Zum Buch:
Das Buch „Kleider machen Leute“ enthält ausgewählte Geschichten und Gedichte des Schriftstellers Gottfried Keller. In der titelgebenden Novelle verhilft die Verwechslung mit einem Grafen einem arbeitslosen Schneider zu Ansehen und Wohlstand. Es sind die Umstände und die Menschen um ihn herum, die aus ihm einen anderen machen, als er es ist. Beeinflusst von Äußerlichkeiten, Meinungen, Vermutungen und Ansichten der Leute entsteht die Scheinsituation des Schneiders als Graf. Die Schlussfolgerung: Lerne zuerst einen Menschen richtig kennen, bevor du ihn beurteilst.
Einbandtext:
Es hängt nicht nur von uns selber ab, wie unser Leben verläuft. Zufällige Ereignisse und das Eingreifen anderer – in guter Absicht oder in böser – haben schon manchen in eine schwierige Lage gebracht. Dann aber muß er aktiv werden, muß handeln, sonst gerät er ins Schleudern. Gottfried Keller schildert einen solchen Fall in „Kleider machen Leute“, einer Novelle, die ihren Weg um die ganze Welt gemacht hat. Unser Band enthält daneben noch weitere, ebenso bekannte und beliebte Geschichten des berühmten Schweizer Schriftstellers, so zum Beispiel „Die drei gerechten Kammacher“ oder „Pankraz, der Schmoller“, und auch Gedichte wurden aufgenommen. Obwohl Keller sie vor über hundert Jahren geschrieben hat, gilt ihre Botschaft von der Stärke des Menschenherzens und der Kostbarkeit des Lebens auch für uns.
Aus dem Buch:
Kleider machen Leute
An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schneider trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, welchen er, in Ermangelung irgendeiner Münze, unablässig zwischen den Fingern drehte, wenn er der Kälte wegen die Hände in die Hosen steckte, und die Finger schmerzten ihn ordentlich von diesem Drehen und Reiben. Denn er hatte wegen des Falliments irgendeines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen. Er hatte noch nichts gefrühstückt als einige Schneeflocken, die ihm in den Mund geflogen, und er sah noch weniger ab, wo das geringste Mittagbrot herwachsen sollte. Das Fechten fiel ihm äußerst schwer, ja schien ihm gänzlich unmöglich, weil er über seinem schwarzen Sonntagskleide, welches sein einziges war, einen weiten dunkelgrauen Radmantel trug, mit schwarzem Samt ausgeschlagen, der seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh, zumal dessen lange schwarze Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig gepflegt waren und er sich blasser, aber regelmäßiger Gesichtszüge erfreute. Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne daß er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde führte; vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewähren und im stillen seine Arbeit verrichten ließ; aber lieber wäre er verhungert, als daß er sich von seinem Radmantel und von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die er ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wußte.
Er konnte deshalb nur in größeren Städten arbeiten, wo solches nicht zu sehr auffiel; wenn er wanderte und keine Ersparnisse mitführte, geriet er in die größte Not. Näherte er sich einem Hause, so betrachteten ihn die Leute mit Verwunderung und Neugierde und erwarteten eher alles andere, als daß er betteln würde; so erstarben ihm, da er überdies nicht beredt war, die Worte im Munde, also daß er der Märtyrer seines Mantels war und Hunger litt, so schwarz wie des letztern Sammetfutter.
Als er bekümmert und geschwächt eine Anhöhe hinaufging, stieß er auf einen neuen bequemen Reisewagen, welchen ein herrschaftlicher Kutscher in Basel abgeholt hatte und seinem Herren überbrachte, einem fremden Grafen, der irgendwo in der Ostschweiz auf einem gemieteten oder angekauften alten Schlosse saß. Der Wagen war mit allerlei Vorrichtungen zur Aufnahme des Gepäcks versehen und schien deswegen schwer bepackt zu sein, obgleich alles leer war. Der Kutscher ging wegen des steilen Weges neben den Pferden, und als er, oben angekommen, den Bock wieder bestieg, fragte er den Schneider, ob er sich nicht in den leeren Wagen setzen wolle. Denn es fing eben an zu regnen, und er hatte mit einem Blicke gesehen, daß der Fußgänger sich matt und kümmerlich durch die Welt schlug.
Derselbe nahm das Anerbieten dankbar und bescheiden an, worauf der Wagen rasch mit ihm von dannen rollte und in einer kleinen Stunde stattlich und donnernd durch den Torbogen von Goldach fuhr. Vor dem ersten Gasthofe, zur Waage genannt, hielt das vornehme Fuhrwerk plötzlich, und ......
Inhalt:
An Johann Müller .. .. .. 5
Gewitter im Mai .. .. .. 8
Der Taugenichts .. .. .. 9
Pankraz, der Schmoller .. .. .. 12
Auf dem Berge .. .. .. 76
Jung gewohnt, alt getan .. .. .. 79
Kleider machen Leute .. .. .. 81
Waldlied .. .. .. 136
Sommernacht .. .. .. 138
Die drei gerechten Kammacher .. .. .. 140
Zur Erntezeit .. .. .. 195
Frau Rösel .. .. .. 196
Morgen .. .. .. 198
Die Berlocken .. .. .. 199
Abendlied .. .. .. 220
Ein Kenner des menschlichen Herzens - Nachwort des Herausgebers .. .. .. 221
Zeittafel .. .. .. 228
Worterklärungen und Anmerkungen .. .. .. 233
Quellennachweis .. .. .. 239
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Richter
Illustrationen von Bernd Günther
Für Leser von 13 Jahren an
Der Kinderbuchverlag Berlin
Reihe: Die Goldene Reihe
1. Auflage 1986
2. Auflage 1987
3. Auflage 1989

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