Mit seinem jüngsten Roman liefert Alberto Moravia eine weitere Fallstudie bürgerlicher Daseinsweise in unserem Jahrhundert. In einer Reihe mit früheren Romanetüden über Phänomene wie Gleichgültigkeit, Konformismus, Verachtung und Langeweile stehend, führt dieses Buch einen Helden vor, der dem Leben als passiver Zuschauer gegenübertritt. Der 35jährige Literaturprofessor Eduardo macht die Erfahrung, daß seine vielfältigen Ängste und Bedrängnisse allesamt mit einer Dreiecksbeziehung verknüpft sind, aus der er sich nicht lösen will und kann, weil er darin die ihm gemäße Rolle des Voyeurs spielt. Silvia, seine junge Frau, hat ihn verlassen, »um nachzudenken«, wie sie sagt. Sie behauptet aber, ihn noch immer zu lieben. Als Eduardo die Motive für Silvias rätselhaftes Verhalten aufzuspüren versucht, glaubt er zu erkennen, daß das Fehlen einer eigenen Wohnung die Krise hervorgerufen habe. Doch die Lösung, die sich ihm allzu bequem für dieses Problem anbietet, verändert seinen frustrierten Status nicht, verschlimmert ihn sogar. Die erotische Krise weitet sich zur existentiellen, in der private Demütigung und materielle Abhängigkeit, vage politische Animositäten und die Ängste vor einer universellen Katastrophe sich zu einem Syndrom verflechten, dem der in Passivität verharrende »Zuschauer« wehrlos ausgeliefert bleibt.
Am 28. November 1987 kann Alberto Moravia seinen 80. Geburtstag begehen. Seit fast sechzig Jahren ist dieser Schriftsteller eine der tonangebenden Stimmen der italienischen Literatur. Seit seinem ersten Roman, »Die Gleichgültigen«, den er mit 22 schrieb, hat er sich nie gescheut, in offener Sprache, auf den Kern der jeweils aktuellen Phänomene zielend, unbequeme Themen anzupacken. Seine Bücher, mittlerweile weit über vierzig – Romane, Erzählungsbände, Dramen, Reiseberichte, politische Essays –, führen zumeist das bürgerliche Individuum in einem präzisen sozialen Kontext vor. Sie zeigen es in der Konfrontation mit der moralischen Verkommenheit unter dem Faschismus (»Die Gleichgültigen«, 1929; »Die Römerin«, 1947), in der Stimmung des antifaschistischen Aufbruchs (»Cesira«, 1957), im Sog der neokapitalistischen Restauration und des hektischen Booms (»Die Verachtung«, 1954; »Römische Erzählungen«, 1954; »Neue römische Erzählungen«, 1959; »Die Lichter von Rom«, 1963). Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen in der »Konsumgesellschaft«, die Entfremdung sowie die Emanzipation der Frau waren Gegenstand seiner späten Erzählbände »Ein Ding ist ein Ding« (1967) und »Ein anderes Leben« (1974). Der Aufbau-Verlag hat außer den genannten Titeln noch die vergnüglich-ironischen »Prähistorischen Histörchen« (1982) herausgebracht.
Buchanfang:
Als Prolog:
ein gewöhnlicher Tag in meinem Leben
Sechs Uhr dreißig. Ich schlafe wenig, nicht mehr als sechs Stunden pro Nacht, und sobald ich wach bin, widme ich fünf oder zehn Minuten jener raren Beschäftigung, die unter dem Namen Denken läuft. Woran ich denke? Einfach so hingesagt, mag es lächerlich klingen: ich denke an das Ende der Welt. Ich weiß nicht, wann und wie ich mir diese Gewohnheit zugelegt habe; vielleicht erst vor kurzem, als ich ein Buch las, das ich zufällig auf dem Schreibtisch meines Vaters – er ist Professor für Physik an der Universität – entdeckt hatte, eines der vielen Bücher über den Atomkrieg. Den Anstoß kann auch etwas anderes gegeben haben, das von irgendwoher kam und meinem Gedächtnis entschwunden ist, so wie der Samen verschwindet, wenn die Pflanze aus ihm emporgewachsen ist. Übrigens ist es nicht richtig, daß ich an den Atomkrieg denke. Ich denke allenfalls, daß es unmöglich ist, sich ihn auszudenken. Außer Zweifel aber steht, daß ich in jenen fünf, zehn Minuten nach dem Erwachen nichts anderes denke.
Jedenfalls muß ich sagen, daß jene paar Minuten frühmorgens, wenn ich an die Bombe denke, vielleicht der einzige Augenblick des Tages sind, an dem ich wirklich, also abstrakt denke, und zwar deswegen, weil sich mein Leben vorrangig über die Augen vollzieht; und jene zehn Minuten sind innerhalb von vierundzwanzig Stunden die einzigen, die mir denkfreundliche Umstände bieten: .......
Inhalt:
1 Als Prolog: ein gewöhnlicher Tag in meinem Leben ...... 5
2 Die blasse rosa Muschel ...... 35
3 Späße des Schicksals ...... 58
4 Vater und Sohn ...... 68
5 Liebe im chinesischen Restaurant ...... 91
6 Es spannt der Teufel ...... 114
7 Der Bücherkorridor ...... 127
8 Die Ohrfeige ...... 142
9 Die Parodie ...... 171
10 Zwei Fabeln ...... 181
11 Die Wohnung ...... 195
Titel der italienischen Originalausgabe: L'uomo che guarda
Schutzumschlagentwurf: Heinz Ebel
Rückseitenfoto: Isolde Ohlbaum
Deutsch von Joachim Meinert
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik
1. Auflage 1987
Bücher und Schriftsteller, die in der DDR gelesen wurden. Schaut bitte nicht nur danach, ob hier jeden Tag Beiträge auflaufen, nutzt diesen Blog auch wie ein Lexikon. Er ist ein Langzeitprojekt, da ist es sicherlich verständlich, wenn zwischendurch immer mal wieder pausiert wird. Sei es, um nicht die Lust daran zu verlieren, aber auch, weil die Beiträge auch regelmäßig vorbereitet werden müssen. Wir wünschen Euch viel Spaß beim Stöbern und Erinnern oder neu entdecken.
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