14 September 2025

Hermynia Zur Mühlen: Als der Fremde kam

Buchinfo

Hermynia Zur Mühlens Roman"Als der Fremde kam", 1946 englisch, 1947 deutsch erschienen, versucht Antwort zu geben auf eine der brennendsten Fragen ihrer Zeit: Wie war es möglich, daß eine unmenschliche Ideologie so viele Anhänger und Mitläufer fand? Wie konnte es geschehen, daß die Tschechoslowakei an die Nazis verschachert wurde? Warum stimmten so viele der slowakischen Landsleute einem faschistischen Marionettenstaat unter dem Heuchler Tiso zu?
Die Autorin, die selbst eine Zeitlang Zuflucht in der Tschechoslowakei fand, erzählt packend von den Geschehnissen der Jahre 1937 - 1939 in einem kleinen Marktflecken bei Bratislava. Aus dem ungestört freundschaftlichen Zusammenleben verschiedener Gruppen und Nationalitäten wird ein brodelnder Hexenkessel, als die Fremden aus Deutschland Haß und Zwietracht säen, als sie die Gier nach Macht und Besitz wecken. Das historisch getreue Bild gewinnt Farbe und Leben in der anschaulichen Darstellung verschiedenster Charaktere und ihrer Reaktion auf die Zeitereignisse. Während die einen von Angst und Schrecken erfaßt werden, beginnen die anderen, wachgerufen, zu handeln und zum furchtlosen Auftreten gegen die Faschisten zu ermutigen. Mehr noch als die "Hochgestellten", als der Pfarrer Jeszenák und seine resolute Schwester, vermag dies die "ungebildete slowakische Bäuerin" Marianka, in der ihre Feinde bald den "gefährlichsten politischen Gegner" erkennen, denn "sie ist ein vollkommen guter und anständiger Mensch". Aber auch die ängstliche Schwester Veronika zeigt in der Stunde der Gefahr Hilfsbereitschaft und den Mut zum Opfertod. Sie alle geben der zögernden, um ihre Ruhe und ihr persönliches Glück besorgten Clarisse Herdegen, der Hauptgestalt des Buches, schließlich Kraft zum Handeln und die Gewißheit, daß trotz "der Finsternis über dem ganzen Land" das Licht weitergetragen werde, das "keine Roheit und keine Unmenschlichkeit zu verlöschen vermag".


Buchbeginn

Friede
Morgen

Clarisse Herdegen stand auf der breiten Veranda des einstöckigen Gutshauses und blickte in den Morgen hinaus. Der eine Teil des Gartens träumte noch in der Dämmerung des Zwielichts. Über den andern huschten blasse Sonnenstrahlen, die mit jedem Augenblick leuchtender wurden. Dem Märzmorgen eignete etwas Unwirkliches, fast Unirdisches. Clarisse hatte das Gefühl, als erstrecke die Zeit sich vor ihr, endlos, durch nichts unterbrochen. Ein kleiner Morgenwind erhob sich und hüpfte leichtfüßig von Baum zu Baum.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
Reihe bb
 

10 September 2025

Hermynia Zur Mühlen: Unsere Töchter, die Nazinen

Buchinfo

Hermynia Zur Mühlen, die früh mit ihrer adligen Familie gebrochen hatte und durch eine Reihe engagierter Bücher bekannt geworden war, wandte sich 1938 mit dem Roman "Unsere Töchter, die Nazinen" erneut einem beklemmend aktuellen Thema zu: der gefährlichen Faszination, die der Faschismus um 1933 auf die Jugend in Deutschland ausübte.
Der Verführung erliegen drei Mädchen einer kleinen Stadt am Bodensee, die in den Versprechungen der Nazis einen Ausweg sehen aus einem Dasein, das sie langsam zu ersticken droht. Toni Gruber hat die Stellung in der Fabrik verloren und ist zutiefst enttäuscht, daß sich für die Arbeiter nichts von dem verwirklicht hat, "was 1918 versprochen wurde". Claudia Saldern will heraus aus der vornehmen Abgeschiedenheit im Hause der gräflichen Mutter, heraus aus dem Leben mit "Schatten" und "Gespenstern" einer Zeit, "die es nicht mehr gibt". Und Lieselotte Feldhüter langweilt sich ganz einfach in dem kleinbürgerlichen Milieu ihrer Familie. Die geistigen und charakterlichen Wandlungen der Töchter, ihre Ratlosigkeit und ihre Konflikte greifen unmittelbar in das Leben der Mütter ein. Sie leiden und ängstigen sich um die Töchter, aber die Angst lähmt sie nicht, sie aktiviert und festigt ihre moralische und politische Haltung. Kati Gruber, den sozialdemokratischen Ideen ihres Mannes treu, und Gräfin Agnes, ihren humanistischen Bildungsidealen verpflichtet, entscheiden sich gegen den Faschismus und damit gegen ihre Töchter. Frau Doktor Feldhüter bekennt sich aus karrieristischen Gründen zu den Nazis. Die Autorin läßt die Zerwürfnisse zwischen Mutter und Tochter, den verzweifelten Kampf der Mütter um die Töchter und die historische Situation, aus der diese Spannungen entstehen, von den Müttern erzählen. Denn der Weg der Nazinen endet schließlich da, wo die Mütter sie hingeführt haben.


