13 Januar 2021

Elisabeth Reichart: Februarschatten


 "So stimmt es ... Daß alles erlebte, Erfahrene, einfach alles, in unserem Gehirn gespeichert wird. Kein Löschband stünde uns zur Verfügung. Außer zeitbegrenztes Vergessen."
Hilde, eine Frau um die Fünfzig, hatte vergessen können, was in einer Februarnacht des Jahres 45 geschah. Nachdem ihr Mann gestorben ist, bedrängen aber die Schatten jener Nacht sie wieder, in der die Einwohner ihres Dorfes Kriegsgefangene gejagt, mit Mistgabeln erstochen haben. Jetzt fühlt sie sich allein, den Schatten hilflos ausgeliefert, obwohl da noch die Tochter Erika ist. Doch Erikas Fragen galten immer nur dem Vater.
Die Österreicherin Elisabeth Reichart erzählt, wie diese zwei Frauen, Mutter und Tochter, einander verstehen wollen, wie sie tastend aufeinander zugehen und sich dennoch fremd bleiben. Dichte und Intensität ihrer Sprache erzeugen Betroffenheit. Die Schicksale, die vor uns entstehen, sind Teil einer Geschichte, die noch nicht zu den Akten gehört.

Buchbeginn
Nachts hatte das Telefon geläutet.
Die Tochter, die in diesen Tagen bei ihr war, stand auf. Hilde ging in das Stiegenhaus. Schickte die Tochter in ihr Zimmer zurück.
Dieses Wort hören - das ist wohl meine Pflicht. 
Hilde sah sich zu. Wie sie die Stiegen hinunter ging. Die rechte Hand auf den Apparat legte. Weiße Haut. Tiefe Falten. Tiefer als sonst. Wie sich diese Hand um den Hörer krallte. Den Hörer von der Gabel nahm. Den Hörer näher brachte...

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1. Auflage 1985
Mit einem Nachsatz von Christa Wolf
Edition Neue Texte

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