09 Juni 2020

Denis Diderot: Die Nonne



Diderot, der liebenswürdige, geistvolle und Geist entfachende Gesprächspartner in den Pariser literarischen Salons des 18. Jahrhunderts, Diderot, der Philosoph, der Romancier, der Stückeschreiber und Wegbereiter des bürgerlichen Dramas, Diderot schließlich, der in seinen Studien über Maler und über die Malerei Maßstäbe für eine neue, realistische Ästhetik setzte, er ist unter allen französischen Aufklärern zweifellos derjenige, der nicht nur die Zeitgenossen durch das Feuer seiner Gedanken beeindruckte, sondern dessen Faszination bis in unser Jahrhundert strahlt - vielleicht weil dieser Bohemien und Schwerstarbeiter der Literatur ein so „großer, ungenierter Genießer des Lebens (war) und zugleich ein Moralist, den das Elend der Welt spontan in Wallung brachte" (Robert Minder).

Und so kam es wohl auch, daß in der Folge eines ursprünglich als Salonscherz gedachten Briefwechsels zwischen einer authentischen und einer fiktiven Person - wie man im „Nachgestellten Vorwort zur ‚Nonne'" nachlesen kann - der Autor sich von der Wirklichkeit überwältigen ließ und ein Meisterwerk schuf, das in seiner sozialen Sprengkraft einmalig dasteht im literarischen Umfeld des 18. Jahrhunderts. 1760 entstanden, war „Die Nonne" in handgeschriebenen Kopien lange Zeit nur den Abonnenten von Melchior Grimms „Literarischer Korrespondenz" aus Paris, das heißt einem Dutzend aufgeklärter europäischer Fürstenhöfe zugänglich, bevor sie in Frankreich, durch die Revolution aus dem Schweigen befreit, 1796 gedruckt erscheinen konnte. Der Roman hat seit der Zeit, da Goethe und Herder ihn gelesen, nichts von seiner Dramatik, nichts von seiner Schönheit, ja seiner Modernität verloren. Noch ebenso wie vor zweihundert Jahren erschüttert heute dieser Bericht eines neunzehnjährigen Mädchens, das, um den Fehltritt der Mutter zu sühnen, ins Kloster gesperrt wird; weil es sich dort nicht brechen läßt, furchtbare Leiden erdulden muß und aus dem Innern der Klostermauern den schier aussichtslosen Kampf um sein Leben führt.
Zu einer Zeit geschrieben, als das breite Leserpublikum in Frankreich chevalereske Romane und sentimentale Liebesgeschichten auf orientalischen Schauplätzen goutierte, als eine realistische Erzählkunst erst auf dem Wege ihrer Bewußtwerdung war, verweist Diderots Nonne bereits auf die großen Romangestalten des kommenden Jahrhunderts: vor allem in der tiefen Menschlichkeit ihrer Lebenssehnsucht.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1981
bb-Reihe Nr. 470
DDR 1,85 M

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