27 Juni 2023

Manfred Oppermann: Thraker zwischen Karpatenbogen und Ägäis


Spartacus, der heldenhafte Führer des größten Sklavenaufstandes der Antike, war Thraker. Der römische Kaiser Maximinus mit dem Beinamen »Thraxe« – der Thraker – stammte aus dem thrakischen Siedlungsraum an der unteren Donau. Und selbst in den Adern des griechischen Historikers Thukydides floß thrakisches Blut. Beliebig ließe sich diese Aufzählung noch fortsetzen. Zur historischen Überlieferung kommt die mythologische und religiöse. Denn der sagenumwobene Sänger Orpheus war Thraker, und die Götter Ares und Dionysos hatten die Griechen in enger Beziehung zum Thrakerlande gesehen. Wer waren die Thraker, welche kulturellen Leistungen haben sie hervorgebracht? Auf diese Fragen soll das Buch Auskunft geben. In den Gebieten zwischen Karpaten und Ägäis, die als Siedlungsraum einer kompakten thrakischen Bevölkerung angesehen werden müssen, gelang es besonders bulgarischen und rumänischen Wissenschaftlern, in den letzten Jahrzehnten sensationelle archäologische Denkmäler zu entdecken. Auf der Grundlage dieser neuen Forschungsergebnisse wird der Leser bekannt gemacht mit den ältesten Kulturen von Ackerbauern und Viehzüchtern im Ostbalkanraum, der Herausbildung klassengesellschaftlicher Strukturen, der Entstehung früher Staatswesen und den wechselvollen Beziehungen der Thraker zu Griechen und Römern. Somit umfaßt die Darstellung einen Zeitraum von mehr als fünftausend Jahren, in denen beachtliche kulturhistorische Leistungen erbracht wurden, die heute zum unverzichtbaren Kulturerbe der Balkanvölker gehören.

