02 Mai 2023

Wolf Spillner: Claas und die Wunderblume

 

Buchanfang:

Weit im Norden, in den Wäldern hinter dem Meer, gab es vor langer, aber noch denkbarer Zeit zwei Gehöfte. Groß und stattlich war das eine. Scheunen und Stallungen umstanden das Wohnhaus. Es war rot mit Kupferfarbe gestrichen, trug weiße Fensterrahmen und am wohlgefügten Schindeldach ebensolche Windbretter. Kühe grasten auf den umliegenden Weiden, und im Stall grunzten dickleibige Schweine. Freude war nicht in diesem Haus.
Das andere Gehöft war armselig. Über einer windschiefen Hütte hing das Dach aus Sumpfgras und Schilf wie ein Gänseflügel in der Mauser. Ein schwärzlicher Schuppen stand ihr im Schatten zweier Kiefern zur Seite. Darin trocknete ein Fischernetz. Auch hier war Freude fremd.
Beide Gehöfte trennte ein großer, sehr tiefer See. Ihn deckte im Winter starkes Eis, Sturm trieb den Schnee darüber. Im Frühling spiegelten sich in seinen Wassern wilde Gänse und Kraniche, die eiliger noch als die hellen Wolken nach Norden zogen. In den Sommernächten lag der See tintenblau und ohne Wellenschlag zwischen den stummen, weiten Wäldern. Dann flog an den Ufern der große graue Nebelkauz lautlos wie eine Feder im Wind. Seine goldenen Augen überblickten den See und die Ufer, die Wälder und jene beiden Gehöfte. Er sah an der ärmlichen Hütte einen jungen Fischer, der Claas Claasson hieß, und jene Menschen auch, die in dem reichen Haus lebten. Es waren dies der Bauer Lubbe und seine Tochter Kristina, die steinalte Magd Birgitta sowie die beiden Knechte Ake und Björn. Nicht mehr im Hause lebte Kristinas Mutter. Sie blieb verschwunden ohne Spur. Lediglich ihre Schuhe wurden am Ufer gefunden.
Vom See aber hatten Stimmen geklungen, wie ein Teufelsgelächter, schrill und hoch. Es waren die Stimmen der Späher. Sie hatten Vogelgestalt. Fliegen konnten sie und besser noch schwimmen und tauchen. Weit glitten sie unter Wasser dahin, tauchten hier auf und dort, spähten aus kaltroten Augen und gaben mit ihrem Schrei Kunde von allem, was rings um den See an den Ufern geschah. Diese Späher waren die Diener des Wassergeistes.
Die wenigen Menschen, die in dem großen Gehöft lebten, fürchteten sich vor ihren Schreien. Niemand wagte seither, von Kristinas Mutter zu sprechen, denn es war sicher, daß sie dem Wassergeist verfallen war. Und sie wußten es alle, daß Kristinas Mutter schön gewesen und eitel dazu und versessen auf Gold und auf Edelsteine.

Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1989
Für Leser von 10 Jahren an
Illustrationen von Norbert Pohl

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