28 Januar 2024

Gerhard Neumann, Heiner Rank: Export

Buchanfang:
Es war kalt.
Ein gutes Jahr ging zu Ende. Ein gesundes Jahr, das mit frühem Schnee Abschied nahm.
Die Straßenbahn hielt an der Station Winckelmannstraße. Frauen mit Weihnachtsbäumen zwängten sich durch den Ausstieg des Anhängers, sperrige Markttaschen standen im Gang, und der Geruch frischer Tanne hing in der Frostluft. Zolloberkontrolleur Dührkop stieg noch nicht aus, obwohl das Ziel seiner Fahrt nur zweihundert Meter von der Haltestelle entfernt lag. Früher, als er noch in dieser Gegend arbeitete, wäre er sicher den Umweg nicht mitgefahren, den die Straßenbahn machte, ehe sie nach einer weiteren Station vor dem Haupteingang des VEB Elektro-Kälte hielt. Damals galt es pünktlich zum Arbeitsbeginn in Halle acht zu sein, in der Kleinkälte, wie die Kollegen gutmütig spotteten, denn in Halle acht wurden Kleinkühlanlagen hergestellt! Kühlvitrinen, Gewerbe- und Haushaltskühlschränke. Früher? Wie lange war das eigentlich her?
Fast drei Jahre war er nun schon beim AZKW, beim Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs. Kein Wunder, daß er heute eine Bahn zu früh vor dem Werk ankam. Man vergißt die Anschlußzeiten. Kunststück, nach so langer Zeit ...
Quietschend quälte sich die Bahn um eine scharfe Straßenbiegung, verlangsamte dann kollernd ihre Fahrt. Boisserée-Straße. Der Schaffner mühte sich mit dem Wort ab, und ein dicker Mann mit überfüllter Aktentasche, der sich verbissen mühte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, torkelte dem Ausgang zu.
„Wer die Straße so genannt hat“, sagte der Schaffner, „hat bestimmt Schulze geheißen und darum eine Schwäche für feine Namen gehabt.“
Dührkop lächelte. Er sah hinaus. Die Brüggemannsche Musikalienhandlung war großzügig renoviert worden. ,HO-Spielwaren' stand jetzt über dem Geschäft. Wieso einem in der Vorweihnachtszeit immer die Spielwarenläden besonders ins Auge fallen?
Die Autos, die an der Straßenbahn rechts vorbeifuhren, hatten bereits das Standlicht eingeschaltet. Dührkop sah nach der Armbanduhr. Zehn vor halb vier, er würde sehr pünktlich sein. Die Bahn bog nun schon in die Burckhardstraße ein, in der die Elektro-Kälte lag. Er zog das Koppel zurecht, spreizte die Finger, damit die Handschuhe glatt sitzen sollten, und nahm die Aktentasche vom Boden auf.
Auch das Café, Vier Jahreszeiten hat eine neue Fassade erhalten, stellte er fest, als er sich wieder aufrichtete. Grün leuchtete die Neon-Schrift an der Hauswand jenseits der Straße: HOG Köpenick – Vier Jahreszeiten.
Dort hatte er mit Christine gesessen. Christine Haberland. – Sie war sicher längst verheiratet. Mit diesem Herrn Rümpler, Helfried Rümpler, diesem Filou, der überall Eindruck zu schinden verstand. Dann spielte sie jetzt die brave Hausfrau, die auf den Herrn Diplom-Ingenieur wartete, um das Abendbrot recht pünktlich auf den Tisch zu bringen. Dieser lächerliche Spießer! Aber vielleicht hatte Rümpler sie auch sitzenlassen, damals – oder später. Dann würde sie vielleicht noch im Werk arbeiten, und er, Dührkop, konnte ihr heute begegnen – – . „Elektro-Kälte“, rief der Schaffner die nächste Station aus, und Dührkop gab ihm ein Zeichen, daß er aussteigen wollte.
„Na, denn man rin ins Vergnügen“, rief der BVGer ihm nach, als die Bahn hielt. „Aus die kalte Elektrische in die elektrische Kälte – .“

Einband und Schutzumschlag: Christoph Ehbets

Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin

1. Auflage 1961
2. Auflage 1962

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.