11 März 2023

Günter Kunert: Der andere Planet - Ansichten von Amerika

Jedes Jahr beruft die Universität von Texas in Austin einen deutschsprachigen Schriftsteller als Gastprofessor an ihre germanistische Abteilung: Im Herbstsemester 1972 konnte Günter Kunert dieser Berufung folgen. Er vermittelte zeitgenössische Lyrik in der DDR sowie seine Ansichten und Hypothesen über die methodologischen Prinzipien der eigenen Arbeit, über deren Entstehung und deren Sinn.

Den Aufenthalt nutzte Kunert, sich im Lande umzusehen; nicht nur in Texas, sondern auch in angrenzenden Bundesstaaten wie Louisiana und New Mexico: knapp drei Monate lang fuhr er in einem alten Auto zehntausend Kilometer durch Wüsten, Prärien und Gebirge, er besuchte Indianersiedlungen und Metropolen, geriet in Santa Fé in einen Schneesturm und holte sich am Golf von Mexico einen Sonnenbrand. Kurzfristig bereiste er noch den Norden: Iowa, das Mecklenburg der Vereinigten Staaten, Washington, den Regierungssitz, und zuletzt die Stadt der Superlative: New York. Ein großer Teil des im Wortsinn Erfahrenen und des Erschauten, aus dem kritische Reflexion ihre über den Anlaß hinausgehenden Einsichten schöpft, ist in diesen Texten verarbeitet, verbunden mit der Haltung eines Menschen, der sich zu seiner eigenen Verwunderung auf einem „anderen Planeten“ wiederfindet.

Inhalt:

Vorwort .....7

1 Kennedy Airport .....11

2 Austin (Texas) .....18

3 Aladin in Austin .....23

4 Die alte Bäckerei .....28

5 6. Straße .....30

6 Campus .....33

7 Highways .....37

8 Lions Country Safari Park .....42

9 Bei den Wachsfiguren in Texas .....44

10 Padre Island .....48

11 Apartmenthaus .....53

12 Patriotische und andere Stunden .....56

13 Kings Village .....59

14 San Antonio .....66

15 New Orleans I .....73

16 Bei den Wachsfiguren in New Orleans .....79

17 New Orleans II .....84

18 Go west! .....90

19 Truth or Consequences .....97

20 Santa Fe .....101

21 Acoma .....108

22 White Sands .....114

23 Erfahrungen im Vorüberfliegen .....117

24 Zwischenlandung in Chicago .....123

25 Iowa City .....127

26 Amana .....132

27 Museum of History and Technology (Washington) .....135

28 Im Weißen Haus .....144

29 Washingtoner Impressionen .....148

30 Ankunft über Queensboro Bridge .....152

31 East 86. Street .....154

32 Termitenbau .....158

33 Fifth Avenue am Vorweihnachtssonntag .....162

34 Subway .....167

35 Empire State Building .....170

36 Orchard Street .....172

37 Broadway mit Abweichungen .....175

38 „Stadtgespräch“ .....181

39 Wall Street .....184

40 Museen Manhattans .....187

41 Zwei Hotels .....190

42 An der Brooklyn Bridge .....192

43 Times Square .....196

44 South Ferry .....199

Nachtrag: Wieso ich beinahe Amerikaner gewesen wäre .....204

Vorwort

Erinnern und Schreiben, das ist identisch. Im Prinzip. Und woraus bestünde dieses, wenn nicht in dem fragwürdigen Vorgang von Selektion, Verdrängung, Bewertung, Urteil, der seine Gegenstände verfärbt und verändert – manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Trotz aller Mühe: Objektivität steht nicht in unserer Macht. Wir sind keine Speichergeräte. Unser aufnehmendes Auge erweist sich bereits beim Aufnehmen als partiell blind, zumindest als kurz- oder weitsichtig: ungewollt nehmen wir manches einfach nicht wahr oder nur bestimmte Dinge, deren Analogien in unserem Bewußtsein oder auch Unterbewußtsein schon vorrangig vorhanden sind, vergleichbar den Kenntnissen des Frühgeschichtlers, der sehr wohl bearbeitete Steine von nur natürlich zerfallenen unterscheiden kann, und die der Fachunkundige übersähe. Ein weit umherreisender Oberförster kehrte mit einem anderen Bild von der Welt heim als ein Architekt, ein Schauspieler, ein Genetiker. Dem Schriftsteller ergeht es nicht anders; ihm, der einen empfänglichen Sinn für alles Formale entwickelt hat, schließen sich divergente und isolierte Momente zu Einheitlichkeit und Sinnaussage zusammen. Dann pflegt man von „höherer Wahrheit“ zu sprechen. Das Stückwerk der Realität wird im Schreiben zu einer Vollkommenheit und Bedeutung erst zusammengefügt (einem allgemeinmenschlichen Kausalbedürfnis entsprechend), wodurch über längere Epochen hinweg der Eindruck zu entstehen pflegt, die Wirklichkeit enthalte die gleiche Mechanik, wie sie auch in der Literatur erscheint; selbst bei einer rationalen Einsicht in den unaufhebbaren Dualismus von Kunst und Realität verraten die Einsichtigen durch die Art und Weise, wie sie agieren, daß sie insgeheim auf eine (von wem oder was) dramaturgisierte Wirklichkeit bauen. Allein die anhaltenden, durch keine tatsächlichen Erfahrungen begründeten oder bestätigten Erwartungen auf den jeweils „guten Ausgang“ von Unternehmen, die stete Zielrichtung auf ein sich von selbst ergebendes Happy ending, implizieren „falsches Bewußtsein“, verursacht durch die in jedem, selbst (und gerade) im trivialsten Werk wirksame konstruktive Logik und Schlüssigkeit...

Günter Kunert, 24.3. 1974

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
1. Auflage 1974
2. Auflage 1975
3. Auflage 1978
4. Auflage 1980
Einbandgestaltung: Heinz Hellmis

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.