01 April 2025

E.R. Greulich: Bevor Manuela kam

Einbandtext:
Plötzlich schrillte die Klingel auf der Diele. Einmal, lange und herrisch.
„Hast du doch einen Schatten hinter dir gehabt?“ fragte Fred hastig.
„Unmöglich“, wehrte sich Tornow und wollte zu einer Erklärung ansetzen, als abermals der schrille Ton die Stille durchdrang. Fred stand mit einer Schnelligkeit auf, die Tornow ihm nicht zugetraut hätte. Seine Geste schnitt jede Unterhaltung ab, er lauschte und hielt eine Pistole in der Hand. „Was machen wir?“
„Hast du das Magazin voll?“ fragte Tornow leise.
„Weshalb?“
„Wenn es nur zwei, drei Bullen sein sollten, hätten wir eine Chance.“
Fred schien zu lauschen. Er hatte impulsiv reagiert, ein Spitzel hätte eine ganz andere Reaktion gezeigt, dachte er erleichtert. Nach dem dritten Klingeln blieb es ruhig. Er winkte Tornow, schaltete das Licht aus und zog ihn hinter sich her. Dicht an seinem Ohr flüsterte er: „Dort ist die Vordertür. Ein Drittel Ornamentglas. Da werden sie es zuerst versuchen.“ Er drückte Tornow die Pistole in die Hand. „Ich will sehen, ob ich vom Bodenfenster etwas ausmachen kann.“ Er entfernte sich, Stiegen knarrten, irgendwo im Dunkeln wurde leise eine Tür geöffnet.

Heftanfang:
Als Harry Tornow zu sich kam, lag er auf dem Rücken, die Beine schräg nach oben. Er blinzelte ungläubig in den Spalt trüben Lichts über seinen Füßen, bewegte heftig den Kopf, als wolle er Wasser von den Trommelfellen schütteln. Noch immer dröhnte die Detonation in seinen Ohren. Die Geräusche waren fern wie hinter Glas, schwerfällig ordneten sich seine Gedanken.
Der Gefangenenwagen ist doch erst nach der Entwarnung in Plötzensee abgefahren! Ist er von einer Zeitzünderbombe erwischt worden? Mechanisch tasteten seine Hände den Körper ab. Das Gefühl, unverletzt zu sein, machte Tornow hellwach. Er stieß beide Beine gegen die schmale Tür, und der Spalt vergrößerte sich. Hastig arbeitete er sich aus dem Blechsarg. Die Lage des Ganges erinnerte an die Kabine eines gekenterten Schiffes. Auf dem Gesäß rutschte er bis an die aufgesprungene Tür der Rückwand. Wie schlaffe Bündel lagen die beiden Bewacher davor. Tornow kletterte über sie hinweg, stand draußen. Seine Augen versuchten, sich an das unbestimmte Grau des Oktobernachmittags zu gewöhnen. Die Sonne war nur ein weißer Fleck hinter dem Nebel der Rauchschwaden. Plötzlich war ihm, als schiene sie so grell, daß er die Augen schließen mußte. Unbändige Freude überfiel ihn: Ich bin frei! Harry Tornow, Todeskandidat aus Zelle achtzehn, allein auf offener Straße. Gefangenenwagen zertrümmert, Bewacher tot. Tornows erster Gedanke war weg, rasch weg von hier! Mühsam zwang er die freudige Erregung nieder. Jede unüberlegte Handlung würde die eben gewonnene Freiheit gefährden. Sichernd schaute er sich um. In den umliegenden Ruinen schwelte und qualmte es. Nester glühender Brandbomben knisterten. Obwohl in Berlin aufgewachsen, fand er nicht heraus, in welcher Straße er sich befand.

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Karl Fischer

Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin
Reihe:
Erzählerreihe 251
1. Auflage 1969 [1.-125. Tsd.]
2. Auflage 1980 [126.-275. Tsd.]

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