11 Oktober 2020

Lenka Reinerová: Der Ausflug zum Schwanensee


 "An einem strahlenden Sonntag saß ich einmal am Genfer See und schaute zu, wie Dutzende Segelschiffe gemeinsam in die durchsonnte Helle über dem Wasser ausliefen... Alles duftete und funkelte, nicht nur die Menschen, auch die Natur schien an jenem Tag ein fröhliches Fest zu feiern.

Da erblickte ich den schwarzen Schwan. Er zog einsam über das Wasser, bald hierhin, bald dorthin, ein dunkler Punkt in all dem farbenfreudigen Jubilieren.

Ich schloß die Augen und suchte fieberhaft in meinem Gedächtnis. Wann und wo war ich schwarzen Schwänen begegnet?"

Die Erinnerung stellt sich ein wie ein durchdringender Schmerz. Im Wechsel von lyrischer Reflexion und unvermittelter Kargheit berichtet Lenke Reinerová von jenem Ausflug zu dem damaligen Frauenkonzentrationslager am Schwanensee, von ihrer Suche nach dem Bild der kleinen Schwester und der Begegnung mit dem "schwarzen Engel des Todes" von Ravensbrück. Und immer wieder sind es die Gefährtinnen im antifaschistischen Widerstand, die sich in ihr Erinnern drängen und die sie unpathetisch, in mitunter mädchenhafter Frische Gestalt annehmen läßt. In ihrer Gemeinschaft hat sie die eigene Stärke erfahren; die Besinnung darauf macht diese autobiographischen Aufzeichnungen von Lenka Reinerová zu einem bewegenden Zeugnis von Menschlichkeit.

Zitat
Der Frühvogel
Seine Stimme, so zart und leise sie auch sein mag, ist unverkennbar. Es ist die erste, die allererste Stimme, die tröstlich unseren Schlaf durchdringt: Wach auf, Menschenkind, die Nacht ist bald vorbei, der neue Tag streicht schon mit unsicheren Lichtfingern durch das Gestrüpp der Dunkelheit. Schlaftrunken kommt von irgendwo die Vogelstimme. Vorerst nichts als ein weicher Laut. Und doch verblassen von diesem Augenblick an die Fratzen böser Träume, zerfließen sacht im Nichts. Und von neuem, schon etwas kräftiger, erhebt sich die unbekümmerte Vogelstimme.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1983
Edition Neue Texte

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