28 März 2025

Hans Siebe: Funktaxi 1734

Heftanfang:
Das Taxi hielt neben dem Gehweg, die Türen standen offen, innen brannte das Licht, der Fahrer war über das Lenkrad hingesunken und stöhnte leise.
Die Nacht war klar, nur einzelne Wolkenfetzen zogen über den Sternenhimmel hin, die Luft war angenehm kühl nach der Tageshitze, es roch nach geschnittenem Rasen.
Wir waren gleichzeitig mit dem Rettungswagen eingetroffen, er stand hinter dem Taxi, einem schwarzen Wolga. Der Fahrer hatte vergessen, die blaue Rundleuchte abzuschalten, das Blinklicht flackerte rhythmisch.
Hauptmann Herbert Kühn und ich versahen den Kriminaldauerdienst. Gegen zwei Uhr war die Meldung eingetroffen, daß der Schichtarbeiter Klaus Beutel vom RAW Revaler Straße auf dem Nachhauseweg, nahe einem Laubengelände in Nordend, ein überfallenes Taxi aufgefunden hatte. Der Fahrer schien ernstlich verletzt zu sein.
Wir hatten die Meldung skeptisch aufgenommen. Taxiraub? Der letzte Fall lag schon lange zurück. Nun stand aber fest, daß Klaus Beutel recht gehabt hatte.
Für die Tatortaufnahmen benutzte ich die Importkamera, die in wenigen Sekunden fertige Bilder liefert. Die Krankenfahrer warteten geduldig darauf, daß ich fertig wurde. Sie hoben danach den bewußtlosen Taxifahrer vom Sitz, legten ihn behutsam auf die Trage und schoben diese in den Wagen. Der Begleiter setzte sich neben den Verletzten, der Fahrer rannte um das Fahrzeug herum, schob sich hinter das Lenkrad, der Motor startete, und das Rettungsfahrzeug fuhr ab. Das Martinshorn zerriß die Nachtstille.
Unser Techniker sicherte im Wageninnern Fingerspuren, Hauptmann Kühn sprach mit dem Führer der Funkstreife, die vor uns eingetroffen war und die den Tatort sicherte.
Ich beugte mich in das Taxi hinein, Alkoholdunst schlug mir entgegen. Zwischen den Vordersitzen lag eine volle Weinflasche Marke NATALIE. Regina und ich tranken diese Sorte gelegentlich.
Auf dem Etikett entdeckte ich Schmierblut, die Flasche war das Tatwerkzeug, der Taxifahrer war damit niedergeschlagen worden.
Herbert trat an die Tür zum Beifahrersitz und sah mir zu. Der Tatablauf ließ sich ziemlich sicher rekonstruieren, ich berichtete:
„Der Fahrer hat kassiert und sich nach rechts umgedreht. .......“

