17 September 2020

Ludwig Tieck: Die Gesellschaft auf dem Lande


 Ludwig Tiecks Novellen, der literarische Ertrag jener Dresdener Jahre, in denen der alternde Dichter zur Berühmtheit wurde, sind farbige Gesellschaftsbilder aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.
Ihre "unerhörten" Begebenheiten tragen sich inmitten eines wohlgeordneten Alltagslebens zu, das märkische Barone, gutsituierte Mittelstandsbürger, Beamte und Handwerker, deren Söhne und Töchter scheinbar immer noch führen. Diese sichtbare Welt aber trügt: ihre Wunderlichkeiten werden uns mit leiser Ironie und einem Hauch gravitätischer Distanz offenbart. Das Unerwartete ereignet sich: Die adlige "Gesellschaft auf dem Lande" pflegt zwar kultivierte Konversation über Pflichtgefühl, Staats- und Rechtsangelegenheiten, Religion und Kunst, doch ihre althergebrachten Traditionen werden zum alten Zopf, dem man einen von ihnen unversehens auch wirklich abschneidet.
Während langer "Abendgespräche" am Kaminfeuer erzählt der wiedergekehrte Sohn des Hauses von vergeblichen Reisen auf der Suche nach der Geliebten. Unerklärt bleiben "im tiefsten Winkel unserer Phantasie" geheimnisvolle Begegnungen mit einem gespenstischen grauen Männchen, das alles zum Guten wendet.
Mondbeglänzte Zaubernächte und die blaue Blume sind verschwunden. Die "Waldeinsamkeit", einst herbeigesehnte Idylle, wird für Ferdinand von Linden zum Ort erzwungener Einsamkeit.
Nur das "Alte Buch" erzählt noch einmal von der "Reise ins Blaue hinein". In der verzauberten Natur begegnet Athelstan der Fee Gloriana und den Großen der Literatur. Dort spricht er einen Wunsch aus, der wohl nicht nur als Bekenntnis des Dichters, sondern auch als Aufforderung an uns gelten mag, nämlich "das Innere der Welt, den Zusammenhang aller Begebenheiten zu verstehen und zu fühlen, selbst das im Herzen zu erleben, was den Menschen nur als Historie oder Fabel vorübergeht, das Wunderbare wie ein Natürliches zu fassen und im Gewöhnlichen ... das Wunder zu sehn".

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1983
bb-Reihe Nr. 516
Ausgewählt von Viktor Liebrenz

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