Buchbeginn

Kati Gruber erzählt

Wie die Zeit vergeht. Heute, am dritten Januar 1933, sind es gerade sechs Jahre, daß mein lieber Mann gestorben ist, und zwei Jahre, daß meine Toni ihre Arbeit verloren hat. Mir scheint es, als wäre beides erst gestern geschehen. Ich sehe noch der Toni ihr Gesicht vor mir, wie sie mittags heimgekommen ist, ganz blaß, und als wäre sie mit einem Male viel magerer geworden; ich höre noch, wie sie mit verbitterter Stimme sagt: "So, jetzt lieg auch ich auf der Straße, die Fabrik schließt." Sie hat nicht geweint, meine Toni weint ja nie, sie frißt alles in sich hinein, und das hat mir immer Sorge gemacht, schon wie sie noch ein kleines Kind war. Darum haben wir einander vielleicht auch nie ganz richtig verstanden. Bei mir muß alles heraus. Freude oder Kummer, ich kann nicht schweigen.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar

1. Auflage 1983
Reihe bb Nr. 508

 

06 September 2025

Erwin Strittmatter: Ein Dienstag im September

Buchinfo

Es ist, als schaute man durch sechzehn Fenster in die Welt, um sie auf neue Art sich zu erobern: schmunzelnd auf den mägdelüsternen und Hörner tragenden Onkel im Ausbauernhof, ärgerlich auf den fetten Schleicher mit der tödlichen Wettsucht, nachdenklich auf den alten Adam, der dem Geheimnis Elektrizität auf der Spur ist, und stolz auf den bildungshungrigen Pflüger Werner Wurzel, der sich ein eigenartiges steinernes Denkmal setzt. Lust und List, Starrsinn und Frohsinn, Stillstand und Fortschritt: Ausblick wird gewährt auf ein Panorama mit Landschaften und ganz alltäglichen Begebenheiten von gestern und heute - und Einblick erlaubt in das Schaffen eines Schriftstellers, der mit seinen Kurzgeschichten und Erzählungen genaues Lesen lehrt und das Vergnügen zu denken.


Buchbeginn

Onkel und Tante waren Ausbauern, lebten seit der Erschaffung meiner Welt auf ihrem Hofe, und jedes Sandkorn dort kannte sie. Vorzeiten mochten die Kinder der Hofstelle aus der Erde gekrochen sein, doch Generationen von Heidbauern verfeinerten die Erdhöhle mit Gebälk und Gemäuer zu einem Gehöft.
Onkel und Tante beunruhigten ihre Äcker mit Pflügen und Hacken, reizten sie mit Tiermist zu Taten, und die Taten der Äcker waren Lein, Kartoffeln und Buchweizen. Onkel und Tante aßen Kartoffeln, brieten sich Kartoffeln und gequollenen Buchweizen in Leinöl und wurden wandelnder Sand von ihren Äckern.

Aufbau-Verlag

 

Erwin Strittmatter: Schulzenhofer Kramkalender

Buchinfo

Was Brecht für notorische Dummköpfe empfahl, warum Wissen unruhig macht, zu welchem Zweck der Großvater Zauberrunen in die Kürbishäute ritzte, weshalb zuwandernde Stare die Autorität eines Vaters retten können, wie es kam, daß sich der Bussard vor den Krähen duckte, und wieso der siebente Schnaps den Postboten eifersüchtig machte - all das erfährt man aus dem "Schulzenhofer Kramkalender". Er enthält zweihundert poetische Miniaturen, Kalenderblätter von außergewöhnlichem literarischem Reiz. Es sind Kurzgeschichten, Anekdoten, Naturschilderungen, Tierbeobachtungen, verknüpft mit kleinen und großen Lebensweisheiten. Der Leser erlebt Landschaft und Leute der Mark, vor allem aber die Persönlichkeit eines Schriftstellers, der mit sich und seiner Umwelt Zwiesprache hält.


Buchbeginn

,Kalendersterne' Wenn Nebel über den Feldern und über dem Dorf lag, machte Großvater ein Kreuz in den Kalender. "Nebel gibt nach hundert Tagen Regen", behauptete er. Morgennebel, Abendnebel, Ganztagsnebel - alle wurden von Großvater zum Wettermachen verwendet.
Manchmal regnete es an einem von Großvaters angekreuzten Tagen wirklich, manchmal nicht. Dann mußte Großvater sich herausreden: Das Gewitter war über der Kreisstadt niedergegangen, oder der Regen konnte nicht zu Stuhle kommen, weil das Land zu ausgedörrt war.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
4. Auflage 1971