Umschlag und Illustrationen: Jürgen Pansow

Verlag Neues Leben, Berlin
Reihe:
Das neue Abenteuer Nr.332
1. Auflage 1974  

27 März 2025

Kurt David: Bärenjagd im Chentei

Heftanfang:
Dem Leser wird es hoffentlich jetzt wie mir ergehen, als ich in Ulan-Bator auf das Flugzeug wartete, mit dem ich in den Nordosten der Mongolei fliegen sollte: Er ist gespannt, neugierig und von abenteuerlichen Gedanken erfüllt, wie die Bärenjagd verlaufen wird. Hier noch das genaue Datum: Der 4. August 1965. Das steht in meinem Tagebuch wie alles, was diesem Morgen folgte.
Das Flugzeug war eine AN-2, ein Doppeldecker, auch „Posthummel“ genannt; außer Passagieren bringt es noch Briefe, Päckchen und Pakete in die entlegensten Steppen und Wüsten.
Der zweite Pilot hängte die kleine eiserne Leiter aus der Einstiegluke, und als ich hochkletterte, sagte mein Dolmetscher lustig: „Also dann auf zur Bärenjagd!“ Mir kam sein Humor ein bißchen verdächtig vor. Es hatte geklungen wie: Na ja, was tut man nicht alles für seine Gäste.
In der Maschine war es sehr kalt, und wir hockten mit hochgeschlagenen Kragen auf Kisten mit uigurischen Schriftzeichen, die neben den grauen Postsäcken an der Außenwand standen. Ein Stück ab von uns saßen eine Frau und ein Mädchen mit ängstlichen Gesichtern. Als der Propeller zu rotieren begann und der Motor die kleine Maschine kräftig durchschüttelte, hielten sich die Frau und das Mädchen fest die Ohren zu. Sie wagten nicht aus den runden Fenstern zu blicken, auch nicht, als wir schon tausend Meter hoch waren und das Flugzeug etwas ruhiger flog.
Zunächst schwebten wir über ein Gebirge mit dunklen Schluchten und schmalen Felsspalten. Auf der einen Seite der Berge wuchs Wald dünn und mager, auf der anderen ragten Felsen zu uns herauf. Über den Gipfeln kreisten Raubvögel. Die Hauptstadt war schon nicht mehr zu sehen, und unter uns dehnte sich die gelbe Steppe. Auf ihr lag der schwarze Schatten unseres Flugzeuges und glitt tief neben uns her. Die Maschine blieb immer so tausend Meter hoch, und wir konnten alles gut sehen. Aber es war noch nichts weiter zu sehen: nur Gras, sanfte Hügel, ausgetrocknete Salztümpel, die wie weiße Teller auf der Steppe leuchteten. Als die AN-2 nach Nordosten einschwenkte, schien die Sonne uns ins Gesicht.

Umschlag und Illustrationen: Hans Räde

Verlag Neues Leben, Berlin
Reihe:
Das neue Abenteuer Nr. 298
1. Auflage 1970 

Helmut Meyer: Der Kurier

Heftanfang:
Fast zwei Kilometer lang war der Weg durch das Werftgelände, und tausend Gefahren barg er in der Nacht. Heute morgen noch hatte Kasper Bogunde überlegt: Soll er zu Paul Riemann gehen? Soll er Riemann sagen: Ich habe zuviel versprochen? Ich wage den Weg nicht in die fremde Kaserne? Aber an Elli hat er dann gedacht, an Ellis Brief. Sie hat längst begriffen, daß man handeln muß ... Auch er wird handeln. Er wird den Weg wagen, auch wenn er dafür vors Kriegsgericht kommt.
Kurz nach eins zeigte das Leuchtzifferblatt der Uhr.
Mit den acht Flugblättern, die gefaltet im Latz auf der Brust verborgen waren, sprang Kasper aus dem schmalen Fenster seiner Каserne. Die leichten Bordschuhe trug er, die Bänder der Mütze hatte er festgesteckt. Feine Regentropfen fielen. Der Mond lag grauschwarz und verschwommen. Wie verwaschene gelbe Kugeln standen am Wasser die Lichter der Werft.
Im Schatten lehnte er sich an die Front des Hauses, huschte dann bis zum Zaun, schlüpfte durch die Öffnung.
Seitwärts von ihm, an dem großen Kran, dessen riesige Kette rasselte, schwebte das Licht wie ein feuriges Auge. Sie arbeiteten drüben. Unruhig wandte sich das Auge hin und her. Der Schein drang dicht an den Zaun heran, an dem er geduckt und atemlos stand, dann schwenkte das Licht wieder langsam zurück.
Kasper lief los. Stets den Weg im Schatten suchend, verharrend, dann wieder in schnellem, leichtem Lauf, eilte er, geräuschlos, katzenhaft, weiter hinein in das Werftgelände, in dem sich kaum sichtbar Leben bewegte. Er jagte immer weiter, an Gebäuden, Schuppen und Kränen vorbei.
Alles ging gut. Er hatte das Loch vor der Rampe erreicht, in dem ihn der Kamerad erwarten sollte. Er sprang hinein. Das Loch war leer. Er hockte geduckt. Seine Sinne waren gespannt. Jede Bewegung, jeden Laut suchten sie zu erfassen.
Minuten vergingen. Wie endlos lang ist eine Minute. Drüben rasselte immer wieder die Kette. Tutend gab in der Ferne ein Dampfer Signale. Da! Kurz vor ihm ein schleichender Schritt. Ein Mensch stieg in die schwarze Grube. „Gerda!“ sagte der Fremde halblaut. „Gerda!“ flüsterte Kasper erleichtert zurück. Es war das vereinbarte Erkennungszeichen. Der andere hatte die Grube zuerst nicht finden können. Zehn Minuten der kostbaren Zeit waren verloren. Mit wenigen Schritten eilten sie zur Mauer.
Kasper kletterte auf die Schultern des Kameraden. Die Mauerkrone war feucht und glitschig, doch er zog sich hoch. Rittlings auf der Mauer hockend, hakte er sein ledernes Koppel los und half dem Kameraden mit dem Koppel herauf. Sie sprangen in der finsteren Hof. Nur der leichte Regen war zu hören.
Hell, groß, rechteckig und schneeweiß, leuchtete es plötzlich vor ihnen auf. Sie hörten Schritte, lautes Husten, Wasserlaufen.

