Hermynia Zur Mühlen, die früh mit ihrer adligen Familie gebrochen hatte und durch eine Reihe engagierter Bücher bekannt geworden war, wandte sich 1938 mit dem Roman "Unsere Töchter, die Nazinen" erneut einem beklemmend aktuellen Thema zu: der gefährlichen Faszination, die der Faschismus um 1933 auf die Jugend in Deutschland ausübte.
Der Verführung erliegen drei Mädchen einer kleinen Stadt am Bodensee, die in den Versprechungen der Nazis einen Ausweg sehen aus einem Dasein, das sie langsam zu ersticken droht. Toni Gruber hat die Stellung in der Fabrik verloren und ist zutiefst enttäuscht, daß sich für die Arbeiter nichts von dem verwirklicht hat, "was 1918 versprochen wurde". Claudia Saldern will heraus aus der vornehmen Abgeschiedenheit im Hause der gräflichen Mutter, heraus aus dem Leben mit "Schatten" und "Gespenstern" einer Zeit, "die es nicht mehr gibt". Und Lieselotte Feldhüter langweilt sich ganz einfach in dem kleinbürgerlichen Milieu ihrer Familie. Die geistigen und charakterlichen Wandlungen der Töchter, ihre Ratlosigkeit und ihre Konflikte greifen unmittelbar in das Leben der Mütter ein. Sie leiden und ängstigen sich um die Töchter, aber die Angst lähmt sie nicht, sie aktiviert und festigt ihre moralische und politische Haltung. Kati Gruber, den sozialdemokratischen Ideen ihres Mannes treu, und Gräfin Agnes, ihren humanistischen Bildungsidealen verpflichtet, entscheiden sich gegen den Faschismus und damit gegen ihre Töchter. Frau Doktor Feldhüter bekennt sich aus karrieristischen Gründen zu den Nazis. Die Autorin läßt die Zerwürfnisse zwischen Mutter und Tochter, den verzweifelten Kampf der Mütter um die Töchter und die historische Situation, aus der diese Spannungen entstehen, von den Müttern erzählen. Denn der Weg der Nazinen endet schließlich da, wo die Mütter sie hingeführt haben.
Buchbeginn
Kati Gruber erzählt
Wie die Zeit vergeht. Heute, am dritten Januar 1933, sind es gerade sechs Jahre, daß mein lieber Mann gestorben ist, und zwei Jahre, daß meine Toni ihre Arbeit verloren hat. Mir scheint es, als wäre beides erst gestern geschehen. Ich sehe noch der Toni ihr Gesicht vor mir, wie sie mittags heimgekommen ist, ganz blaß, und als wäre sie mit einem Male viel magerer geworden; ich höre noch, wie sie mit verbitterter Stimme sagt: "So, jetzt lieg auch ich auf der Straße, die Fabrik schließt." Sie hat nicht geweint, meine Toni weint ja nie, sie frißt alles in sich hinein, und das hat mir immer Sorge gemacht, schon wie sie noch ein kleines Kind war. Darum haben wir einander vielleicht auch nie ganz richtig verstanden. Bei mir muß alles heraus. Freude oder Kummer, ich kann nicht schweigen.
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
1. Auflage 1983
Reihe bb Nr. 508
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