28 August 2025

Jutta Schlott: Früh und spät

Klappentext:
„Für jeden der Jungen lag neben dem Frühstücksbrettchen und dem Mitnehmebrot eine kleine Tafel Schokolade. Die Mutter hatte einen Zettel geschrieben, daß sie ihnen einen schönen Tag wünsche und daß die Kinder sie heute morgen bitte schlafen lassen möchten, sie sei sehr müde.
Im Flur zog Sven den kleinen Bruder an. Er machte es morgens lieber selber, weil Gustav immer trödelte. ‚Tschüs Olaf’, sagten sie, und Sven ließ die Tür ins Schloß fallen. Olaf mußte in der Küche noch den Frühstückstisch abräumen. Das Geschirr stellte er neben die Spüle. Den Abwasch erledigte die Mutter, wenn sie Spätschicht hatte.“

Manches hat sich verändert in der Familie Roland, seit sie aus Borna in eine mecklenburgische Stadt übergesiedelt ist. Leicht fällt das Eingewöhnen in die neuen Lebensbedingungen niemand. Olaf, dem sensibelsten der drei Jungen, wird es besonders schwer ... Es gibt Tage, da steht es nicht gut mit der Familienharmonie.

Buchanfang:
DONNERSTAG
Das Versäumnis
Es war März, Mitte März, aber der Winter war zurückgekommen. Zwei Tage lang fielen dicke, feuchte Flocken; jetzt lag der Schnee in grauen Häufchen schmuddelig und pappig an den Straßenrändern. Auf den Fahrbahnen und Wegen war er, kaum hingeweht, gleich zertaut oder zertreten worden.
Es nieselte, und der Junge stellte sich in den ersten Eingang des Häuserblocks oberhalb der Böschung.
Es war halb fünf oder kurz danach, er hätte es gewußt, ohne zur Säule mit der Digitaluhr zu sehen, denn die Möwen und Krähen hatten schon in großen Schwärmen krächzend und kreischend den allabendlichen Flug zu ihren Schlafplätzen begonnen. Stets flogen sie zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung. Man hätte Uhr und Kompaß nach ihnen stellen können. Der Junge hatte noch nie so viele Möwen gesehen wie in dieser Stadt. In Borna gab es überhaupt keine.
Zu den Füßen des Jungen, an der Haltestelle, kamen in schnellem Wechsel aus beiden Richtungen die Straßenbahnen an.
Die meisten Leute liefen, ohne nach links und rechts zu sehen, die gewohnten Wege. An diesem diesigen, nebligen Spätnachmittag schienen sie alle in Grau gekleidet. Manchmal leuchtete das Tuch einer Frau oder der Anorak eines Kindes farbig auf.
Der Junge hatte keine Sorge, die Mutter nicht zu erkennen. Sie trug Schal und Käppi in einem kräftigen Orange, ....

Schutzumschlag, Illustrationen: G. Ruth Mossner
Für Leser von 10 Jahren an

Der Kinderbuchverlag, Berlin
1. Auflage 1982
2. Auflage 1983
3. Auflage 1984

Inge von Wangenheim: Die Entgleisung

Buchinfo

Thüringen Ende der 70er Jahre, in einem verschlafenen Nest entgleist ein Güterwagon. Der Inhalt, der bald darauf im Ort 'versickert', besteht aus Porno-Magazinen für den Westen. Klar, dass die DDR-Staatsmacht die ebenso moralgefährdenden wie devisenbringenden Hefte wieder zurückhaben will. Doch das ist nicht so einfach … Inge von Wangenheims 1980 erschienene Satire hat jetzt bestimmt schon Kultstatus.


Buchbeginn

In der Mitte des breiten Urstromtals zwischen Saalfeld und Jena liegt Groß-Naschhausen.
Eine Perle thüringischer Siedlungs-Kleinkunst, eingefaßt in sanfte Bergketten, wechselvoll gestaltete Talsichten, freundliche Hänge, deren terrassenförmige Anordnung auf der Südseite noch heute den einstigen Weinanbau verrät. Wer hierher kommt, sei es durch Zufall oder mit Plan, erlebt jene feine, durchkultivierte Natur, die uns Goethe bewußtgemacht hat. Es lohnt also, hierher zu kommen.

Mitteldeutscher Verlag, 1980

Inge von Wangenheim: Hamburgische Elegie

Leseprobe

Was immer ein Mensch in seinem späteren Leben begründet oder bekämpft, gewinnt oder verliert, besitzt oder verwirft - es geschieht im Hinblick auf das Bezugssystem, das er in der Kindheit und Jugend annahm, um von ihm geprägt zu werden.

Die Forschung hat nie versäumt, die ausgezeichnete Bildung zu preisen, die sich der junge Lessing auf St. Afra erworben habe, vernachlässigte dabei aber die erst von Paul Rilla vollzogene notwendige Einschränkung, die sich mir aus eigener Erfahrung geradezu aufdrängt in der simplen Frage: Wie denn? Tausende Auserwählte sind durch St. Afra durchgegangen, aber nur ein einziger Lessing ist dabei herausgekommen.

Mitteldeutscher Verlag, 1981