06 Januar 2021

Bernhard Kellermann: Der Tor


 In einem kleinen fränkischen Städtchen spielt Bernhard Kellermanns 1909 erschienener dritter Roman. Der namenlose Ort wird dem neuen Vikar Richard Grau bereits im Zuge treffend vorgestellt: „Es ist eine recht elende Stadt, von bürgerlichem Volke bewohnt. Ohne Würde, ohne schöne Gebärde, ohne Ziel und Wunsch, mit verächtlichen Maßstäben…“ Richard Grau lernt die Bewohner und ihre Maßstäbe gleich bei seiner ersten Amtshandlung kennen. Ein Dienstmädchen hat nach der Geburt ihres unehelichen Kindes Selbstmord begangen, die Mutter kämpft um eine „ehrliche“ Beerdigung. Am Grabe der Toten hält der Vikar eine beschwörende Rede, in der er gegen die herrschenden Vorurteile auftritt. Er läßt sogar die Glocken läuten und sammelt bei den Bürgern für die alte Frau und das Kind.

Die Stadt ist entsetzt! Was für ein Tor ist dieser Richard Grau: er verschenkt nicht nur seine eigene Habe, sondern auch Eigentum der Kirche, beherbergt Landstreicher und verlobt sich mit der schwerkranken, verkrüppelten Tochter des ausgewiesenen Lehrers Lenz. Auf dem Ball des „Liederkranzes“ widerspricht er den Honoratioren der Stadt; seine schwärmerischen, von leidenschaftlicher Menschenliebe durchdrungenen Gedanken sind ihnen tief verdächtig.

Ähnlich wie später in „Die Stadt Anatol“ oder „Totentanz“ wird eine Welt im Kleinen aufgebaut, die von Handwerkern und Bauern, kleinen Beamten und Kaufleuten bis zum Steinbruchbesitzer Eisenhut und zur Adelsfamilie von Henneberg reicht. Richard Grau trifft in dieser kleinen fränkischen Stadt eine Fülle von Menschen, Arme und Reiche, Leidenschaftliche und Gleichgültige, erlebt Liebe und Haß, Triumph und Enttäuschung. Zweifellos ist der Held ein Sprachrohr des Autors, bezeugt dessen humanistische Haltung und trägt seine Kritik an der Gesellschaft jener Zeit vor – wenn auch noch nicht so klar wie in Kellermanns späteren Büchern. Einen Ausweg wissen weder Autor noch Held, wie der Schluß des Romans bezeugt: Der Tor scheitert und stirbt, weil er in jener Welt keinen Platz finden konnte.

Verlag Volk und Welt Berlin, 2. Auflage 1976
Schutzumschlag: Klaus Wittkugel
EVP 9,20

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