01 März 2021

Hans Remmler: Die Herrin vom Sonnenberg

 «Der Moorteufel . Viele Geheimnisse kennt der Wald, und wenn die alten Bäume reden könnten, würden sie so manche abenteuerliche Geschichte erzählen. Aber nur die dichten Zweige rauschen im Wind, hier und da reiben sich Äste und Stämme knarrend aneinander. Dort, wo der Wald am dunkelsten ist, dichtes Unterholz den Einblick verwehrt und der Boden feucht und sumpfig ist, hält sich gern tagsüber das Wild auf. An einer schwer zugänglichen Stelle lag in der Dickung ein großer, beinah schwarzer Körper, ein Hirsch. Der Moorteufel! Das Brausen des Herbstwindes, der die Fichten zaust und dürres Laub von den Büschen reißt, störte ihn nicht. Ruhig lag der Hirsch im geschlagenen Bett und seine fast schwarze Decke unterschied sich kaum von der Farbe des Erdbodens. Auffällig aber waren die langen, spitzen Geweihstangen, die ohne Endenschmuck aufragten. Nur dicht über den Lauschern schob sich an jeder Stange ein kleines gebogenes Ende nach vorn. Gefährlich leuchtete das Weiße in den Lichtern auf, wenn er das Haupt unwillig schüttelte, und wie fernes Grollen klang sein Knören. Irgendwo in der Nähe brach ein Zweig. Kaum hörbar, aber die Lauscher des Hirsches hatten es vernommen. Schnell war er auf den Läufen und sicherte misstrauisch ins Dickicht. Schlank erschien das Tier gegenüber den anderen im Revier. Doch in dicken Bündeln traten an den oberen Läufen die Muskeln hervor, und hätte er anstelle der beiden langen Spieße ein ordentliches Geweih getragen, wäre er weit und breit der Stärkste gewesen. Noch immer sicherte er, stand wie ein Schatten zwischen den dunklen Stämmen und äugte unentwegt in Richtung des knackenden Geräusches, bis er den Störenfried erspähte. Langsam näherte sich ein kapitaler Bock. Behutsam, Lauf vor Lauf setzend, schob er sich zwischen den dürren Zweigen der Jungfichten hindurch. Hoch ragten seine dicken Stangen über die Lauscher und unruhig stand sein Windfang in der trockenen, schweren Luft, als ahne er Gefahr. Er wurde unruhig und setzte die Läufe schneller auf das Nadelpolster, um das unheimliche Waldstück hinter sich zu bringen. Da gewahrte er plötzlich den Hirsch im Halbdunkel des Waldes. Schreckend flüchtete er durch die Dickung. Das Brechen dürrer Zweige begleitete weithin seinen Fluchtweg. Ein trockenes, dumpfes Knören schickte der Hirsch ihm nach, lauschte noch einen Augenblick, dann schob er sich ebenfalls durch das Gewirr der Zweige den Berg empor, dem kleinen brackigen Tümpel auf der Höhe entgegen. Es dauerte lange, bis er die trübe Wasserlache erreicht hatte, denn er war vorsichtig. Er äste lieber von den harzigen Fichtentrieben, wenn der Hunger ihn zu heftig quälte, als dass er sich mit Gräsern und Kräutern draußen den Pansen vollschlug, bevor es tiefe Nacht geworden war. Nur die Suhle suchte er auf. Da vergaß er, dass die Sonne am Himmel stand und wälzte sich wohlig im Schlamm, bis der Morast die Decke verklebt hatte und ihn die kleinen Plagegeister, Bremsen und Fliegen, eine Weile in Ruhe ließen. Als aber nicht weit entfernt ein vertrockneter Fichtenzapfen durch die Äste prasselnd und polternd auf den Boden schlug, fuhr er auf, schüttelte sich, dass der Schlamm weithin spritzte, und verschwand lautlos wie ein Gespenst im Holz. Mit gefärbten Dolchen trollte der Moorteufel ein paar Tage später durch den Forst, rot waren sie vom Schweiß seines Opfers, das ihn angegriffen hatte und nun mit gebrochenen Lichtern und geforkeltem Körper in der Schonung lag. Ein grauer, zottiger Hund war es gewesen, der seit Wochen durch den Forst strolchte und das Wild in Angst und Schrecken versetzte, jede warme Fährte annahm und sein Opfer erbarmungslos hetzte, bis es müde wurde und er ihm die Kehle aufreißen konnte. Dem Wilderer war es gleich, ob Hase, Kitz, Ricke oder Kalb bis … Ja, bis er auf die Fährte des starken Hirsches stieß und ihr hemmungslos folgte.

Gebrüder-Knabe-Verlag, Weimar, 1955
Illustrationen von Engelbert Schoner.

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