Diese Erzählung ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Roman „Herz des Spartakus“
Umschlag und Illustrationen: Erhard Schreier

Verlag Neues Leben, Berlin
Reihe:
Das neue Abenteuer Nr.277
1. Auflage 1968

26 März 2025

Wladyslaw St. Reymond: Die Komödiantin

Klappentext:
Ein Mädchen von 20 Jahren, von der Natur mit allen Reizen ihrer Jugend ausgestattet, stolz und selbstbewußt. wie dazu geschaffen, Glück und Schönheit auf ihre Umgebung auszustrahlen – so schildert der Autor seine Heldin Janka Orlowska. Dem Nobelpreisträger W. St. Reymont (1868-1925) ist hier eine der anmutigsten und liebenswertesten Frauengestalten der polnischen Literatur gelungen. Ihr tragischer Untergang ist eine erschütternde Anklage gegen die gesellschaftlichen Zustände am Ende des 19. Jahrhunderts. Als das Mädchen von ihrem jähzornigen Vater gezwungen werden soll, einen reichen Bauern der Umgebung zu heiraten, lehnt sie sich gegen die Fesseln ihrer patriarchalischen Umgebung auf und reist nach Warschau, um dort an einem Wandertheater Schauspielerin zu werden. Aber statt des erträumten Reiches großer, leidenschaftlicher Gefühle und selbstloser Hingabe an die Kunst erlebt sie den ermüdenden Kulissenklatsch und die ewigen Intrigen unter den Schauspielern, den zermürbenden Kleinkrieg um die Erhaltung der nackten Existenz, die Betrügereien des Direktors und ein Publikum von sensationshungrigen Spießern, deren Launen sich die Theatertruppe willig unterwirft. Stück um Stück zerbrechen Jankas Illusionen. Von Hunger gepeinigt, zu stolz, ihre Karriere durch die Gunst eines der reichen „Mäzene“ zu erkaufen, die wie die Schmeißfliegen von ihrer Erscheinung angezogen werden. sucht sie selbst den Tod. Über diesem tragischen Geschehen liegt der Zauber einer Natur, deren immer wieder neu sich verwandelnde Schönheit der Dichter in einer wundervollen Sprache bannt.

