engen, dunklen Platz stehen, vor einer alten, aber noch brauchbaren Schuhmacherkombinationsmaschine.
Der Staat Israel war inzwischen gegründet, arabisches Gebiet erobert. Noch herrschte Kriegszustand, eine Ausreiseerlaubnis war nicht zu bekommen.
Der Sandalenmacher Adam Siegel– in Georg Samsons Geschichte so benannt – hatte, wie in jedem Winter, seine Bude dicht gemacht. Keine Saison für Sandalen.
Bei einem kleinen Schuhfabrikanten, der seinen Betrieb in das von der israelischen Armee eroberte Jaffa verlegt hatte, fand ich Arbeit als Schuhfräser. Jaffa, Schwester- oder, besser gesagt, Mutterstadt von Tel Aviv.
Es war ein heller Dezembertag im Jahre 1948. Aber in dieser dunklen Werkstatt, diesem schmalen, tiefen, offnen Gewölbe, mußte ständig Licht brennen, sonst hätte ich meine Arbeit nicht sauber ausführen können, das Fräsen der Sohlen und der Absätze.
Da stand ich nun in diesem Gewölbe und fühlte mich plötzlich von draußen her beobachtet. Und ich sah vor mir, auf der Straße, einen alten Mann, einen Araber. Er trug die traditionelle Tracht, das große schwarz-weiße Tuch um den Kopf geschlungen. Er blieb lange stehen und schaute unverwandt meiner Arbeit zu. Schweigend.
War er es, der vor mir hier an dieser Maschine gestanden hatte? Nun aus seiner Werkstatt, dem Platz seiner Arbeit, vertrieben? Seiner Existenz beraubt? Auch durch mich verdrängt? Auch durch mich vertrieben, der ich selber ein Vertriebener war? Ein Deutscher, aus jüdischer Familie, von den Nazis aus seiner Heimat gejagt, macht er sich schuldig? Wird durch ihn ein palästinensischer Araber brotlos?
Müssen die Vertriebenen Vertreiber werden? Die Verfolgten Verfolger?
Die Augen des alten Arabers habe ich nie vergessen.

Greifenverla zu Rudolstadt
1. Auflage 1983
2. Auflage 1984
3. Auflage 1987

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