Der schonungslose, tiefste menschliche Abgründe offenbarende Lebensbericht des Arztes und Bakteriologen Georg Letham könnte von den biographischen Fakten her reißerisch genannt werden: Ein Wissenschaftler im Dienste der medizinischen Forschung, dessen Denken und Handeln so ausschließlich auf das Experiment gerichtet ist, daß ihm am Ende selbst sein Leben zu einem Experiment gerät, wird zum Mörder der eigenen Frau. Zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt und in eine tropische Strafkolonie deportiert, bewährt er sich bei der Entdeckung des Gelbfiebererregers. Der Erzähler Ernst Weiß geht aber viel mehr der Frage nach, wie Letham, der Züge Hamlets und Raskolnikows in sich vereinigt, seine Schuld moralisch bewältigt, wie er unter extremen Bedingungen diese Bewährungsprobe besteht. Dank seiner faszinierenden Psychologisierungskunst gelingt es dem Autor, den Leser in den Bannkreis eines ungewöhnlichen Helden zu ziehen und ein ethisches Anliegen vorzutragen, das heute ebenso aktuell ist wie vor fünfzig Jahren, als der Roman geschrieben wurde.
Buchanfang:
Es bleibt uns unvollkommenen Menschen nicht erspart, entweder als Angeklagte oder als Zeugen dem noch viel unvollkommeneren Weltprozeß beizuwohnen. Grausamkeit und Sinnlosigkeit sind das Ergebnis unserer Erfahrungen, und diese Beobachtungen wiederholen sich während der kärglichen Zeit unseres Daseins zum Überdruß. Dieser Grundwissenschaft gegenüber stellt sich keiner blind. Ewige Not des einzelnen, vergeblich durch rücksichtslosen Kampf aller gegen alle bekämpft – Schmerz, Leid der Seele, Qual des Körpers in unvorstellbarem Ausmaß, und dabei idiotische Kraft- und Materialvergeudung der Natur in dieser wohlgeordnetsten aller Welten – wer soll daraus klug werden?
Klug werden, wissend werden – man versucht es vom ersten bis zum letzten Tage – versucht es und erreicht es nie. Was soll ein denkender und willenskräftiger Mann also dann anstreben außer den augenblicklichen Genuß? Und was kann denn dieser Genuß anders sein als ein Rausch, den man, will man ihn wiederholen, ein jedesmal mit viel größeren Mengen des Rauschmittels herbeizwingen muß? Muß man aber jedesmal von neuem immer brutalere Anstrengungen machen, um sich das Dasein auch nur erträglich zu gestalten, dann wird jener Augenblick sehr bald gekommen sein, in welchem man sich gegen das Gesetz der Sozialität und menschlichen Solidarität vergeht, da man in die Rechte der anderen rücksichtslos eingreift, und nichts ist natürlicher, als daß sich diese anderen dagegen wehren und den Rechtsverbrecher unschädlich zu machen versuchen. .....
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
Mit einem Nachwort von Dieter Kliche
Einbandgestaltung Peter Nagengast
1. Auflage 1982
Bücher und Schriftsteller, die in der DDR gelesen wurden. Schaut bitte nicht nur danach, ob hier jeden Tag Beiträge auflaufen, nutzt diesen Blog auch wie ein Lexikon. Er ist ein Langzeitprojekt, da ist es sicherlich verständlich, wenn zwischendurch immer mal wieder pausiert wird. Sei es, um nicht die Lust daran zu verlieren, aber auch, weil die Beiträge auch regelmäßig vorbereitet werden müssen. Wir wünschen Euch viel Spaß beim Stöbern und Erinnern oder neu entdecken.
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