Originaltitel: Komediantka
Aus dem Polnischen übertragen von Albert Klöckner
Illustrationen und Einband: Heinz Handschick

Verlag der Nation, Berlin
1. Auflage 1963
2. Auflage 1964
3. Auflage 1967
4. Auflage 1970
5. Auflage 1973

Michail Scholochow: Die Knechte

Heftanfang:
An m Fuße des steil abfallenden braunen Berges schlängelt sich ein Flüßchen hin. Zwischen den dichtgewachsenen Weiden zu beiden Seiten stehen die kleinen Häuser der Siedlung Danilowka, umgeben von alten, bemoosten Flechtzäunen und geduckt, wie um sich dem zudringlichen Blick der zu Fuß und zu Wagen Daherkommenden zu entziehen. Zu Danilowka gehören gut hundert Höfe. Die Höfe der wohlhabenden Bauern liegen behäbig und in großen Abständen an der breiten Straße am Fluß. Geht ein Fremder sie entlang, sieht er sogleich, hier wohnen tüchtige Landwirte. Die Häuser sind mit Blech- oder Ziegelschindeln gedeckt, mit Schnitzwerk ist das Gesims reich verziert, und die blaugestrichenen Fensterläden knarren so behaglich im Winde, als würden sie vom satten, gesicherten Leben der Hausherren erzählen. Aus Bohlen sind die Tore vor den Höfen gezimmert, und neu sind die Flechtzäune. Dahinter liegen Speicher, und wohlgenährte Hunde klirren mit den Ketten und knurren wütend, wenn ein Fremder vorübergeht.
Die andere Straße, dicht am Abhang, krumm und schmal, läuft zwischen breitkronigen Weiden dahin, es sieht aus, als fließe sie unter einem grünen Dach. Darüber hin treibt der Wind Staub und Lämmerwolken von Asche, die neben den Zäunen aufgeschüttet ist. Hier stehen keine Häuser, nur Katen. Nackte Not blickt aus jedem Fenster und aus den Höfen mit den dünnen, wackligen Staketenzäunen darum. Fünf Jahre zuvor hat ein Brand die Bauten der zweiten Straße weggeleckt. Für die verkohlten Holzhäuser haben die Bauern Lehmhütten hingesetzt. Sie haben sie schlecht und recht gebaut, doch seit dieser Zeit ist das Elend bei ihnen ein ständiger Gast, tiefer als tief hat es seine Wurzeln geschlagen.
Dem Brand war sämtliches landwirtschaftliches Gerät zum Opfer gefallen. Trotzdem hatten die Bauern im Jahr darauf das Land aufs neue bestellt. Doch eine Mißernte hatte alle ihre Hoffnungen zerstört, ihre Rücken gekrümmt und ihren Glauben daran erschüttert, wieder zu Kräften zu kommen und der Not zu entrinnen. Da zogen die Brandgeschädigten los, ins Elend der Fremde. Bettelnd streiften sie durchs Land zum Kuban hinunter auf der Suche nach leichterem Brot, doch die Heimaterde rief sie unwiderstehlich zurück. Sie kehrten heim nach Danilowka und klopften, die Mütze in der Hand, an die Tür der wohlhabenden Bauern: „Nimm mich zum Knecht, Herr. Für ein Stück Brot laß mich dir dienen.“

Kurz nach Tagesanbruch kam der Knecht des Popen Alexander zu Naum Boizow. Naum spannte gerade das vom Nachbarn entiiehene Pferd vor den Wagen und hatte die Schritte des Hinzutretenden nicht gehört. In seine Gedanken vertieft, fuhr er zusammen, als er plötzlich laut gegrüßt wurde: „Guten Morgen, Väterchen Naum!“
Naum sah sich um, zog den Kummetriemen an und tippte mit der freien Hand an die Mütze: „Guten Morgen! Was ist dein Begehr?“

Titel des russischen Originals: Батраки
Ins Deutsche übertragen von Lieselotte Remané
Umschlag und Illustrationen: Karl Fischer

Verlag Neues Leben, Berlin
Reihe:
Das neue Abenteuer Nr.276
1. Auflage 1968

Alfred Könner: Fertig macht sich Nikolaus

Buchanfang:
Fertig macht sich Nikolaus, um die Kinder zu besuchen, hat in seinem langen Bart schon den Duft von Pfefferkuchen.
Paul und Hanne putzen eifrig, und sie wienern, und sie schwitzen, spucken kräftig auf das Leder, daß die Schuhe prächtig blitzen.
Stellen sie dann vor die Tür:
Der von Paul ist ziemlich klein, der von Hannchen dafür groß. Da soll allerhand hinein.
Hanne aber kann nicht schlafen, wälzt im Bett sich hin und her. Was nun, wenn der Schuh zu winzig, wenn der Sack nicht würde leer?

