23 Juni 2023

Nikos Kazantzakis: Kapitän Michalis

Eine trügerische Stille liegt über dem verschlafenen kretischen Städtchen Megalokastro. Der türkische Pascha wiegt sich in dem Glauben, die Griechen hätten sich nach drei blutig niedergeschlagenen Aufständen endlich mit der osmanischen Oberhoheit auf der Insel abgefunden. Doch in Wirklichkeit ist Kreta im Jahre 1889 ein Pulverfaß, das jeden Augenblick explodieren kann. Da jagt ein griechischer Reiter, der gefürchtete Kapitän Michalis, die Agas mit der Peitsche aus dem Kaffeehaus, und kurz danach tötet ein türkisches Messer seinen Bruder. Die Lunte glimmt, und weder der griechische Metropolit noch der Pascha vermögen sie zu löschen.
Um dem Gemetzel zu entgehen, fliehen die Griechen in die Berge. Die Männer sammeln sich um die Hauptleute und stellen sich zum Kampf. Ihre größte Hoffnung ist Kapitän Michalis, der Schrecken der türkischen Feinde. Doch gerade er versagt im entscheidenden Augenblick. Statt das von den Türken bedrängte Kloster zum Herrn Christus zu entsetzen, schafft er die schöne Tscherkessin Eminé an einen sicheren Ort. Als er zurückkehrt, ist das Kloster gefallen. Verzweifelt ersticht Michalis die Geliebte und sucht kämpfend den Tod.
„Mehr als Schule und Lehrer, tiefer als die ersten Freuden und Schrecken, die mir die Schau der Welt gegeben hatte, beeinflußte ein einzigartiges Erlebnis mein Dasein: der Kampf zwischen Kreta und den Türken“, schreibt der 1883 auf Kreta geborene griechische Schriftsteller in seinen Lebenserinnerungen. „Wie Griechische Passion“ und „Alexis Sorbas“ behandelt auch der 1953 entstandene Roman „Kapitän Michalis“ das Schicksal der Insel und ihrer Bewohner.
Weder die abenteuerliche Handlung noch die exotische Farbenpracht dieses Buches lassen übersehen, daß die am Rande Europas gelegene Insel am Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in der Politik der Großmächte spielte. Der russische Zar und die britische Königin, die das Osmanische Reich mit allen Mitteln zu schwächen suchten, strebten nach dem Besitz Kretas, über dem seit Mitte des 17. Jahrhunderts die grüne Fahne mit dem Halbmond wehte. Griechenland sah dem Tauziehen um seinen Besitz untätig zu, hilflos den Großmächten ausgeliefert.
So standen die Griechen 1889 auf der Insel allein in ihrem Kampf gegen die Türken. Erst neunzehn Jahre später wurde Kreta mit dem Mutterland vereinigt.
Das packende Geschehen, die Fülle urwüchsiger Gestalten und der Zauber der kretischen Landschaft machen den Reiz dieses Buches aus, mit dem der Verlag ein weiteres Werk des großen humanistischen Schriftstellers Kazantzakis vorlegt.

Buchanfang
Kapitän Michalis knirschte mit den Zähnen. Das tat er gewöhnlich, wenn die Wut auf ihm ritt. Er schob seinen rechten Hundszahn vor und ließ ihn durch den schwarzen Schnurrbart blitzen. „Kapitän Wildschwein“ war sein treffender Spitzname in Megalokastro. Mit seinem Jähzorn, seinen tiefdunklen Rundaugen, seinem kurzen, starren Nacken und dem vorragenden Hundszahn glich der wuchtige, breitknochige Mann wahrhaftig einem Keiler, der sich auf den Hinterbeinen zum Sprung bäumt.
Er ballte in der Faust einen Brief zusammen und stopfte ihn in seinen breiten baumwollseidenen Gürtel. Lange Zeit hatte er an ihm buchstabiert und krampfhaft nach dem Sinn gesucht... Er wird nicht kommen, verstand er, auch diese Ostern nicht, auch werden seine sterbenskranke Mutter und seine glücklose Schwester ihn nicht sehen, weil er, sagt er, noch immer studiert... Was, zum Teufel, studiert er? Will er immer mehr studieren? Er sagt nicht, daß er nicht die Stirn hat, nach Kreta zurückzukommen, weil er eine Jüdin geheiratet hat und keine Hiesige! Das ist dein Lieblingssöhnchen, Bruder Kosta! Ja, daß du am Leben wärest! Daß du ihn mir bei den Knöcheln packtest und, den Kopf nach unten, am Balken aufhängtest wie einen Käsesack!
Er stand auf. Ein prachtvoller Riesenkerl. Sein Scheitel kam der Decke seines Ladens nahe. Bei dem Ruck löste sich das schwarze Troddeltuch, das sein Stachelhaar bändigte, und Kapitän Michalis griff danach und wand es fester um seinen dickknochigen Schädel. Dann tat er einen Satz bis zur Türe, um Luft zu schöpfen.
Der Lehrling Charitos, ein wildes Gewächs von einem braunhäutigen Dorfjungen mit erschreckten Blinzelaugen und abstehenden Ohren, kauerte hinter einem runden Haufen Schiffstaue. Sein Blick streifte über die Segel, die Decken, die Farb- und Teertöpfe, die schweren Ketten, die Eisenanker, all das Schiffsgerät und Werkzeug. Aber in seiner Angst sah er nichts als den Chef, der jetzt auf der Schwelle stand, die ganze Tür füllend und nach dem Hafen hinausspähend. Es war sein Oheim, aber er nannte ihn Chef und zitterte vor ihm.
„Hab ich nicht schon genug Ärger heute abend“, murmelte Kapitän Michalis. Was will der Hund von mir, daß er mir sagen läßt, ich soll mich heute abend in sein elendes Haus bemühen. Und jetzt auch noch der Ärger mit dem Neffen! ...

Titel der Originalausgabe: Ο ΚΑΠΕΤΑΝ ΜΙΧΑΛΗΣ
Aus dem Neugriechischen von Helmut von den Steinen
Schutzumschlag und Einband: Manfred Butzmann

Verlag Volk und Welt, Berlin

1. Auflage 1973
2. Auflage 1977

1973 auch erschienen bei: Buchclub 65

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