Einleitung
Das Thraker Volk (griech. Ethnos) ist nach den Indern das umfangreichste unter allen Menschen; wenn es von einem beherrscht würde oder unter sich einig wäre, so würde es meiner Meinung nach unbesiegbar und bei weitem das stärkste unter allen Völkern sein. Aber dies ist ihnen nicht möglich und es ist auch nicht gegeben, daß dies jemals geschieht. Demzufolge sind sie schwach. Sie haben viele Namen, jeder Stamm nach seinem Gebiet, aber ähnliche Sitten haben diese alle in allen Bereichen außer den Geten, den Trausen und denjenigen, die oberhalb der Krestonier wohnen« (Herodot, V. 3).
Dieses Zitat des griechischen Historikers Herodot (um 454 bis 425 v.u.Z.) beleuchtet in recht anschaulicher Weise, wie die Griechen um die Mitte des 5. Jh. v.u.Z. ihre nördlichen Nachbarn sahen. Daß der geographische Terminus »Thrakien« bereits im 2. Jahrtausend v.u.Z. bekannt gewesen sein dürfte, läßt das in der kretischen Linear B-Schrift überlieferte Wort »Tre-ke-wi-ja« durchaus als wahrscheinlich erscheinen. Aber dieser Begriff kann sich damals nur auf die griechisch-thrakische Kontaktzone an der Nordküste des Ägäischen Meeres und im Bereich der Meerengen zwischen Europa und Asien bezogen haben. Auch in Homers Ilias und Odyssee werden Thrakien und Thraker genannt. Die Angaben spiegeln allgemein die Situation am Ende des 2. und zu Anfang des 1. Jahrtausends v.u.Z. wider. Und hier versteht man darunter ebenfalls nur jene Gegenden und ihre Bewohner im Bereich der nördlichen Ägäisküste und der ihr vorgelagerten Inseln.
Erst im Zuge der Großen griechischen Kolonisation (8.-6. Jh. v.u.Z.), als die Griechen an den Küsten Thrakiens Städte gründeten und somit in engere Kontakte zu den Stämmen des Hinterlandes traten, erweitert sich auch der griechische Thrakien- bzw. Thrakerbegriff. Als Thrakien faßte man nun entweder das Gebiet zwischen Balkan und Ägäisküste oder sogar jenen Ostteil der Balkanhalbinsel auf, der sich von der Donau im Norden bis zur Ägäis erstreckt. Allerdings muß sogleich hinzugefügt werden, daß die Donau keine kulturelle und ethnische Grenze gebildet hat. Dies war auch den Griechen bekannt. Denn die Geten, die ja schon Herodot richtig zu den Thrakern rechnet, siedelten zu beiden Seiten dieses großen Flusses. Wir müssen also als Kern des thrakischen Siedlungsraumes den weiten geographischen Komplex zwischen Transsilvanien und der nördlichen Ägäisküste definieren. Daß damit noch nicht das Siedlungsgebiet der thrakischen Stämme schlechthin umschrieben ist, beweisen archäologische und sprachwissenschaftliche Forschungen sowie vielfältige Angaben antiker Schriftsteller.
Eine recht bedeutende thrakische Bevölkerungsgruppe lebte im nordwestlichen Kleinasien. Hierzu gehören in erster Linie die Bithynier und die Mysier, die aus balkanthrakischen Gebieten stammten. Den Westteil der Balkanhalbinsel – also heute jugoslawische und albanische Gebiete – hatten illyrische Stämme inne. Doch läßt sich im Südosten Jugoslawiens auch ein thrakisches Bevölkerungselement nachweisen, so daß man dort von einer illyro-thrakischen Mischbevölkerung sprechen kann. Dies gilt vor allem für die Dardaner. Enger ist die Bindung zu den Thrakern bei den Paionen gewesen, obwohl sie am ehesten als eigener ethnischer Komplex aufzufassen sind. Unklarer als im Westen ist vorerst noch die Abgrenzung nach Norden hin. Eine eindeutige Grenzlinie läßt sich zur Zeit nicht ziehen, und es ist fraglich, ob dies jemals möglich sein wird. Zumindest haben neuere archäologische Forschungen eine kulturelle Ausstrahlung der Thraker in den Jahrhunderten um die Mitte des 1. Jahrtausends v.u.Z. bis in die Gegenden der heutigen Slowakei nachgewiesen. Reicht dies aber zur ethnischen Bestimmung der dort ansässigen Stämme aus? Ähnlich kompliziert ist das Problem der Begrenzung des thrakischen Siedlungsbereiches nach Nordosten hin. Archäologisches Fundmaterial, das man Thrakern zuschreibt, hat sich dort bis in die Gegenden östlich des Dnepr gefunden. In den weiten Steppen nordwestlich des Schwarzen Meeres stand das Thrakertum jedenfalls in engem Kontakt mit den Skythen.
Die Grenzen der von thrakischen Stämmen besiedelten Gebiete Südosteuropas und Nordwestkleinasiens sind niemals eine konstante Größe gewesen, sondern können nur in Zusammenhang mit den konkreten historischen Prozessen untersucht werden. Dies trifft auch für die uns durch griechische und römische Historiker überlieferten zahlreichen Thrakerstämme und den Umfang der von ihnen besiedelten Territorien zu. .....

Inhalt
Einleitung ..... 7
1 Frühe Ackerbauer und Viehzüchter im Ostbalkanraum ..... 11
2 Bronzezeit und Protothraket ..... 28
3 Die thrakischen Stämme während der frühen Eisenzeit ..... 46
4 Aufstieg und Niedergang des Odrysenreiches ..... 76
5 Kultur und Kunst der Thraker im unteren Donauraum vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v. u. Z. ..... 113
6 Thrakien im Zeitalter des Hellenismus ..... 146
7 Staatsbildungen der Geten und Daker ..... 173
8 Das thrakische Siedlungsgebiet auf der Balkanhalbinsel während der römischen Kaiserzeit ..... 212
9 Sprache und Aspekte des geistig religiösen Lebens ..... 231
Anhang
Zeittafel ..... 202
Aussprachehinweise ..... 256
Anmerkungen ..... 257
Ausgewählte Literatur ..... 258
Bildnachweis ..... 260
Register ..... 261

Autor: Dr. sc. Manfred Oppermann Dozent an der Sektion Orient- und Altertumswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg
Buchgestaltung und Illustrationen: Sonja Wunderlich

Urania-Verlag Leipzig / Jena / Berlin

1. Auflage 1984

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