Bilder von Ralf-Jürgen Lehmann 

Altberliner Verlag Lucie Groszer, Berlin
1. Auflage 1967 [1. - 15. Tsd.]
2. Auflage 1968 [16. - 30. Tsd.]

25 März 2025

Igor W. Moshejko: 7 und 37 Wunder der Welt

Buchanfang:
EINFÜHRUNG
Als Weltwunder galten in der Antike sieben Bau- und Kunstwerke: die ägyptischen Pyramiden, das Mausoleum von Halikarnassos, der Koloß von Rhodos, der Leuchtturm bei Alexandria, der Artemistempel von Ephesos, die Zeusstatue in Olympia und die Hängenden Gärten Babylons.
Ihre Auswahl war durch die magische Zahl Sieben begrenzt, sie hing auch mit den Schranken des menschlichen Gedächtnisses und mit der Enge der antiken Welt, vor allem aber mit der Beharrlichkeit der Tradition zusammen. Nachdem irgendein Mächtiger oder Weiser die Liste der Wunder etwa im 3. Jahrhundert v. u. Z. festgelegt hatte, wurde sie von den Bewohnern der Mittelmeerregion so akzeptiert und beibehalten, und nur einige Lokalpatrioten versuchten zuzeiten, Korrekturen anzubringen, ohne jedoch das Prinzip selbst in Frage zu stellen. So betrachtete zum Beispiel der römische Schriftsteller Martialis das Kolosseum als ein Weltwunder, andere rechneten die Alexandrinische Bibliothek, noch andere den Pergamonaltar zu den Wundern.
Als tausend Jahre nach dem Untergang des Römischen Reiches vorüber waren und die Menschen begannen, sich für Ereignisse und Dinge außerhalb ihrer eigenen kleinen Welt zu interessieren, erinnerte man sich auch jener sieben Weltwunder. Der Respekt vor der Antike war so groß, daß die sieben Bau- und Kunstdenkmale nunmehr als ein unteilbares Ganzes aufgefaßt wurden, obwohl einige der Weltwunder längst vom Erdboden verschwunden und nur noch aus alten Schriften oder durch mündliche Überlieferung bekannt waren. Seither sprach man gelegentlich von einem »achten Weltwunder«. Als achtes Wunder wurden Palmyra, Petersburg, Venedig und sogar der Eiffelturm bezeichnet. Niemals war die Rede von einem neunten Weltwunder, ein neuntes Wunder konnte es nicht geben. Die Anzahl der Weltwunder wurde stets nur um eines erhöht und damit die Einzigartigkeit eines Bau- oder Kunstwerkes ausgedrückt, das später als jene kanonisierten sieben entstanden war.
Die Griechen unternahmen zwar bemerkenswerte Reisen, doch über das Mittelmeer kamen sie selten hinaus, wußten deshalb nicht viel über Zentralindien, Südostasien, noch weniger über China, hatten wohl kaum eine Vorstellung von dem Teil Afrikas, der südlich der Sahara lag. Bau- und Kunstwerke, die außerhalb ihrer engen Welt entstanden und zur Zeit der großen griechischen Seefahrten vielleicht bereits vernichtet oder vergessen waren, und solche, die erst nach der strengen und doch subjektiven Auswahl der sieben Weltwunder bekannt wurden, blieben unberücksichtigt. So kam eine historische Ungerechtigkeit zustande, derer man sich offenbar stets bewußt war. Das drückt sich in den späteren Versuchen aus, manche Wunder durch andere zu ersetzen oder ein achtes Wunder hinzuzufügen. Jede historische Ungerechtigkeit kann wiedergutgemacht werden, sofern sie nicht bereits große materielle Verluste zur Folge hatte; sie kann zumal dann korrigiert werden, wenn sie nur auf einer Vereinbarung beruht. Ohne die Auswahl der Alten antasten zu wollen, gehe ich im vorliegenden Buch von jenen bekannten sieben Weltwundern aus, versuche dann jedoch, das Wunderensemble der Antike zu erweitern und eine Reihe von Wundern zu beschreiben, mit denen die alten Griechen nicht in Berührung gekommen waren.
