20 Mai 2021

Frank Wedekind: Greife wacker nach der Sünde

Frank Wedekinds „Sünden“ gegen die herrschende „Wohlanständigkeit“, gegen Geist und Sitte seiner Zeit waren mannigfaltig. Sie erregten und schockierten, sie provozierten erbitterte Urteile wie dieses: „In der deutschen Literatur von heute gibt es nichts, was so gemein ist wie die Kunst Frank Wedekinds.“ Provozierend an dieser Kunst war bereits die Thematik: In einer Mischung von Sachlichkeit und scheinbarer Banalität, von Spaßigkeit und Grauen wurden hier die sexuellen Beziehungen von Dienstmädchen und anderen „Individuen“ beschrieben, wurde die Liebe zu Dirnen und Künstlerinnen verherrlicht, der freie volle Sinnengenuß gepriesen und frivol der brave bürgerliche Alltag und das blutlose Kulturleben verhöhnt. Neu und provozierend waren auch die Formen dieser Lyrik: Im Ton des Volkslieds und der Bänkelballade mit grotesker Detailfülle und schauerlichem Pathos, im locker-frechen Chanson wie im derben Knittelvers gab sie alle „hohen Werte“ dem Gelächter preis. Ebensosehr fesselte und faszinierte der Vortrag dieser Gedichte, die der Autor selbst, die bebänderte Laute in den Händen, Abend für Abend mit legendär gewordener Eindringlichkeit einem begeisterten oder entsetzten Publikum zu Gehör brachte. Als es Wedekind dann wagte, auf die aus sehr durchsichtigen Motiven unternommene Reise des deutschen Kaisers ins „Heilige Land“ ein Spottgedicht zu schreiben, wurde dies ein willkommener Anlaß für die preußische Justiz, ihm den Prozeß zu machen. Mit acht Monaten Gefängnis und Festungshaft büßte der „Majestätsbeleidiger“, der im engeren Sinne gar kein politischer Dichter war, seine politischen Sünden. Der „überzeugte Sinnesapostel“, wie ihn Heinrich Mann apostrophierte, hatte mit seiner Moralkritik, seiner Verherrlichung des Lebensgenusses als Ideal und Befreiungsziel „einer hinlänglich morschen Gesellschaft den Umsturz ihrer Grundlagen empfohlen“.

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1978
bb, Band 284

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wichtiger Hinweis

Seit dem 25. Mai 2018 gilt auch in Deutschland die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Mit der Abgabe eines Kommentars erklärt Ihr euch einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.

Beim Absenden eines Kommentars für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärt ihr euch ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.