14 Januar 2021

Colette Basile: So ist das Leben

 Am Tag steht sie am Fließband und drückt Kirschen in heiße Schokolade - zweitausendmal in der Stunde derselbe Handgriff. Unerträglich langsam vergeht die Zeit, und dann dieses Geschwätz der anderen, mein Gott, können sie denn nicht das Maul halten, aber was will ich schon, ich rede ja genauso, und auch immer wieder dasselbe. In ihren freien Stunden geht sie schwabbelnd durch ihre kleine Wohnung, das Bett in Eile glättend, hie und da liebevoll einen Gegenstand zurechtrückend, und sinnt über ihr Leben nach, das sie nicht hat leben können, trotz all ihrer Kraft und Bereitschaft zum Glücklichwerden, die rotblonde, kraushaarige Berthe, nach der einst auf dem dörflichen Tanzboden die jungen Kerls sich umdrehten. War sie glücklicher damals, als sie jung war, aber am Montag oft mit noch waschfeuchter Bluse zur Arbeit ging, weil sie nur die eine hatte? ... Es ist kein ungewöhnliches Schicksal und wird doch eigenwillig erzählt: ein naiv gemalter großer Monolog. "Wer wird wohl eines Tages die ,Geschichte einer Backwarenarbeiterin' schreiben", bemerkt sie einmal; schon der Gedanke mag ihr kurios erschienen sein. Am Ende aber hat sie sie selbst geschrieben - und dabei ein Stück uns wenig bekannter französischer Lebenswirklichkeit erhellt.

Beginn
Halb sechs klingelte der Wecker, sie hätte ihn am liebsten gepackt und durchs Fenster gefeuert, wenn sie das fertiggebracht hätte, statt dessen sagte sie sich ... ich kann noch eine halbe Stunde im Bett bleiben ... nach einem Monat Urlaub fällt's schwer, wieder arbeiten zu gehen. Dennoch, ein- oder zweimal war ihr im Urlaub, sie wußte nicht wieso und wie sie sich das erklären sollte, der Gedanke gekommen, ich möchte gerne in der Fabrik sein. Dabei ist es kein Vergnügen, sondern geradezuz stumpfsinnig, immer denselben Handgriff zu machen, zweitausendmal in der Stunde, sich immer dieselben Gespräche mit anzuhören, sie schwätzte genauso wie die anderen, und was sie sagte, war nicht viel anders als das Gerede ihrer Kolleginnen. Nun ja, jetzt mußte sie wieder hin; sie stand auf, trödelte ein bißchen, sah durchs Fenster; es war neblig. Dann ging sie in die Küche, sah wieder durchs Fenster, doch draußen hatte sich nichts verändert, nur der Nebel begann sich zu verziehen. Mechanisch machte sie das Radio an, ihre Bewegungen waren schleppend, es gelang ihr nicht, sich ein bißchen zu beeilen. Gleich am ersten Tag zu spät zu kommen ging nicht...

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1977
Aus dem Französischen übersetzt von Anna Mudry
Mit einer Nachbemerkung von Waltraud Schwarze

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