In den letzten fünf Jahrtausenden sind von den Menschen viele außergewöhnliche Kunstwerke geschaffen und viele großartige Bauwerke errichtet worden. Welche von ihnen soll man als »Wunder« betrachten? Offenbar solche, die aufgrund ihrer Idee oder Ausführung im Rahmen der Kulturgeschichte des betreffenden Volkes etwas außerordentlich Bedeutendes, vielleicht Einmaliges, Unwiederholbares darstellen und zugleich die Geschichte und Kultur der gesamten Menschheit bereicherten.
Doch selbst derart hoch angesetzte Kriterien gestatten nicht die vollständige Erfassung all der großartigen Kulturdenkmale, die die Menschheit hervorbrachte. Es sind ihrer so viele, daß man sie nicht in einem oder in zwei Büchern, ja nicht einmal in zehn Bänden beschreiben könnte.
Im Jahre 1969 erschien im Verlag Nauka mein Buch »Weitere 27 Weltwunder«, das die Beschreibung von 27 Kunst- und Bauwerken Asiens enthält. In Asien bildeten sich die ältesten und verschiedenartigsten Kulturen heraus, die später die Entwicklung der Weltkultur stark beeinflußt haben. Die Wunder der ganzen Welt sind ein nahezu unerschöpfliches Thema, während die Wunder Asiens (deren es freilich mehr als 27 gibt) doch überschaut und in einem Buchband in knapper Form beschrieben werden können. Viele geschichtliche Faktoren trugen dazu bei, daß uns die asiatische Kultur weniger bekannt ist als beispielsweise die Kultur der Antike. Andererseits stellen wir ein ständig wachsendes Interesse am Osten fest, da die Rolle der östlichen Länder heute weit größer ist als noch vor hundert Jahren. Zudem hatte der Verfasser selbst Gelegenheit, viele Länder und Regionen des Ostens kennenzulernen und eine Reihe der beschriebenen Denkmale zu besichtigen.
In vielen Fällen habe ich mich der traditionellen Wertschätzung von Denkmalen angeschlossen. So wurden in das genannte Buch zum Beispiel Beschreibungen von Tadsch Mahal, Borobudur und Angkor aufgenommen. Daneben sind jedoch auch Kulturdenkmale berücksichtigt, die manchen Lesern weniger bekannt sein dürften, obwohl sie unbestritten zu den bedeutendsten der Welt gehören, wie Pagan, Baalbek, Konaraka und andere. Bisweilen mußte zwischen zwei oder mehreren einander sehr ähnlichen Denkmalen gewählt werden. In solchen Fällen entschied ich mich mit Hinblick auf seine Entstehung und spätere Geschichte für das meiner Ansicht nach interessantere Bau- oder Kunstwerk. Doch wer wollte darüber streiten, ob die Schönheitskrone den Fresken von Sigirija oder den Wandgemälden von Adschanta gebührt, ob der Tempel von Kantschipuram oder der von Konaraka, der Todai-ji-Tempel von Nara oder die Buddhastatue von Kamakura das jeweils großartigere Kunstwerk ist. Sie alle stellen unschätzbare Kulturwerte dar. Dennoch mußten einige Denkmale unberücksichtigt bleiben; denn das Buch sollte kein Nachschlagewerk sein, sondern anregende Lektüre bieten. Sicherlich stimmten nicht alle Leser der zum Teil subjektiven Auswahl zu. Damit mußte sich der Autor abfinden.

Inhalt:
EINFÜHRUNG
I. DIE ERSTEN SIEBEN WUNDER
Das erste Weltwunder. Die Pyramiden Ägyptens .. .. .. 14
Das zweite Weltwunder. Die Gärten von Babylon .. .. .. 18
Das dritte Weltwunder. Der Artemistempel von Ephesos .. .. .. 23
Das vierte Weltwunder. Das Mausoleum von Halikarnassos .. .. .. 30
Das fünfte Weltwunder. Der Koloß von Rhodos .. .. .. 35
Das sechste Weltwunder. Der Leuchtturm von Alexandria .. .. .. 38
Das siebente Weltwunder. Die Zeusstatue von Olympia .. .. .. 41
II. DER NAHE OSTEN UND MITTELASIEN
Die babylonische Zikkurat. Gab es den Turm zu Babel? .. .. .. 47
Die Inschrift von Behistun. Ein König sorgte vor .. .. .. 55
Persepolis. Ein Säulenwald .. .. .. 63
Baalbek. Die phantastischen Steinplatten .. .. .. 70
Palmyra. Die Erhebung einer Oase .. .. .. 80
Nemrud-Dagh. Vier Götter und Antiochos .. .. .. 89
Petra. Hat Mose die rosarote Felsenstadt erbaut? .. .. .. 99
Hadramaut. Städte mit Wolkenkratzern .. .. .. 107
Das Göremetal. Die Höhlen von Kappadokien .. .. .. 115
Schah-i-Sindeh. »Wahrlich, unsere Werke weisen auf uns« .. .. .. 121
Die Sternwarte Ulug Begs. Von Henkern und Gelehrten .. .. .. 128
Chiwa. Straßen und Türme eines Museums .. .. .. 140
III. AFRIKA
Die Felsbilder von Tassili. Ein Sieg der Wüste .. .. .. 150
Karnak. Die tausendjährige Zwiebel .. .. .. 159
Abu Simbel. Ein zweifaches Wunder .. .. .. 168
Timgad. Eine römische Musterstadt .. .. .. 178
Meroë. Die Schlacke der Schmelzöfen .. .. .. 184
Aksum. Türme der Toten .. .. .. 192
Lalibela und Kailasanatha. Getrennte Zwillinge .. .. .. 199
Simbabwe. König Salomos Bergwerke? .. .. .. 208
Ife und Benin. Bronze und Terrakotta .. .. .. 216
IV. INDIEN UND SRI LANKA
Die Tschandraguptasäule. Wiederum Außerirdische? .. .. .. 227
Der Tempel von Konaraka. Die Schwarze Pagode .. .. .. 234
Fatehpur-Sikri. Die Stadt des Außenseiters .. .. .. 244
Tadsch Mahal. Das weiße Wunder .. .. .. 252
Anuradhapura. Sonnenaufgang auf dem Gipfel des heiligen Berges .. .. .. 261
Sigirija. Galerie der einundzwanzig Schönen .. .. .. 270
Pagan. Fünftausend Tempel .. .. .. 278
V. SÜDOSTASIEN UND FERNER OSTEN
Schwe-Dagon. Die goldene Pagode .. .. .. 286
Die Mingunpagode. Eine Prophezeiung und ihre Folgen .. .. .. 294
Vorhaben .. .. .. 300
Der Königspalast von Mandalay. König Mindons letztes Angkor. Hier lebten Giganten .. .. .. 310
Borobudur. Für Gottes Augen .. .. .. 321
Dunhuang. Die Höhlen der tausend Buddhas .. .. .. 329
Die Chinesische Mauer. Das größte Wunder .. .. .. 340
Todai-ji. Holz, Bronze und Steine .. .. .. 347

Originalausgabe: Игорь Можейко: 7 и 37 чудес, издательство «Наука», Москва 1983
Aus dem Russischen von Emilia Crome
Einband und Illustrationen: Werner Ruhner

Gemeinschaftsausgabe
Verlag MIR, Moskau
Urania-Verlag, Leipzig, Jena, Berlin

1. Auflage 1988